Spielereien (eBook)

Erzählungen
eBook Download: EPUB
2015 | 2. Auflage
156 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7392-5721-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Spielereien -  Jens M. Lucke
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Verlust und Schmerz, menschliches Elend und tödlicher Zynismus, Naivität, die ins Verderben führt, und Ignoranz gegenüber der Endlichkeit des Lebens. Zu guter Letzt eine Behandlung, die keiner verdient. In sechs Geschichten zeigen sich dunkle Seiten menschlichen Daseins, Verwirrungen und Irrungen und Seiltänze zwischen Leben und Tod.

Jens M. Lucke wurde 1960 in Bremen geboren und wuchs in Deutschland, Südafrika und Namibia auf. Als Journalist berichtete er lange Jahre aus Norddeutschland und Ägypten und arbeitete als politischer Korrespondent in Hamburg, Bremen und Kairo. Parallel zum Journalismus studierte er Rechtswissenschaften in Heidelberg und Bonn. 2009 erschien sein Aphorismenband »Ernst ist heiter - Leben ist Kunst«. Jens M. Lucke lebt als freier Journalist, Autor und Übersetzer in Niedersachsen.

Man wird nicht gefragt


Ich beneide euch. Wenn ich euch beobachte, wie ihr mit euren Kindern durch den Park schlendert, lachend, schwatzend, dann weiß ich vor Neid kaum ein noch aus. Ihr seid so glücklich. Man sieht es euch an. Ich gönne es euch. Aber ich beneide euch, ich kann es nicht helfen. Die kleinen Kinderhände versinken in den euren, und der Anblick macht mich krank. Physisch krank, nicht psychisch. Ich ertrage ihn einfach nicht.

Ich bin eine reiche Frau. Das schreiben sie alle. Ich lese es zuweilen in den Illustrierten, die mir Marcel bringt, weil er meint, mir damit zu helfen. Aber ich hasse diese Blätter und ihr dummes Geschreibe, ihre unscharfen Bilder und ihre Lügen, sie wüssten um alles Bescheid. Nichts wissen sie, gar nichts. Nur dass ich reich bin, ja, das schreiben sie. Reich! Ich schaue euch an, dort im Park, so zeitlos unbekümmert und voller Harmlosigkeit, und ich weiß jetzt was reich ist. Ich bin es nicht.

Wie konnte ich ihn verlieren? Wieso durfte das geschehen? Und wozu? Es gibt niemanden, der einem auch nur eine vernünftige Frage beantwortet in dieser Zeit. Nur Leere und Stille und hier und da ein verlegenes Räuspern. Sie sind alle so verlegen, wenn sie mit mir zusammen sind. So unbeholfen und verschämt. Da ist sie. Ihr ist es passiert. Sie trägt schwer daran. Was soll man dazu schon sagen? Nur antworten können sie nicht. Aber es ist wahr. Auch sie kennen die Antworten nicht. Es gibt keine Antworten. Es wird nie mehr irgendwelche Antworten geben.

Kann man so leer sein? Ich habe nicht gewusst, dass ich so viel Platz für Leere in meinem kleinen Körper habe. Es scheint, als wehe der Wind durch mich hindurch, so hohl fühle ich mich. Sie nennen mich zierlich. Eine zierliche Gestalt. Jochen hat das geliebt. Da kann man doch wenigstens alles auf einmal in den Arm nehmen, hat er gesagt und gelacht. Mein Gott, was hat er immer gelacht. Diese Augen, der Mund, der ganze Körper lachte bei ihm mit. Selbst seine Haare schüttelten sich, als könnte man soviel Glück gar nicht zerstören. Kann man doch. Man kann es. Ich wusste ja, dass man das kann. Aber ich wollte es nicht glauben. Das Wissen war schlimm genug. Nicht auch noch glauben, nur das nicht.

Dass sein Beruf gefährlich ist, war mir bekannt. Wir alle wussten es, auch Jochen. Und? Was hilft das? Wer hätte ihn ändern wollen, diesen wunderbaren Mann, den Vater meines Kindes? Habe ich ihn etwa geliebt, weil er ein anderer war? Wohl kaum. Na also! Nur so war er und nur so habe ich ihn geliebt; der Jochen meiner Träume war der Jochen, der mich umgab. Einen anderen habe ich nie gewollt. Das ist doch alles ganz einfach zu verstehen, warum nur schauen mich dann alle so an? Ich begreife es nicht.

Ob es eine Junge wird? Oder ein Mädchen? Es ist mir egal. Gesund muss es sein, nur gesund und kräftig, darauf allein kommt es an. Und es wird ihm ähnlich sehen, ich weiß es schon jetzt, und das macht mir Angst. Wie werde ich mit seinem Anblick leben können, Tag für Tag? Was wird geschehen, wenn es so lacht, wie er? Immer ihn sehen, in diesem kleinen Kindergesicht, und ihn verloren wissen, für immer. Ich weiß gar nicht, wie man das durchstehen soll.

Ich hoffe, ja bete, es werde ein Mädchen. Es muss ein Mädchen werden. Wenn es ein Junge wird, wird er ihm gleichen, wie ein Ei dem anderen. Er wird es selber sein – und doch nur das Kind. Dann werde ich ihm jeden Tag in die Auge schauen und betrogen werden. Denn in Wahrheit ist er gar nicht da. Und was werde ich dem Jungen antun, was wird er erleiden müssen durch meine mütterliche Hand? Wie wenig Kind wird er sein dürfen, weil ich es nicht zulassen kann, dass er nicht der Mann ist, den ich so sehr in ihm sehe? Ich würde ihn verbiegen, wie es so viele Mütter tun. Und er hätte keine Kindheit, da er keinen Vater hat, den er mir ersetzen soll. Was aber ersetze ich ihm? – Nein. Ein Junge darf es auf keinen Fall sein. Auf keinen Fall. – Aber wenn es ein Junge wird, dann falle ich auf die Knie und danke dem Herrgott, an den ich so wenig glaube.

Ich bin nie mitgefahren zu seinen Rennen. Das haben viele nicht verstanden. Warum nur? Schauen andere Frauen ihren Männern bei der Arbeit zu? Wie viele Frauen sind denn dabei, wenn die Herren ihre Börsenkurse in den Computer hacken oder mit Baggerschaufeln die nächste Jauchegrube zuschütten? Hundert? Tausend? Millionen? Macht euch nicht lächerlich. Gewiss, sein Beruf ist ein Beruf in der Menge. Millionen sind dabei, wenn er fährt. Und die Mechaniker, die Team-Kameraden, die Werbefritzen und immer das Fernsehen, immer irgend jemand vom Fernsehen. Sie lebten doch alle von ihm. Nur er nicht von ihnen. Aber das war ihnen allen egal. Sie brauchten ihn, und er wollte ihnen etwas sein. Das war sein Leben. Meines war es nicht. Meines war das Leben der Stille und des Wartens und des Hoffens. Bangen? Nein. Gebangt habe ich nicht. Nicht einmal. Ich wusste genau, wen ich da heirate und welchen Beruf er hat. Ich wusste, er würde gehen, Woche für Woche, und seine Runden drehen im Bannkreis der Erwartungen und der Gefahr. Das wusste ich vorher. Ich durfte nachher nicht bangen. Das hätte ihm nicht geholfen. Ich musste wissen, dass er es schafft. Jedes Mal aufs Neue. Und wenn ich es wusste, wusste er es auch. Und dann siegte er. Wir waren ein gutes Team, auf unsere heimlich stille Art. Wir haben uns still verstanden und immer gesiegt.

Weißt du noch, Madeleine? »Dir entgeht so vieles, wenn du nicht dabei bist«, hast du gesagt. »Es ist alles so spannend und aufregend, ich kann gar nicht genug davon bekommen«, hast du gesagt. »Wie schaffst du es nur, hier zu Hause zu sitzen und abzuwarten?«

Ich habe versucht, es dir zu erklären, aber es war müßig. Du verstandest nur dich. Du meintest, es läge an ihm, er wolle mich nicht dabei haben, so seien die Männer eben. »Na, ist ja auch kein Wunder, bei den Blondinen am Boxenstop ...«, hast du gesagt.

Ich danke dir, Madeleine. Du bist ein Schatz.

Als das Telefon klingelte, ahnte ich nichts. Jochen konnte es nicht sein. Wir haben unsere eigene Linie. Das Rennen war auch noch nicht vorbei. Aber wie oft rufen liebe Freunde mittendrin an, um mir »nur mal eben schnell« zu sagen, wie es steht, und dass er mal wieder ganz fabelhaft fährt. Ich habe versucht es ihnen abzugewöhnen. Aber manchmal hat man das Gefühl, es hört einem keiner zu.

Als mir Jean-Pierre sagte, was geschehen war, erschien mir die Telefonleitung plötzlich so still, so leer und hohl zu sein, wie ich es jetzt bin. Es war eine Unendlichkeit in der Leitung, die ich niemals zuvor so empfunden habe, nicht einmal bei Ferngesprächen aus den entlegensten Teilen der Erde. Woher kam diese Leitung und wo führte sie hin? Wie konnte sie so weit werden und so unendlich groß, dass alle Millionen Zuschauer darin hätten Platz finden können? Es war ein Echo darin, das Jean-Pierres Stimme widerhallen ließ, immer und immer wieder, als er schon längst nichts mehr sagte. Nur Stille und Echo und Stille. Und ich. Es war niemand sonst mehr auf dieser Welt.

Sie holten mich mit dem Hubschrauber ab. Er landete direkt neben unserem Grundstück auf der Wiese, und schon wenige Minuten später waren wir in der Luft. Es ist nur eine dreiviertel Stunde bis Magny-Cours, aber ich weiß nicht, wie ein solcher Flug so lang werden kann. Nur eines weiß ich: Ich habe mich tapfer gehalten. So, wie man es von mir erwarten darf. Keine Träne, kein Heulen, kein Zusammenbruch. Nur Haltung. Und Unfassbarkeit. Ich wünschte, der Hubschrauber würde immer höher und höher steigen, bis die Erde unter uns verschwände. Aber er tat mir den Gefallen nicht, sank stattdessen zu eben dieser Erde zurück und brachte mich zu dem schlimmsten Tag meines Lebens. Als ich ausstieg, spürte ich die Erwartung auf mir wie eine bleierne Tafel, die sich langsam auf einen senkt, und meine Knie wurden weich. In den Illustrierten, die Marcel mir brachte, zeigen sie mich mit verzerrtem Gesicht und einer Träne, die unter der dunklen Brille hervortritt. Es sind Schufte, diese elendigen Paparazzi. Und alles gelogen und am Computer erfunden. Ich habe nicht geweint.

Die Haarnadelkurve war sein Verhängnis. Zum ersten Mal hatte er sich in der Geschwindigkeit überschätzt, das Steuer zu eng gezogen und sich nicht wieder gefangen. Sie alle sagen, er war zu schnell. Er war mir immer zu schnell, aber ich habe von den Kennern gelernt, dass jede Kurve analysierbar ist. Was zu schnell ist, bestimmt der Computer. Warum hatte er in diesem Moment den Computer nicht im Kopf? Wo war er in dieser Zehntelsekunde mit seinen Gedanken? Ich würde so gerne glauben, bei mir. Aber das wäre tödlich, und ich werde so törichtes Überlegen nicht zulassen. Nein, er war nie bei mir, wenn er fuhr. Er durfte es nicht sein. Wenn er fuhr, galt nur die Strecke, der Wagen und die Konkurrenz. Es ist nicht, dass es mich nicht gab für ihn in dieser Zeit, aber jeder Gedanke an mich hätte ihn das Leben kosten können. Wie ist es möglich, dass man sich so liebt und sich dennoch so zur Gefahr werden kann? Ich war es nicht. Ich war es bestimmt nicht. Es war eine Unachtsamkeit. Vielleicht irgendetwas im Pistenbelag, eine Unebenheit, mit der nicht zu rechnen war, auf die er sich nicht vorbereitet hatte. Es gibt für alles eine...

Erscheint lt. Verlag 12.8.2015
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erzählungen • Hamburg • Katzen • Kurzgeschichten • Srebrenica
ISBN-10 3-7392-5721-0 / 3739257210
ISBN-13 978-3-7392-5721-1 / 9783739257211
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