Tewje, der Milchmann (eBook)

Roman
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2016 | 1. Auflage
288 Seiten
Manesse (Verlag)
978-3-641-19214-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tewje, der Milchmann -  Scholem Alejchem
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Einer der berührendsten Romane der modernen Weltliteratur: eine Entdeckung!
Arm an Geld, reich an Kindern, träumt der Milchmann Tewje von einem Leben ohne Not und Leid. Doch nach einem unverhofften Geldsegen wendet sich das Blatt, und unser Held muss mitansehen, wie man ihm seine Familie und seine Heimat nimmt. So bleibt er ganz allein in der Welt zurück, mit nichts als seinem Gottvertrauen und seinem unerschütterlichen jüdischen Humor. Allen Schikanen des Daseins setzt er ein humanes, verschmitztes Trotzdem entgegen, das Trotzdem des wahren Humoristen, der noch unter Tränen lacht und scherzt.

Mit seinem Hauptwerk hat Scholem Alejchem seinen Ruf als einer der größten Humoristen der Weltliteratur begründet und dem untergegangenen Milieu des Schtetls ein Denkmal gesetzt. Keine nostalgische Verklärung, keine geschönte Idylle, sondern ein berührend tragikomischer Blick auf die Katastrophen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts drohend am Horizont aufziehen: Pogrome, Vertreibungen, Revolutionen. Dies macht den jiddischen Schicksalsroman zu einem der wichtigsten Bücher der Weltliteratur.

Scholem Alejchem (1859-1916), eigentlich Schalom Rabinowitsch, aus der Ukraine stammend, wanderte 1905 in die Schweiz und dann nach Amerika aus. Bereits mit einundzwanzig Jahren Rabbiner, begründete er mit lebensnahen Milieu-Romanen seinen Ruf als größter Humorist der jiddischen Literatur. Die von ihm geschaffenen Charaktere aus allen Schichten des jüdischen Volkes Osteuropas haben geradezu metaphorische Bedeutung erlangt.

DAS GROSSE LOS

Eine wunderbare Geschichte, wie Tewje, der Milchmann, arm an Geld, aber reich an Kindern, plötzlich und
mit einem Schlag durch ein äußerst sonderbares
Ereignis, das es wert ist, in einem Buch beschrieben
zu werden, sein Glück machte. Erzählt von Tewje
selbst und wortwörtlich hier wiedergegeben

«Der den Geringen aufrichtet aus dem Staube
und erhöht den Armen aus dem Schmutze …»

Psalm 113, 7

Wenn einem das große Los beschert ist, hört Ihr, Herr Scholem Alejchem, kommt es geradewegs ins Haus, denn wie sagt Ihr: Lamnazejach al hagithiß – wenn es geht, dann läuft es auch; es ist dabei keinerlei Verstand und Wahlmöglichkeit vorhanden. Und wenn – Gott behüte – das Gegenteil der Fall ist, könnt Ihr vor lauter Reden zerplatzen, und es wird Euch so viel helfen wie der Schnee vom vergangenen Jahr, denn wie sagt Ihr: Es gibt keine Weisheit, keinen Verstand, keinen Rat gegen ein schlechtes Pferd. Ein Mensch schuftet, quält sich, bis er sich am liebsten hinlegen und – die Feinde Zions sollen’s – sterben würde. Auf einmal, man weiß nicht weswegen und woher, pferdet es von allen Seiten daher, wie es in der Bibel geschrieben steht: So wird eine Hilfe und Errettung den Juden erstehen. Das muss ich Euch ja nicht mehr extra auslegen; die Stelle lässt sich so deuten, dass ein Jude – solange die Seele noch in mir ist (solange noch eine Ader pulst) – das Gottvertrauen nicht verlieren darf. Ich hab’ das tatsächlich bei mir selbst gesehen, wie der Oberste mich geleitet hat bei meinem jetzigen Broterwerb: Denn wie käme ich sonst gerade dazu, mit einem Male Käse und Butter zu verkaufen, wo doch meiner Großmutter Großmutter niemals mit Milchwaren gehandelt hat? Es ist’s wahrhaftig wert, dass Ihr Euch die ganze Geschichte vom Anfang bis zum Ende anhorcht. Ich werd’ mich für eine Weile hier neben Euch hin ins Gras setzen, soll das Pferd derweil ein bisschen was kauen, wie Ihr sagen würdet: Der Odem alles Lebenden lobe deinen Namen, Ewiger – auch ein Pferd ist ein Geschöpf Gottes.

Kurz und gut, es war um die Zeit des Wochenfests5, das heißt, damit ich Euch keine Lügen erzähle, eine Woche oder zwei vor dem Wochenfest; und vielleicht auch – hm? – ein paar Wochen nach dem Wochenfest. Vergesst nicht, es war bereits – gemach, gemach, ich will’s Euch ja ganz genau sagen – vor Jahr und Tag, das heißt genau neun Jahre her oder zehn und vielleicht eine Idee mehr. Damals war ich gar nicht der, so wie Ihr mich jetzt hier seht, das heißt, zwar wirklich derselbe Tewje und doch wieder nicht dieser, wie sagt Ihr so schön: dieselbe Jente6, nur mit einem anderen Schleier. Was bedeutet das? Ich war, nicht auf Euch gedacht, ein bettelarmer Habenichts, obwohl ich natürlich, wenn wir schon bei dem Thema sind, auch jetzt noch sehr weit von einem reichen Mann entfernt bin. Was mir fehlt, ein Brodski7 zu sein, das könnten wir beide uns in diesem Sommer bis nach dem Wochenfest zu verdienen wünschen; aber im Vergleich zu einst bin ich heute, heißt das, ein reicher Mann – mit eigenem Pferd und Wagen, mit – fern bleibe ihnen der böse Blick – ein paar Kühen, die Milch geben, und noch einer, die jeden Augenblick kalben müsste. Es ist – man soll sich nicht beklagen – Käse und Butter und Rahm jeden Tag frisch vorhanden, alles selbst hergestellt, denn wir alle arbeiten hart, keiner sitzt müßig herum. Meine Frau – sie soll leben – melkt die Kühe, die Kinder tragen Krüge, schlagen Butter, und ich selbst, wie Ihr hier seht, fahre jeden Morgen auf den Markt, geh’ alle Datschen in Bojberik ab, man trifft mit diesem zusammen und mit jenem, mit allen größten Patriziern von Jehupez, und redet man einmal richtig ein wenig mit einem Menschen, fühlt man, dass man auch so etwas wie ein Mensch auf Erden ist und nicht – wie Ihr sagt – bloß ein hinkender Schneider; und vom Sabbat gar nicht zu reden – da bin ich doch gar ein König, schaue in ein jüdisches Buch rein, lese einen Abschnitt aus dem Pentateuch mit dem Kommentar dazu, Psalmen, die Sprüche der Väter, dieses, jenes, Strudel, Budel … Ihr guckt mich an, Herr Scholem Alejchem, und denkt Euch wahrscheinlich währenddessen im Herzen: «Ei, dieser Tewje, der ist doch wirklich und wahrhaftig ganz und gar ein Mann, welcher …!»

Kurz und gut, wovon hab’ ich Euch zu reden angefangen? Ah ja, ich war, heißt das, damals, mit Gottes Hilfe, ein ganz armer Schlucker, bin, mit Weib und Kindern – keinen Juden möge es treffen – dreimal am Tag vor Hunger gestorben, außer zum Abendessen. Geschuftet hab’ ich wie ein Esel, ganze Wagenladungen Baumklötze aus dem Wald zum Bahnhof geschleppt für – es soll Euch nicht beschämen – zwei Gulden am Tag! Und das nicht einmal jeden Tag. Und damit gehe hin und halte, unberufen, so ein Haus voller Esser, sie sollen gesund sein, aus und dazu noch, es sei ein Unterschied zwischen diesen und jenen, ein Pferd in Kost, das sich um Raschis Kommentare nicht schert, aber jeden Tag was zum Kauen braucht, ohne Wenn und Aber. Was aber tut Gott? Er ist doch, wie Ihr sagt, ein Speiser und Nährer von allen – Er führt die Welt klug und mit Verstand; wie Er sieht, wie ich mich da so für das bisschen Brot abquäle, sagt Er zu mir: «Du meinst wohl, Tewje, dass schon das Ende aller Dinge gekommen sei – der Weltuntergang, der Himmel auf dich herniedergestürzt? Pfui, bist ein großer Narr! Doch sollst du sehen, wie, wenn Gott nur will, das Schicksal von einer Minute auf die andere einen Dreh – links um! – macht und es in allen Winkeln hell wird.» Es ist so, wie wir es im Gebet zu Neujahr und am Versöhnungstag8 sagen: … Der eine wird erhöht und der andere erniedrigt – das heißt: Der eine fährt, und der andere geht zu Fuß. Aber die Hauptsache ist – Gottvertrauen, ein Jude muss hoffen, nichts als hoffen! Oder was? Wenn man derweilen Schlimmes durchmacht? Nun, dazu sind wir Juden doch gerade auf der Welt, denn wie sagt Ihr: Du hast uns auserwählt … – Nicht umsonst beneidet uns die ganze Welt … Aber weshalb sage ich jetzt das? Ich sage es im Zusammenhang damit, wie Gott es mit mir angestellt hat: wahrlich nur Wunder und Mirakel, Ihr könnt Euch das anhören.

Eines schönen Tages im herrlichsten Sommer, es war schon Abend, fahre ich einmal so durch den Wald, bereits auf dem Nachhauseweg, ohne Baumklötze; den Kopf zur Erde gebeugt, im Herzen gram und trist. Das Pferd, das arme, taumelt mühselig auf schwachen Beinen dahin, da hilft kein Bleuen und kein Dräuen. «Vorwärts», sage ich, «du Unglückstier, geh zugrunde mit mir zusammen, sollst auch wissen, was das bedeutet, ein Fasten an einem langen Sommertag, wenn du schon bei Tewje als Pferd Quartier genommen hast!»

Still ist es ringsumher, jeder Peitschenknall hallt im Walde wider; die Sonne steht schon ganz tief, der Tag – er scheidet dahin; die Schatten der Bäume strecken sich lang, lang hin – so lang wie die jüdische Diaspora; es beginnt zu dunkeln und sehr trübe ums Herz zu werden. Verschiedene Vorstellungen und Gedanken steigen im Kopfe auf, allerlei Gestalten von Menschen, die schon lang gestorben sind, kommen mir entgegen; und da erinnere ich mich an mein Zuhause – und ach und weh ist mir! In der Hütte ist es finster, Dunkelheit; die Kinderchen, sie sollen gesund sein, nackt und bloßfüßig, halten, die Armen, nach dem Vater, dem Unglücksraben, Ausschau, ob er nicht ein frisches Stück Brot oder sogar eine Semmel mit nach Hause bringt; und sie, meine Alte, wie das Frauen so tun, brummt: «Kinder muss ich ihm zur Welt bringen, und noch dazu sieben, nimm sie – Gott möge mich für diese Worte ungestraft lassen – und wirf sie lebend in den Fluss!» Angenehm, solcher Suada zuzuhören? Man ist doch nicht mehr als ein Mensch, ein, wie man sagt, Wesen aus Fisch und Blut, und der Magen lässt sich mit keinen Worten füllen; nimmt man ein Stück Hering zu sich, verlangt einen nach Tee, und für den Tee braucht man Zucker, und Zucker, heißt es, gibt’s bei Brodski. «Wenn’s das Stückel Brot nicht gibt», sagt meine Frau – sie soll leben –, «mag das ja der Magen noch möglichst verzeihen, aber ohne das Gläschen Tee», sagt sie, «bin ich in der Früh’ wie tot; das Kind», sagt sie, «saugt mir die ganze Nacht lang die Kraft heraus!» Und dabei ist man doch auch noch ein Jude auf der Welt, und das Nachmittagsgebet ist doch wahrlich, wie Ihr sagen würdet, keine Ziege und läuft nicht davon, aber beten muss man. Stellt Euch vor, was für ein schönes Beten das sein kann, wenn genau zu dem Zeitpunkt, wo man sich hinstellt und die Achtzehn Segenssprüche9 beten will, teuflischerweise das Pferd durchdreht und durchgeht; da muss man dem Wagen nachrennen, die Zügel zu fassen kriegen und dabei singen: «Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs!» – schön «hingestellt» zum Achtzehngebet! Und gerade dann, wie zufleiß, wenn man Lust gehabt hätte, recht innig und aus ganzem Herzen zu beten, sodass einem vielleicht etwas von der Last auf der Seele genommen wird …

Kurz und gut, ich renne so dem Wagen hinterdrein und spreche laut das Achtzehngebet, mit einer Melodie wie der Vorbeter in der Synagoge: «Der die Lebewesen...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2016
Nachwort Armin Eidherr
Übersetzer Armin Eidherr
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Tevjeh der milchiger
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anatevka • eBooks • Flüchtling • Gottvertrauen • Hiob • Humor • Jiddische Romane • Jude • Judentum • Jüdische Kultur • Klassiker • lustig • lustige • Roman • Schicksal • Weltliteratur
ISBN-10 3-641-19214-5 / 3641192145
ISBN-13 978-3-641-19214-3 / 9783641192143
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