Glückskind mit Vater (eBook)
527 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74453-6 (ISBN)
Ironisch-humoristisch, anrührend, ohne Sentimentalität oder Sarkasmus erzählt Christoph Hein ein beispiellos-beispielhaftes Leben in mehr als sechzig Jahren deutscher Zustände.
Was verdankt ein von der Mutter »Glückskind« genannter Sohn dem Vater? Seit seiner Geburt im Jahr 1945 versucht Konstantin Boggosch, in der entstehenden DDR lebend, aus dem Schatten seines kriegsverbrecherischen toten Vaters zu treten: Er nimmt einen anderen Namen an, will in Marseille Fremdenlegionär werden, reist kurz nach dem Mauerbau wieder in die DDR ein, darf dort kein Abitur machen, bringt es gleichwohl, glückliche Umstände ausnutzend - Glückskind eben -, in den späten DDR-Jahren bis zum Rektor einer Oberschule - fast.
Am Ende erkennt er: Eine Emanzipation von der allgemeinen und der persönlichen Geschichte ist zum Scheitern verurteilt. Durch solche Verkettung von Vergangenheit und Gegenwart wird aus dem Glückskind ein Unheilskind. Gerade dadurch verkörpert Boggosch wie in einem Brennspiegel die unterschiedlichsten Gegebenheiten Deutschlands in den politischen, gesellschaftlichen und privaten Bereichen.
<p>Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle <em>Der fremde Freund / Drachenblut</em>.<br /> Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis. Seine Romane sind <em>Spiegel</em>-Bestseller.</p>
Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle Der fremde Freund / Drachenblut. Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis.
Der sechste Tag des Friedens war kalt.
Eisig kalt, sagte Mutter Jahre später zu mir, und ich war froh, mit deiner bevorstehenden Geburt einen triftigen Grund zu haben, nicht aus dem Haus gehen zu müssen und stattdessen die Hebamme kommen zu lassen.
Seit drei Wochen war das Rathaus der Sitz der Sowjetischen Militärverwaltung für den Landkreis, ein Soldat stand mit einer Maschinenpistole bewaffnet auf dem oberen Treppenabsatz vor dem massiven Eingangsportal, und fast stündlich brachten Soldaten Bürger aus unserer Stadt, vor allem Männer jeden Alters, in das Rathaus. Die zurückkamen, sprachen wenig über das, was im Rathaus passiert war, worüber man sie ausgefragt oder verhört hatte und wie es ihnen gelungen war, mit heiler Haut davonzukommen und nicht irgendwohin zu verschwinden, wie einige andere. Man hatte Respekt und Angst vor der fremden Besatzungsmacht, aber weit mehr war man damit beschäftigt, den Alltag zu bewältigen, irgendwelche Lebensmittel zu besorgen oder einzutauschen, Holz für den Küchenofen zu sammeln, die Schäden am Haus und den Schuppen notdürftig auszubessern und die Blumenstauden im Garten hinterm Haus und in den Vorgärten herauszureißen, um dort Kartoffeln und Rüben anzubauen.
Auf dem Markt vor dem Rathaus und neben der Kirche standen öffentliche Pumpen, uralte, gusseiserne Ungetüme mit gewaltigen Pumpenschwengeln, die man mit aller Kraft mehrmals herunterdrücken musste, ehe endlich das Wasser floss. Eine ganze Woche lang hatte es in der ganzen Stadt kein Wasser gegeben, und jeder hatte sich Tag für Tag mit Eimern und Kannen an einer der beiden Pumpen aufzustellen, und obwohl überraschend schnell wieder Wasser durch die Leitungen floß, bildeten sich immer noch Schlangen an den Pumpen, denn bei einigen Häusern hatten Bomben und Blindgänger die Zuleitungen zerstört, und es konnte Wochen dauern, ehe diese repariert waren. Allerdings war nur die Pumpe hinter der Kirche dicht umlagert, und nur dort gab es gelegentlich Streit und wurde mit Blecheimern um die besseren Plätze gekämpft. Vor der Pumpe auf dem Rathausplatz standen wenige Leute an und Streit gab es dort nie. Die Militärverwaltung in den Amtsstuben, die vor dem Rathaus patrouillierenden, bewaffneten Soldaten mit mongolisch wirkenden, regungslosen Gesichtern ließen es angeraten sein, sich auf diesem Platz möglichst unauffällig zu verhalten oder ihn nach Möglichkeit zu meiden. Allein alte Frauen und Männer sah man dort, sehr alte Frauen und Männer, vermummt in derart abgetragene Kleidung, als hätten sie sich für den Gang auf den Rathausplatz extra kostümiert, und wahrscheinlich hatten sie sich besonders ärmlich angezogen, um keinesfalls aufzufallen. Die jungen Frauen blieben daheim und ließen sich nie auf der Straße sehen, am Tage nicht und in der Nacht schon gar nicht, zumal es eine Sperrstunde gab, die ein jeder akkurat beachtete. Die jüngeren Männer vermieden es, den Besatzungssoldaten unter die Augen zu kommen. Zu viele Gerüchte hatten die Runde gemacht, der und jener soll verschwunden sein, anderen habe man die Wohnung geplündert und einigen, zumal den jüngeren Frauen, sei noch viel Schlimmeres zugestoßen.
Mutter drückte sich sehr unklar aus, und wenn ich nachfragte, sagte sie nur, es war alles schlimm genug, daran erinnere sich keiner gern. Alle, meinte sie, waren damals verängstigt und fürchteten das Kommende. Und das änderte sich auch nicht, als Deutschland kapitulierte. Die Russen behandelten uns nach dem achten Mai wie in den zwei Wochen zuvor, wir waren Feinde für sie, und sie für uns. Keiner traute dem anderen über den Weg. Sie fürchteten Anschläge von verrückten Anhängern der Nazis, von den Werwölfen, einer Organisation von fanatischen Hitlerjungen, die der Bruder von Vaters bewundertem Freund, dem Gebhard Himmler, ein Jahr zuvor gegründet hatte und die noch nach der Kapitulation gegen die siegreichen Armeen der Alliierten kämpfte. Ich glaube, für die russischen Soldaten, für die Rote Armee war jeder Deutsche ein Hitlerist, wie sich der junge Offizier ausgedrückt hatte.
Der Krieg war gottlob überstanden, doch was nun werden solle, wer über das Land und über ihre Stadt bestimme, was mit den Einwohnern passieren würde und welche Strafen die Russen, die Besatzungsmacht, ihnen allen auferlegen würden, keiner wusste es, und in den tollsten Befürchtungen und schrecklichsten Mutmaßungen schienen sich alle übertreffen zu wollen.
Mutter war zu Ende des Krieges hochschwanger. Als Geburtstermin hatte die Hebamme Ende Mai genannt, aber hinzugefügt, in Kriegszeiten sei auf all ihre Berechnungen wenig zu geben, denn wenn irgendwo in der Stadt eine Bombe einschlage oder Artilleriefeuer zu hören sei, könnten die Wehen plötzlich einsetzen. Mutter möge sich daher auf alles gefasst machen. Damals wohnten meine Eltern am Markt, in einem der schönsten Häuser der Stadt, einer wirklichen Villa mit zwei Stockwerken und einer prachtvollen Fassade. Ich habe das Haus später nur von außen gesehen, ich war nie hineingekommen, aber ich hörte in meiner Kindheit viele Geschichten über unser früheres Haus.
Am zweiten Mai kam ein russischer Offizier mit zwei Soldaten ins Haus. Er sei noch sehr jung gewesen, wahrscheinlich erst Mitte zwanzig, klein und stämmig, seine Augen waren kaum zu sehen, es waren winzige Schlitze. Er sprach Deutsch, etwas gebrochen und kehlig, aber verständlich. Laut und herrisch verkündete er die Beschlagnahme der Villa und ordnete die sofortige Räumung an. Zwei Stunden, habe er mehrmals wiederholt und zwei Finger in die Höhe gestreckt, um unmissverständlich zu sein. Als unsere Mamsell Mutter aus ihrem Zimmer holte und der Offizier die hochschwangere Frau sah, soll er verlegen und hochrot geworden sein wie ein Schuljunge. Er habe aufgehört herumzubrüllen, sich für die unumgängliche Beschlagnahmung sogar entschuldigt. Er bat Mutter, innerhalb von zwei Tagen auszuziehen, das sei ein großes Entgegenkommen seinerseits, mehr könne er für die deutsche Frau nicht tun. Als Mutter in Tränen ausbrach und mit beiden Armen ihren runden Leib umschlang, hätte der Offizier sich zu den Soldaten umgedreht und mit ihnen russisch gesprochen. Die Soldaten seien daraufhin aus dem Haus geeilt, und der Offizier habe sich wieder meiner Mutter zugewandt und ihr sehr höflich erklärt, er werde selbst dafür sorgen, dass sie nicht auf der Straße bleiben müsse. Er fragte sie nach ihrer Familie, Mutter sagte, sie habe ein zweijähriges Kind, einen Mann, der noch nicht aus dem Krieg zurückgekommen sei, und es wohnten noch vier weitere Personen im Haus. Das Personal, hatte Mutter gesagt und dann, da der Offizier sie nicht verstand, hinzugefügt, es seien Mitglieder der Familie, die seit Jahren bei ihnen wohnen würden und für die sie zu sorgen habe. Der Offizier habe sie misstrauisch oder überrascht angestarrt. Er bat Mutter, dass jemand aus der Familie ihm das Haus mit all seinen Zimmern zeige. Mutter bot ihm an, selbst mit ihm durch das Haus zu gehen, aber das lehnte er ab. Nein, habe er gesagt und dann hinzugefügt: ein Personal, bitte. Der Gärtner sei mit dem Offizier durch das Haus gegangen, sehr langsam, wie er später erzählte, denn in jedem Zimmer habe sich der Russe Notizen gemacht, er habe wohl aufgeschrieben, was für Möbel in jedem Zimmer stehen, denn sämtliche Einrichtungsgegenstände hätten, wie er gleich bei seiner Ankunft der Mamsell erklärt hatte, im Haus zu verbleiben, eine Mitnahme wäre Diebstahl von Militäreigentum und würde entsprechend bestraft werden. Mutter, die Mamsell und die beiden Mädchen wären in ihre Zimmer gegangen und hätten lange Zeit nur geweint und dann unter Tränen angefangen, ihre Sachen durchzuschauen, um die für jede Person des Hauses erlaubten zwei Koffer zu packen und die Bündel mit den Bettdecken herzurichten, wobei Mutter sich von Jule, dem älteren Hausmädchen, helfen ließ.
Der russische Offizier kam am nächsten Vormittag wieder zu ihnen. Er kam allein, um meiner Mutter mitzuteilen, er habe für sie und ihr Kind in der Bergstraße eine Stube mit Küche und Kammer räumen lassen. Er bitte und verlange, dass sie noch heute die Villa räume, er könne nicht warten. Er würde um drei Uhr am Nachmittag nochmals vorbeikommen, um zu überwachen, was sie und ihr Personal aus dem Haus, das nunmehr Eigentum der Sowjetischen Militärverwaltung sei, mitnähmen. Als Mutter fragte, wo die anderen Mitglieder ihrer Familie unterkämen, habe er sie nur finster angeblickt, nochmals drei Uhr gesagt und sei wortlos hinausgegangen.
Der junge Offizier erschien erst gegen sechs Uhr wieder. Mutter hatte mit der Mamsell, den Mädchen und dem Gärtner in der Villa gewartet. Sie waren ratlos und verwirrt, aber sie wagten es nicht, das Haus allein und entgegen der Aufforderung des Russen zu verlassen, zumal außer dem Gärtner keiner von ihnen wusste, wo er unterkommen könnte.
Der Offizier verlor kein Wort über seine Verspätung. Er kam mit vier Soldaten, begrüßte meine Mutter nicht, sondern starrte sie eindringlich an, ohne ein Wort zu sagen. Als meine Mutter ihn fragte, ob sie ihm etwas anbieten könne, einen Tee oder ein Glas Wasser, blieb er weiter wortlos. Sein Blick war so verachtungsvoll, sagte Mutter, dass ihr fröstelte und sie das Schlimmste erwartete. Sie habe versucht, die unbehagliche Situation aufzulösen, und von der Villa gesprochen, von den Arbeiten, die am Dach dringend zu erledigen wären, leider sei die alte Gewölbedecke des Kellers an mehreren Stellen auszubessern. Der junge Russe schwieg, und nach einer ihr endlos scheinenden Zeit sagte er lediglich: Gerhard Müller. Sie sind die Frau von Gerhard Müller.
Mutter habe es bestätigt, und der Russe habe sie gefragt: Kennen Sie Ihren Mann, diesen Gerhard Müller?
...Erscheint lt. Verlag | 7.3.2016 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | DDR • Deutsche Demokratische Republik • Deutschland • Familiengeheimnis • Kinderbuchpreis des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 • Mitteleuropa • Ostdeutschland • Prix du Meilleur livre étranger 2019 • Samuel-Bogumił-Linde-Preis 2019 • spiegel bestseller • Spiegelbestseller • SPIEGEL-Bestseller • ST 4760 • ST4760 • suhrkamp taschenbuch 4760 • Vater-Sohn-Konflikt • Verbrechen • Wendeverlierer • Wiedervereinigung • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-518-74453-4 / 3518744534 |
ISBN-13 | 978-3-518-74453-6 / 9783518744536 |
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