Das Leben der Elfen (eBook)

Roman
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2016 | 2. Auflage
336 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-42902-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Leben der Elfen -  Muriel Barbery
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Über die Schönheit der Welt - und ihre Bedrohung Maria, ein Findelkind, lebt in einem Dorf im Burgund, ist der Natur und den Tieren besonders verbunden, versteht deren Sprache. Clara, die als Waise im Haushalt eines Pfarrers in den Abruzzen aufgenommen wurde, spielt, einem Wunder gleich, bezaubernd Klavier. Sie wissen nichts voneinander - bis Elfen es bewirken, dass sie einander kennenlernen. Dank ihrer besonderen Talente könnte es gelingen, die Verbindung der Menschen mit den Elfen und die einstige Harmonie zwischen Himmel und Erde wiederherzustellen. Denn es droht Krieg und eine böse Macht rüstet sich.  

Muriel Barbery wurde 1969 in Casablanca geboren, studierte Philosophie in Frankreich, lebte einige Jahre in Kyoto und wohnt heute wieder in Frankreich. 2000 veröffentlichte sie ihr viel beachtetes Romandebüt  >Die letzte Delikatesse<. Ihr zweiter Roman, >Die Eleganz des Igels<, wurde zu einem großen literarischen Bestseller, in mehr als 30 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Der lang erwartete dritte Roman, >Das Leben der Elfen<, erschien 2015 in Frankreich.

Muriel Barbery wurde 1969 in Casablanca geboren, studierte Philosophie in Frankreich, lebte einige Jahre in Kyoto und wohnt heute wieder in Frankreich. 2000 veröffentlichte sie ihr viel beachtetes Romandebüt  ›Die letzte Delikatesse‹. Ihr zweiter Roman, ›Die Eleganz des Igels‹, wurde zu einem großen literarischen Bestseller, in mehr als 30 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Der lang erwartete dritte Roman, ›Das Leben der Elfen‹, erschien 2015 in Frankreich.

DIE GEBURTEN


Die Kleine aus Spanien

Die Kleine verbrachte den größten Teil ihrer freien Stunden in den Bäumen. Wenn man sie suchte, ging man zuerst zur großen Buche, die den Schuppen im nördlichen Teil des Anwesens überragte und in deren Krone sie gerne träumte, während sie das Treiben auf dem Bauernhof beobachtete. War sie dort nicht zu finden, ging man weiter zur alten Linde im Pfarrgarten hinter dem bemoosten Mäuerchen, und schließlich, vor allem im Winter, zu den Eichen auf dem angrenzenden Feld, das nach Westen hin in einer Senke auslief und wo inmitten sanfter Hügel drei Exemplare wuchsen, wie es in der Gegend keine schöneren gab. Jede Minute, die die Kleine dem aus Lernen, Mahlzeiten und Gottesdiensten bestehenden Dorfleben abtrotzen konnte, nistete sie in den Baumkronen, und manchmal lud sie ausgewählte Kameraden ein, die über die luftigen Terrassen staunten, die sie angelegt hatte, und plaudernd und lachend wunderbare Tage dort oben verbrachten.

 

Eines Abends, als sie auf einem niedrigen Ast der mittleren Eiche saß, während die Senke sich mit Schatten füllte, beschloss sie, die Abkürzung über die Wiese zu nehmen und den Schafen des Nachbarn Gute Nacht zu sagen. Sie wusste, dass man bald kommen würde, um sie ins warme Haus zu holen. Im aufziehenden Dunst machte sie sich auf den Weg. Sie kannte jede Grasnarbe in einem Umkreis, der von den Stützmauern des Bauernhofs ihres Vaters bis zur Grenze von Marcelots Hof reichte; sie hätte sich mit geschlossenen Augen an den Unebenheiten des Geländes, den Teichbinsen, den Steinen auf dem Weg und am sanften Gefälle der Hügel wie an Sternen orientieren können; stattdessen, und aus einem ganz bestimmten Grund, hielt sie die Augen weit offen. Jemand ging im Dunst kaum ein paar Zentimeter neben ihr her, und seine Gegenwart versetzte ihr einen merkwürdigen Stich ins Herz und ließ seltsame Bilder in ihr aufsteigen – sie sah ein weißes Pferd in goldbraunem Unterholz und einen Weg, gepflastert mit schwarzen Steinen, die unter hohen Laubkronen glänzten.

 

Hier soll gesagt sein, was für ein Kind sie war am Tag dieses bemerkenswerten Ereignisses. Die sechs Erwachsenen, die auf dem Bauernhof lebten – der Vater, die Mutter, zwei Großtanten und zwei Großcousinen –, vergötterten die Kleine. Ein Zauber umgab sie, der anders war als der Zauber von Kindern, mit denen das Leben in ihren ersten Stunden gnädig war, anders als jene Anmut, die aus der richtigen Mischung von Unschuld und Glück hervorging. Wenn sich die Kleine bewegte, nahm man eher einen schillernden Lichtkreis wahr, den die vom Leben auf den Feldern und in den Wäldern geprägten Menschen dieser Gegend mit dem Flimmern der großen Bäume verglichen. Die älteste Tante, mit ihrem besonderen Gespür für jene Dinge, die nicht erklärt werden können, dachte insgeheim, die Kleine habe etwas Magisches an sich, doch auch die anderen Dorfbewohner erkannten, dass sie sich auf eine für ein Kind ihres Alters ungewöhnliche Weise bewegte, denn sie trug ein wenig vom Zittern der Luft mit sich, geradeso wie die Libellen oder die Zweige im Wind. Im Übrigen war sie dunkelhaarig und sehr lebhaft, etwas dünn, dabei aber äußerst anmutig. Ihre Augen funkelten wie Obsidiane, ihre Gesichtszüge mit den hohen Backenknochen hatten etwas Slawisches, die Wangen waren trotz des matten, dunklen Teints stets ein wenig gerötet und ihre schön geschwungenen Lippen von der Farbe frischen Blutes. Eine wahre Freude! Und welches Temperament! Immerzu lief sie über Felder und Wiesen, ließ sich ins Gras fallen, um den übergroßen Himmel zu betrachten, watete barfuß durch den Bach, sogar im Winter, um die beißende Kälte zu spüren, und mit dem Ernst eines Bischofs erzählte sie schließlich jedermann die großen und kleinen Ereignisse ihrer Tage im Freien. Dazu kam eine leise Traurigkeit, wie sie jenen Geistern eigen ist, deren Intelligenz die Wahrnehmung übersteigt und die aufgrund der zarten Hinweise, die sich selbst an jenen behüteten, wenn auch sehr armen Orten finden, wo die Kleine aufwuchs, schon die Tragödien der Welt erahnen. Diese strahlende, geheimnisvolle junge Knospe spürte also im Dunst des Spätnachmittags die Gegenwart eines unsichtbaren Wesens. Mit größerer Gewissheit als der Pfarrer, wenn er die Existenz Gottes predigte, erkannte die Kleine, dass es freundlich und zugleich übernatürlich war. Sie hatte keine Angst. Stattdessen ging sie auf das Wesen zu, in dieselbe Richtung, die sie vorher zu nehmen beschlossen hatte, in Richtung der Schafe.

 

Etwas ergriff ihre Hand. Es fühlte sich an wie eine mit einem weichen, warmen Wolltuch umwickelte große Pranke, in deren sanftem Griff ihre eigene Hand verschwand und die der Kleinen durch den seidigen Ballen hindurch wie die Klaue eines riesigen Wildschweins vorkam. In diesem Augenblick bogen sie beinahe rechtwinklig nach links ab, und sie begriff, dass sie die Schafe und den Hof von Marcelot umgingen und auf das Wäldchen zuhielten. Vor ihnen erstreckte sich ein mit dichtem, saftigem Gras bewachsenes, sanft ansteigendes Brachfeld, von dem aus ein gewundener Pfad den Hügel hinan zu einem hübschen Pappelwald voll Erdbeeren und ganzen Teppichen von Immergrün führte. Noch vor Kurzem verfügte jede Familie über ein Holzungsrecht und schlug dort beim ersten Schnee ihr Holz. Diese Zeiten sind leider vorbei, doch darüber werden wir heute nicht sprechen, aus Bedauern oder aus Nachlässigkeit, und weil die Kleine zu dieser Stunde ihrem Schicksal entgegenläuft, ihre Hand fest in der Klaue eines riesigen Wildschweins.

Das alles ereignete sich an einem Abend im Herbst, der so mild war, wie man es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Man hatte damit gewartet, die Äpfel und Birnen zum Schrumpeln auf die Holzhorden im Keller zu legen, und es regnete den ganzen Tag lang Insekten, die trunken waren vom edlen Tropfen der Obstgärten. In der Luft lag eine Art Mattigkeit, ein träges Seufzen, eine ruhige Gewissheit, dass die Dinge nie enden würden. Und wenn die Menschen auch wie gewohnt arbeiteten, ohne Unterlass und Klage, so genossen sie doch insgeheim diesen unerschöpflichen Herbst, der sie gemahnte, die Liebe nicht zu vergessen.

 

Doch da geht die Kleine auf die Lichtung des Ostwaldes zu, und wieder geschieht etwas Unerwartetes. Es beginnt zu schneien. Es beginnt aus heiterem Himmel zu schneien, und nicht etwa in jenen zaghaften kleinen Flocken, die im trüben Grau fusseln und kaum am Boden ankommen. Nein, es beginnt in dicken Flocken zu schneien, die so groß sind wie Magnolienknospen und sich so dicht aneinanderdrängen, dass sie eine undurchdringliche Wand bilden. Im Dorf wurden gegen sechs Uhr alle überrascht – der Vater, der im bloßen Drillichhemd Holz hackte, Marcelot, der beim Weiher die Jagdhunde laufen ließ, Jeannette, die ihren Brotteig knetete, und andere, die an diesem Tag im Spätherbst, erfüllt vom Nachklang eines verlorenen Glücks, kamen und gingen und mit Leder, Mehl und Stroh hantierten. Ja, alle waren sie überrumpelt worden und schoben jetzt an den Stalltüren die Riegel vor, trieben die Schafe und Hunde ins Trockene und stimmten sich ein auf etwas, das fast genauso wohltuend ist wie die schöne herbstliche Mattigkeit: den ersten gemütlichen Abend am Kaminfeuer, wenn draußen ein Schneesturm wütet.

Man stimmte sich ein, und man dachte nach.

Jene, die sich daran erinnerten, dachten an einen Spätnachmittag im Herbst vor zehn Jahren, an dem ebenfalls unerwartet Schnee gefallen war, als wäre der Himmel mit einem Schlag in strahlend weiße Hobelspäne zerbröselt. Insbesondere auf dem Hof der Kleinen dachte man daran. Soeben hatte man nämlich entdeckt, dass sie nicht nach Hause gekommen war, und der Vater setzte seine Pelzmütze auf und zog eine Jagdjacke über, die auf hundert Meter nach Mottenpulver stank.

»Die sollen sie uns ja nicht wieder wegnehmen«, brummte er, bevor er in der Nacht verschwand.

Er klopfte an die Türen von ein paar Häusern im Dorf, wo andere Bauern, der Sattlermeister und Geschirrmacher, der Gemeindevorsteher (der auch die Wegewärter unter sich hatte), der Waldhüter und noch einige andere wohnten. Er brauchte überall nur einen Satz zu sagen, Die Kleine ist nicht zurückgekehrt, bevor er zur nächsten Tür ging, und schon rief der Mann im Flur nach seiner Jagdjacke oder seinem dicken Mantel, hängte sein Gewehr um und stürzte in den Schneesturm hinaus zum Nachbarhaus. So fand man sich zu fünfzehnt bei Marcelot ein, dessen Frau schon eine Pfanne Speck und einen Krug Glühwein vorbereitet hatte. Man leerte alles in zehn Minuten und entwarf dabei einen Schlachtplan, und es klang ganz ähnlich wie am Morgen eines Jagdtags, allerdings mit dem Unterschied, dass man die Routen der Wildschweine kannte, während die Kleine unberechenbarer als ein Wichtel war. Der Vater hatte jedoch wie alle übrigen Männer eine Vermutung, denn man glaubt nicht an Zufälle in solchen Gegenden, wo der liebe Gott und die Legende sich bestens vertragen und man beide stets im Verdacht hat, mit Schachzügen und Tricks aufzuwarten, die der Stadtmensch schon lange vergessen hat. Hierzulande, müsst ihr wissen, ruft man zur Rettung Schiffbrüchiger nur selten den Verstand zu Hilfe, sondern eher Auge, Fuß, Bauchgefühl und Beharrlichkeit. Das taten die Männer auch an diesem Abend, denn sie erinnerten sich an eine ähnliche Nacht vor genau zehn Jahren, in der sie den Weg zum Berg eingeschlagen hatten auf der Suche nach jemandem, dessen Spuren direkt auf die Lichtung des Ostwaldes führten. Nun fürchtete der Vater aber nichts mehr, als dass sie, wenn sie dort ankämen, nur die Augen aufreißen, sich bekreuzigen und den Kopf schütteln könnten, genau wie damals. Die Spuren hatten plötzlich...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2016
Übersetzer Gabriela Zehnder
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abruzzen • Burgund • Elfenrat • Fantastischer Roman • Findekinder • Findelkinder • Harmonie • Heilkräuter • Klavierspiel • Kräutermedizin • Naturverbundenheit • Poetische Fantasy • Rom
ISBN-10 3-423-42902-X / 342342902X
ISBN-13 978-3-423-42902-3 / 9783423429023
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