Bevor ich jetzt gehe (eBook)

Spiegel-Bestseller
Was am Ende wirklich zählt - Das Vermächtnis eines jungen Arztes

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016
208 Seiten
Knaus (Verlag)
978-3-641-18936-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bevor ich jetzt gehe - Paul Kalanithi
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'Dieses gehört zu der Handvoll Bücher, die für mich universell sind. Ich empfehle es wirklich jedem.' ANN PATCHETT
Was macht das eigene Leben lebenswert? Was tun, wenn die Lebensleiter keine weiteren Stufen in eine vielversprechende Zukunft bereithält? Was bedeutet es, ein Kind zu bekommen, neues Leben entstehen zu sehen, während das eigene zu Ende geht? Bewegend und mit feiner Beobachtungsgabe schildert der junge Arzt und Neurochirurg Paul Kalanithi seine Gedanken über die ganz großen Fragen.

Paul Kalanithi war Neurochirurg und Autor. In Stanford studierte er Englische Literatur und Biologie, in Cambridge Wissenschaftsgeschichte und Philosophie bevor er anschließend die Yale School of Medicine absolvierte. Zurück in Stanford machte er seine Facharztausbildung und forschte im Rahmen eines Postdoc-Stipendiums, wo er mit dem höchsten Nachwuchsforscherpreis der American Academy of Neurological Surgery ausgezeichnet wurde. Er starb im März 2015 mit nur 37 Jahren, während der Arbeit an seinem Buch. Er hinterlässt seine Familie, seine Frau Lucy und ihre Tochter Elizabeth Acadia.

PROLOG

Webster war ganz erfüllt vom Tod
Und sah den Schädel unterm Haar;
Brustlose Wesen in der Grube
Boten ihr lippenloses Grinsen dar.

T. S. Eliot, Unsterblichkeits-Wehen

Ich klickte durch die CT-Scans, die Diagnose war eindeutig: Die Lunge war von unzähligen mattschwarzen Tumoren durchzogen, die Wirbelsäule deformiert, ein Leberlappen wie ausradiert. Krebs, der weit gestreut hatte.

Ich war Assistenzarzt in der Neurochirurgie und hatte gerade das letzte Jahr meiner Facharztausbildung angetreten. In den vergangenen sechs Jahren hatte ich eine Menge solcher Scans begutachtet, in der vagen Hoffnung, dass dem Patienten irgendwie geholfen werden könnte. Aber dieser Scan war anders, es war mein eigener.

Diesmal stand ich nicht im weißen Kittel und mit Handschuhen in der Radiologie – ich trug ein Patientenhemd, war an eine Infusion angeschlossen und benutzte den Laptop, den die Schwester mir überlassen hatte. Meine Frau Lucy, sie ist Internistin, saß neben mir. Noch einmal ging ich die Aufnahmen durch: Lunge, Knochen, Leber. Ich scrollte von oben nach unten, von links nach rechts, dann wieder vor und zurück, genau wie ich es gelernt hatte – als könnte ich etwas entdecken, das die Diagnose verändern würde.

Wir lagen zusammen auf dem Klinikbett.

Lucy fragte ruhig, als würde sie es ablesen: »Meinst du, es besteht eine Möglichkeit, dass es etwas anderes ist?«

»Nein«, sagte ich.

Wir hielten uns eng umschlungen wie junge Liebende. Schon im vergangenen Jahr hatten wir beide den Verdacht, wollten es aber einfach nicht glauben oder auch nur darüber sprechen, dass in mir der Krebs wuchs.

Seit etwa einem halben Jahr verlor ich massiv an Gewicht und litt unter fürchterlichen Rückenschmerzen. Morgens beim Anziehen hatte ich den Gürtel erst ein Loch, dann zwei Löcher enger geschnallt. Schließlich ging ich zu meiner Hausärztin Vinitia, einer ehemaligen Kommilitonin aus Stanford. Doch in ihrer Praxis fand ich eine andere Ärztin vor, Vinitia war in Elternzeit. In einem dünnen, blauen Kittel auf einem kalten Untersuchungstisch liegend, beschrieb ich der Kollegin meine Symptome. »Klar«, sagte ich, »wäre es eine Prüfungsfrage – Patient, 35 Jahre mit unerklärlichem Gewichtsverlust und heftigen Rückenschmerzen –, wäre die Antwort eindeutig: Krebs. Aber vielleicht arbeite ich auch nur zu viel. Ich weiß es nicht. Zur Sicherheit würde ich gern eine Magnetresonanztomografie machen lassen.«

»Ich denke, wir sollten zuerst röntgen«, sagte sie. Eine MRT wegen Rückenschmerzen ist teuer und unnötige Scans stehen derzeit wegen der Kostensparprogramme im Gesundheitssystem auf dem Prüfstand. Allerdings hängt die Aussagekraft einer Untersuchung davon ab, was man sucht – Röntgen ist bei Krebs weitgehend nutzlos.

»Und wenn wir Röntgenaufnahmen in Beugung und Streckung machen, vielleicht wäre die realistischere Diagnose dann eine Isthmische Spondylolisthesis?«, schlug ich vor.

Im Spiegel konnte ich sehen, wie sie den Begriff googelte: Wirbelgleiten. Dabei handelt es sich um eine Fraktur der Interartikularportion, eine häufige Ursache für Rückenschmerzen bei jüngeren Leuten, bis zu fünf Prozent sind davon betroffen.

»Gut, ich beantrage das.«

»Danke«, sagte ich.

Warum war ich in einem Patientenkittel so kleinlaut, im Chirurgenmantel so gebieterisch? Immerhin wusste ich über Rückenschmerzen mehr als diese Ärztin, denn ein großer Teil meiner Ausbildung zum Neurochirurgen bestand aus der Beschäftigung mit Wirbelsäulenproblemen. Vielleicht konnte ein Wirbelgleiten also auch der Grund für meine Schmerzen sein. Immerhin litt eine nicht gerade unbedeutende Anzahl junger Erwachsender darunter – und Metastasen an der Wirbelsäule mit dreißig? Die Wahrscheinlichkeit konnte nicht bei mehr als 1 zu 10 000 liegen. Aber selbst wenn Krebs in jungen Jahren tausendmal häufiger auftreten würde, wäre er immer noch weniger verbreitet als ein Wirbelgleiten. Vielleicht machte ich mich einfach nur selbst verrückt!

Als die Röntgenbilder gekommen waren, war nichts auffällig. Wir schrieben also meine Symptome der vielen Arbeit und dem beginnenden Alter zu, vereinbarten einen späteren Kontrolltermin, und ich widmete mich wieder meinen Patienten.

Der Gewichtsverlust verlangsamte sich, die Rückenschmerzen wurden erträglicher. Eine solide Dosis Ibuprofen half mir über den Tag, und außerdem hatte ich nicht mehr so viele dieser mörderischen 14-Stunden-Tage vor mir. Auf der langen Reise vom Medizinstudenten zum Professor für Neurochirurgie war ich fast am Ziel. Nach zehn Jahren Ausbildung war ich entschlossen, noch die kommenden fünfzehn Monate durchzuhalten, bis meine Assistenzzeit endete. Ich hatte mir den Respekt meiner älteren Kollegen erworben, hatte renommierte Preise gewonnen und bekam schon Angebote von einigen der angesehensten Universitäten. Mein Studienleiter in Stanford bat mich zu sich und sagte: »Ich denke, Sie sind die Nummer eins bei jeder Stelle, auf die Sie sich bewerben. Rein interessehalber werden wir hier eine Stelle für jemanden wie Sie ausschreiben. Ich verspreche natürlich nichts, aber Sie sollten es in Betracht ziehen.«

Mit sechsunddreißig Jahren lag das Land der Verheißung vor mir. Ich konnte es sehen, von Gilead über Jericho zum Mittelmeer. Ich konnte einen schönen Katamaran auf diesem Meer sehen, mit dem Lucy, unsere imaginären Kinder und ich am Wochenende hinausfuhren. Ich konnte sehen, wie sich die Verkrampfung in meinem Rücken löste, während sich mein Arbeitspensum verringerte und das Leben überschaubarer wurde. Ich konnte sehen, wie ich endlich der Ehemann wurde, der ich zu sein versprochen hatte.

Doch schon nach ein paar Wochen bekam ich anfallartige, ernstliche Schmerzen im Brustkorb. Hatte ich mich bei der Arbeit irgendwo gestoßen? Hatte ich mir etwa eine Rippe gebrochen? Nachts wachte ich manchmal schweißgebadet auf. Wieder verlor ich Gewicht, nun zügiger, nach zuvor 80 Kilo wog ich nur noch 65. Ich bekam einen hartnäckigen Husten. Es bestand nur noch wenig Zweifel.

An einem Samstagnachmittag lagen Lucy und ich im Dolores Park in San Francisco in der Sonne und warteten auf ihre Schwester. Sie sah auf das Display meines Handys, das Ergebnisse meiner Suche in medizinischen Datenbanken zeigte: »Häufigkeit von Krebserkrankungen bei 30- bis 40-Jährigen.«

»Wozu?«, fragte sie. »Ich habe gar nicht gewusst, dass du dir deswegen Sorgen machst.«

Ich antwortete nicht. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

»Willst du nicht mit mir darüber reden?«

Sie war bestürzt, weil auch sie sich die ganze Zeit unausgesprochen Sorgen gemacht hatte. Sie war bestürzt, weil ich nicht mit ihr darüber geredet hatte.

»Kannst du mir bitte sagen, warum du dich mir nicht anvertraust?«, fragte sie.

Ich schaltete das Handy aus. »Lass uns Eis essen gehen«, sagte ich.

In der folgenden Woche hatten wir frei und wollten alte Studienfreunde in New York besuchen. Vielleicht würden ausreichend Schlaf und ein paar Drinks uns dabei helfen, uns wieder näherzukommen und den Druck im Dampfkochtopf unserer Ehe zu verringern.

Doch Lucy hatte plötzlich andere Pläne. »Ich komme nicht mit nach New York.« Sie wollte sich eine Auszeit nehmen, wollte allein sein und den Zustand unserer Beziehung überdenken. Sie sagte es mit fester Stimme, was den Schwindel, den ich empfand, nur verstärkte.

»Warum?«, sagte ich. »Bitte nicht!«

»Ich liebe dich so sehr, deshalb ist alles so verwirrend«, sagte sie. »Aber ich habe Angst, dass wir von unserer Beziehung jeweils etwas anderes erwarten. Ich habe das Gefühl, dass wir nicht richtig miteinander verbunden sind. Ich will nicht durch Zufall von deinen Sorgen erfahren. Als ich dir gesagt habe, dass ich mich ausgeschlossen fühle, hast du das offenbar nicht für ein Problem gehalten. Für mich muss sich etwas ändern.«

»Alles wird anders«, sagte ich. »Das ist nur wegen der Assistenzzeit.«

War es denn wirklich so schlimm? Die Ausbildung zum Neurochirurgen gehört zu den härtesten und forderndsten medizinischen Spezialisierungen und hat unsere Ehe sicherlich belastet. An zu vielen Abenden kam ich so spät von der Arbeit nach Hause, dass Lucy schon im Bett war, und fiel im Wohnzimmer erschöpft auf den Boden, und an zu vielen Morgen ging ich noch im Dunkeln zur Arbeit, bevor Lucy überhaupt wach war. Aber wir hatten die schwierigste Etappe überstanden. Hatten wir nicht zigmal darüber gesprochen? Merkte sie denn nicht, dass es der denkbar schlechteste Zeitpunkt war, alles aufzugeben? Konnte sie nicht sehen, dass ich nur noch ein Jahr als Assistenzarzt vor mir hatte, dass ich sie liebte und dass wir dem gemeinsamen Leben, das wir uns immer gewünscht hatten, näher waren als je zuvor?

»Wenn es nur die Assistenzzeit wäre, könnte ich damit umgehen«, sagte sie. »Bis jetzt haben wir es ja auch geschafft. Aber die Frage ist doch: Was ist, wenn es nicht nur daran liegt? Meinst du wirklich, alles wird besser, wenn du erst Oberarzt bist?«

Ich bot Lucy an, New York ausfallen zu lassen, mich ihr mehr zu öffnen und zur Paartherapie zu gehen, wie sie es vor ein paar Monaten vorgeschlagen hatte, aber sie wollte unbedingt allein sein, sie brauchte Zeit für sich. An diesem Punkt löste sich meine verschwommene Verwirrung auf, eine kalte Klarheit blieb zurück. Gut, sagte ich mir. Wenn sie gehen wollte, müsste ich wohl davon ausgehen, dass unsere Beziehung zu Ende ist. Und wenn sich herausstellen sollte, dass ich Krebs habe, würde ich es...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2016
Übersetzer Gaby Wurster
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel When Breath Becomes Air
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen • Atul Gawande • Biografie • Biographien • Bronnie Ware • Das Schicksal ist ein mieser Verräter • eBooks • Gesundheit • Henry Marsh • John Green • Last Lecture • Medizin • Randy Pausch
ISBN-10 3-641-18936-5 / 3641189365
ISBN-13 978-3-641-18936-5 / 9783641189365
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