Was ich sonst noch verpasst habe (eBook)
384 Seiten
Arche Literatur Verlag AG
978-3-03790-000-0 (ISBN)
Lucia Berlin, 1936 in Alaska geboren, war dreimal verheiratet und wurde Mutter von vier Söhnen, die sie allein erzog. Ihre Erzählungen, entstanden in den 1960er- bis 1980er-Jahren, wurden in Zeitschriften und später in drei Bänden veröffentlicht. In den 1990er-Jahren war sie Dozentin an der Universität von Boulder, Colorado. Sie starb 2004 in Marina del Rey. Mit ihrer Wiederentdeckung 2015 in den USA durch den Sammelband ?A Manual for Cleaning Women? fand sie endlich die weltweite Anerkennung, die ihr gebührt. Eine erste Auswahl daraus erschien 2016 unter dem Titel ?Was ich sonst noch verpasst habe? auf Deutsch und wurde ein Bestseller.
Lucia Berlin, 1936 in Alaska geboren, war dreimal verheiratet und wurde Mutter von vier Söhnen, die sie allein erzog. Ihre Erzählungen, entstanden in den 1960er- bis 1980er-Jahren, wurden in Zeitschriften und später in drei Bänden veröffentlicht. In den 1990er-Jahren war sie Dozentin an der Universität von Boulder, Colorado. Sie starb 2004 in Marina del Rey. Mit ihrer Wiederentdeckung 2015 in den USA durch den Sammelband ›A Manual for Cleaning Women‹ fand sie endlich die weltweite Anerkennung, die ihr gebührt. Eine erste Auswahl daraus erschien 2016 unter dem Titel ›Was ich sonst noch verpasst habe‹ auf Deutsch und wurde ein Bestseller.
Das Schreiben als Fallschirm
Ein Vorwort von Antje Rávic Strubel
Wer war diese Frau mit dem fantastischen Namen, der wirkt, als wäre er erfunden? Auf welchen Sprachraum, welche Herkunft deutet er hin? So wenig, wie der Name seine Trägerin festlegt, so offen, mehrdeutig und bezugsreich ist das Werk von Lucia Berlin.
Wer bisher nach Lucia Berlin suchte, fand nur wenige biografische Details. Über ihren Tod im Jahr 2004 hinaus galt sie als das am besten gehütete literarische Geheimnis der USA. Der verdiente Durchbruch kam erst im Jahr 2015, als Stephen Emerson, ein guter Freund von Berlin, im renommierten New Yorker Verlag Farrar, Straus & Giroux einen neu zusammengestellten Band herausbrachte, der dreiundvierzig von insgesamt sechsundsiebzig Erzählungen enthält. Diese Sammlung, auf der auch die vorliegende deutsche Ausgabe beruht, zeigt, dass Berlins Literatur keineswegs gealtert, sondern atemberaubend gegenwärtig ist; es sind zeitlose Geschichten, deren Klang lange nachhallt.
Ihrer späten Entdeckung zum Trotz gehört Lucia Berlin zu den Großen der amerikanischen Literatur. Ihre genuine Schreibweise hat die Strahlkraft einer Carson McCullers, eines William Faulkner, einer Joan Didion. Mit Didion verbindet Lucia Berlin nicht nur die Generation – sie wurde 1936 in Alaska geboren –, sondern auch der untrügliche Blick, die pointierte Zuspitzung, die literarische Präzision. Mit Carson McCullers verbindet sie das Interesse an ungewöhnlichen, vielschichtigen, gebrochenen Charakteren und eine berauschende erzählerische Leichtigkeit, mit Faulkner das literarische Wagnis und die Lust, an Grenzen zu gehen.
Lucia Berlin ist eine jener Autorinnen, für die Leben und Schreiben eine fortlaufende, sich wechselseitig entzündende Bewegung ist. Als Tochter eines Bergbauingenieurs wuchs sie in den Minenstädten der Rocky Mountains auf, in Montana, Idaho, Arizona. Als ihr Vater während des Zweiten Weltkriegs bei der Marine diente, zog die Mutter mit ihr und der jüngeren Schwester zu Verwandten ins texanische El Paso. Nach dem Krieg siedelte die Familie nach Chile über, wo der Vater für eine große Bergbaufirma arbeitete. Von dort ging Berlin zum Studium nach New Mexico. Später lebte sie in Nordkalifornien, Oakland, schließlich in Boulder, Colorado, bevor sie an ihrem 68. Geburtstag in Los Angeles starb. Dieses Unterwegssein ist auch ihren Geschichten eingeschrieben. Sie spielen in den rauen Landschaften des amerikanischen Westens und Südwestens und in Südamerika; in Albuquerque, El Paso, in Mexiko und Chile.
Erste Erzählungen erschienen ab den 1960er-Jahren in Zeitschriften. Da hatte sie allerdings schon einen Roman geschrieben, der ihr in Mexiko gestohlen wurde, und einen weiteren verbrannt, was sie später bereute. 1977 erschien ihr erster Erzählband in einem kleinen Verlag. Sieben weitere Bände folgten, die letzten drei bei Black Sparrow Press. Dieser Verlag, in den 1960er-Jahren gegründet, brachte unter anderem Werke von Charles Bukowski oder Paul Bowles heraus. Auch Beat-Autoren wie Jack Kerouac publizierten dort, der Black-Mountain-Dichter Robert Creeley und der Autor und Künstler Fielding Dawson. Lucia Berlin war eine aufmerksame Leserin – mit Robert Creeley verband sie eine lebenslange Freundschaft, später gehörte der Dichter und Verleger Kennward Elmslie zu ihrem Freundeskreis, die beiden führten einen intensiven, wöchentlichen Briefwechsel.
Mit ihrer unbehauenen Sprache, ihren ungeschönten Schilderungen und komplexen Figurenporträts, durchwoben von abgründigem Witz, hat Lucia Berlin allerdings ein unverkennbar eigenes, einzigartiges literarisches Universum geschaffen.
Diese Autorin schaut dorthin, wo es wehtut. Den Schmerz fängt sie in einem dunklen Lachen auf. Und das geschieht unabhängig von dem kulturellen Hintergrund, dem Milieu oder der Generation ihrer Charaktere. Berlin ist nicht, wie bei Schriftstellern häufig der Fall, Expertin für ein Milieu oder eine bestimmte gesellschaftliche Klasse. Dank ihrer Reisen, ihrer Herkunft, ihrer vielfältigen Jobs hat sie verschiedenste gesellschaftliche Schichten und Sozialisationen erlebt. Sie kennt sich mit prekären Verhältnissen ebenso aus wie mit wohlhabenden, und sie weiß aus eigener Erfahrung, wie unvermittelt der Wechsel von einem ins andere geschehen kann. Als Jugendliche war sie Teil der chilenischen High Society, als alleinerziehende, alkoholkranke Mutter von vier Kindern schrammte sie später öfter am Abgrund entlang. So kann sie von sozialer Brüchigkeit in kolonial geprägten amerikanischen Haushalten ebenso anschaulich erzählen wie von Sozialprojekten, Drogenentzugsanstalten und Obdachlosenheimen.
Ihr untrüglicher Blick zielt auf das Besondere im sozialen Stereotyp. Sie bricht mit Erwartungen und stellt Vorurteile auf den Kopf, indem sie unterschiedlichste Menschen in aller Schroffheit aufeinandertreffen lässt, häufig an öffentlichen Orten. Im Waschsalon, im Bus, im Krankenhaus begegnen sich Figuren, deren soziale und kulturelle Horizonte sich gewöhnlich wenig berühren, hier aber wie selbstverständlich zusammenkommen. Das Selbstverständliche dagegen erscheint auf einmal fremd.
Mexikanische Mütter im Teenageralter, Drogendealer und Krankenschwestern, die sich um todkranke oder schwerstbehinderte Kinder kümmern, amerikanische Ureinwohner und wohlhabende junge Frauen, die zur Abtreibung ins mexikanische Grenzgebiet fahren, bevölkern Berlins Welten. Verwahrloste und gemobbte Mädchen, Putzfrauen auf ihrer täglichen Busfahrt durch die Stadt, kommunistische Lehrerinnen mit blindem, zweifelhaftem Idealismus, alkoholkranke Lehrerinnen. US-Amerikaner in Südamerika ebenso wie Südamerikaner in den Staaten. Geografische Grenzen spiegeln oft die Grenzerfahrungen der Figuren wider; Verwahrlosung, Missbrauch, Krankheit, Sucht, Sterben. Wie hier die Durchlässigkeit von Grenzen sichtbar wird, ist nur ein Zeichen der außergewöhnlichen Sprachmächtigkeit dieser Erzählerin.
Die Figuren wirken zunächst skizzenhaft, wie flüchtig hingeworfen. Aber sie kehren in späteren Geschichten wieder, manchmal unter anderen Namen oder in neuen Zusammenhängen, manchmal scheint die frühere Version in der späteren auf wie ein Schatten. Und es ist dieses Wiederaufgreifen einer Figur, was die einzelnen Erzählungen untergründig verknüpft und in ein großes Erzählmosaik stellt. Im Grunde hat Lucia Berlin ihr gesamtes Leben an einem einzigen Werk geschrieben, an einem ununterbrochenen Text; ein urwüchsiges Schreiben, das in seiner stilistischen Vielfalt, der Multiperspektivität, in seinem Stimmenreichtum und seiner thematischen Breite hinausgeht über die in sich geschlossene Form einer Short Story, die zumeist auf ein Thema, einen Konflikt, ein Milieu begrenzt ist. Lucia Berlins Art zu schreiben ähnelt in ihrer Offenheit dem Verfahren der Beat-Autoren. La Ida, die Fahrt, so heißt das Boot der Fischer in der Geschichte Toda Luna, Todo Año, und das sind wir, die Leser, in all diesen Geschichten: auf der Fahrt. Unterwegs. Möglich, dass wir mehrmals dieselbe Küste ansteuern – aber immer bei anderem Wind, aus einer anderen Richtung, und immer hat sich die Küste in der Zwischenzeit verändert. Dieses Schreiben ist ankerlos, voller Brüche und Sprünge, ein Gefüge mit Raum für eigene Erfahrungen, Erinnerungen, Assoziationen, das die Beteiligung der Leser am Text stärker fordert als die geschlossene Erzählform. Indem Lucia Berlin die Texte offen hält für eine intensive Auseinandersetzung – zuweilen spricht sie uns, die Leser, direkt an –, stellt sie sich selbst als Suchende dar in einem Dialog, in dem jede Antwort auf neue Fragen abzielt.
Berlin erzählt mit der berühmten desillusionierenden Härte, mit der der Überlebenskampf, das Ringen mit Natur und Schicksal in der Short Story verhandelt werden. Zugleich aber legt Berlin den emotionalen Kern ihrer Figuren offen. Interessanterweise hat sie darin eine brutalere Wirkung als Autoren wie etwa Raymond Carver, den sie kannte und dessen Literatur sie sich eine Zeit lang verbunden fühlte. »Ja«, schrieb sie in einem Brief an den amerikanischen Dichter August Kleinzahler, »ich mag Raymond Carvers Geschichten – bevor er ausnüchterte & den Schluss seiner Texte versüßte – (& bevor dieses Miststück seine Geschichten zu short cuts aufmotzte – schrecklich, so was zu tun). Ich habe schon geschrieben wie er, bevor ich überhaupt etwas von ihm gelesen hatte. Er mochte auch meine Texte – wir hatten gute Gespräche. Erkannten einander sofort. Unser beider ›Stil‹ beruhte auf unserem (auf gewisse Weise ähnlichen) Hintergrund. Keine Gefühle zeigen. Nicht weinen. Lass niemanden an dich ran.«
Berlins Stil ist ungezügelt und kontrolliert zugleich in der präzisen Art, in der Szenen entworfen, Situationen aufs Wesentliche konzentriert werden. Ihre spontane, situative Erzählweise vermittelt den Eindruck, man wäre mitten im Geschehen. Die Wirklichkeit des Textes rückt so nah, als materialisiere sich das Gelesene, hinterließe einen Abdruck in der Luft. Den Moment zu erfassen, war Berlin wichtig, ihn als das wahrzunehmen, was er ist, unabhängig davon, ob er gut oder schlecht ist und worauf er hinausläuft. »Man muss die Dinge so nehmen, wie man sie in diesem konkreten Moment sieht.« Ehrlich sein, wahr sein, nah dran sein. Daraus resultiert zuweilen ein so ungekünstelter erzählerischer Ton, dass man sich noch in einem skizzenhaften Entwurf wähnt, während sich doch schon die ganze Vielfalt eines Lebens auffächert, festsetzt und im Kopf bleibt. Wie ein Song, eine gute Liedzeile.
»Miles Davis: ›Those dark Arkansas...
Erscheint lt. Verlag | 19.2.2016 |
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Übersetzer | Antje Strubel |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alkohol • alleinerziehend • Alltag • Feminismus • Hausfrauen • Kurzgeschichten • Lucia • Lucia lesen • Read Lucia • Starke Frauen • USA |
ISBN-10 | 3-03790-000-8 / 3037900008 |
ISBN-13 | 978-3-03790-000-0 / 9783037900000 |
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