Ich bin nicht hier, um eine Rede zu halten (eBook)
160 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31525-7 (ISBN)
Gabriel García Márquez, geboren 1927 in Aracataca, Kolumbien, arbeitete nach dem Jurastudium zunächst als Journalist. García Márquez hat ein umfangreiches erzählerisches und journalistisches Werk vorgelegt. Seit der Veröffentlichung von »Hundert Jahre Einsamkeit« gilt er als einer der bedeutendsten und erfolgreichsten Schriftsteller der Welt. 1982 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Gabriel García Márquez starb 2014 in Mexico City.
Gabriel García Márquez, geboren 1927 in Aracataca, Kolumbien, arbeitete nach dem Jurastudium zunächst als Journalist. García Márquez hat ein umfangreiches erzählerisches und journalistisches Werk vorgelegt. Seit der Veröffentlichung von »Hundert Jahre Einsamkeit« gilt er als einer der bedeutendsten und erfolgreichsten Schriftsteller der Welt. 1982 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Gabriel García Márquez starb 2014 in Mexico City. Dagmar Ploetz, geboren 1946 in Herrsching, übersetzt seit 1983 u.a. Werke von Isabel Allende, Julián Ayesta, Rafael Chirbes, Manuel Puig, Mario Vargas Llosa und Gabriel García Márquez. 2012 wurde sie mit dem Münchner Übersetzerpreis ausgezeichnet. 2010 erschien von ihr »Gabriel García Márquez. Leben und Werk« bei Kiepenheuer & Witsch. Silke Kleemann, geboren 1976, lebt als literarische Übersetzerin, Lektorin und Autorin in München. Sie übersetzt hauptsächlich Romane und Lyrik aus dem Spanischen, u. a. Juan Filloy, Alejandro Jodorowsky, Alberto Fuguet und Sor Juana Inés de la Cruz.
Die Einsamkeit Lateinamerikas
Stockholm, Schweden, 8. Dezember 1982
Antonio Pigafetta, ein florentinischer Seefahrer, der Magellan auf der ersten Reise um die Welt begleitete, schrieb auf dem Weg durch unser südliches Amerika eine genaue Chronik, die trotzdem einem Abenteuer der Fantasie gleicht. Er erzählte, er habe Schweine mit dem Nabel auf dem Rücken gesehen und einige Vögel ohne Füße, die Weibchen brüten auf den Schultern des Männchens, und andere Vögel wie zungenlose Pelikane, deren Schnäbel Löffeln glichen. Er erzählte, er habe eine tierische Missgeburt mit dem Kopf und den Ohren eines Maulesels gesehen, dem Körper eines Kamels, Hirschhufen und dem Wiehern eines Pferds. Er erzählte, dem ersten Eingeborenen, dem sie in Patagonien begegnet seien, hätten sie einen Spiegel vorgehalten, und dieser erregte Riese habe, erschrocken über sein eigenes Abbild, den Verstand verloren.
Dieses kurze und fesselnde Buch, das bereits die Keime unserer heutigen Romane enthält, ist keineswegs das erstaunlichste Zeugnis unserer Wirklichkeit aus jenen Zeiten. Die Chronisten Spanischamerikas haben uns unzählige andere Zeugenaussagen hinterlassen. Eldorado, unser illusionäres und so begehrtes Land, war lange Jahre hindurch auf zahlreichen Landkarten verzeichnet und wechselte je nach Fantasie der Kartografen Ort und Form. Auf der Suche nach der Quelle der ewigen Jugend erforschte der mythische Alvar Núñez Cabeza de Vaca acht Jahre lang den Norden Mexikos auf einer wahnwitzigen Expedition, deren Mitglieder einander aufaßen, und von den sechshundert, die sie unternommen hatten, kamen nur fünf ans Ziel. Eines der vielen nie ergründeten Geheimnisse betrifft die elftausend mit je hundert Pfund Gold beladenen Maulesel, die eines Tages Cuzco verließen, um Atahualpas Lösegeld zu entrichten, und nie ihren Bestimmungsort erreichten. Später, während der Kolonialzeit, wurden in Cartagena de Indias im Schwemmland gezüchtete Hühner verkauft, in deren Kaumägen sich Goldklümpchen fanden. Dieser Goldrausch unserer Gründer verfolgte uns bis vor Kurzem. Noch im letzten Jahrhundert kam die deutsche Delegation, die den Auftrag hatte, den Bau einer interozeanischen Eisenbahnlinie auf der Landenge von Panama zu eruieren, zu dem Ergebnis, das Projekt sei unter der Bedingung durchführbar, dass die Schienen nicht aus Eisen, einem in jener Gegend seltenen Metall, sondern aus Gold gegossen würden.
Die Unabhängigkeit von der spanischen Herrschaft rettete uns nicht vor dem Wahnsinn. General Antonio López de Santana, der dreimal Diktator von Mexiko war, ließ für sein rechtes Bein, das er im sogenannten Kuchenkrieg verloren hatte, eine prächtige Beerdigung veranstalten. General Gabriel García Morena regierte Ecuador sechzehn Jahre lang als absoluter Alleinherrscher; bei der Totenwache saß sein Leichnam in Galauniform und einem Brustpanzer aus Orden auf dem Präsidentensessel. General Maximiliano Hernández Martínez, der theosophische Despot von El Salvador, der mit einem barbarischen Gemetzel dreißigtausend Bauern ausrotten ließ, hatte ein Pendel erfunden, um vergiftete Nahrungsmittel aufzuspüren, und ließ die Straßenlaternen mit rotem Papier überziehen, um eine Scharlachepidemie zu bekämpfen. Das auf dem Hauptplatz von Tegucigalpa errichtete Denkmal für General Francisco Morazán ist in Wirklichkeit ein Standbild des Marschalls Ney, das in Paris in einem Lager gebrauchter Skulpturen erworben wurde.
Vor elf Jahren erschütterte einer der berühmten Dichter unserer Zeit, der Chilene Pablo Neruda, diesen Saal mit seinem Wort. Seitdem hämmern auf Europas gutes und gelegentlich auch schlechtes Gewissen mit größerer Wucht denn je die gespenstischen Nachrichten aus Lateinamerika ein – diesem riesigen Vaterland besessener Männer und historischer Frauen, deren unendliche Beharrlichkeit in die Legende eingegangen ist. Wir hatten keinen Augenblick Ruhe. Ein prometheischer Präsident, in seinem in Flammen stehenden Palast verschanzt, starb allein im Kampf gegen ein ganzes Heer, und bei zwei verdächtigen, nie aufgeklärten Flugzeugabstürzen kamen ein anderer großherziger Mann sowie ein demokratischer Militär, der die Würde seines Volkes wieder hergestellt hatte, ums Leben.
Es gab fünf Kriege und siebzehn Staatsstreiche und ein diabolischer Diktator kam, der im Namen Gottes den ersten Ethnozid Lateinamerikas in unserer Zeit auslöste. In der Zwischenzeit sind zwanzig Millionen lateinamerikanische Kinder gestorben, bevor sie das zweite Lebensjahr erreichten, mehr Kinder, als seit 1970 in Europa geboren wurden. Und fast einhundertzwanzigtausend sind als Folge von Unterdrückung verschwunden; das ist so, als wisse man heute nicht, wo die Einwohner der Stadt Uppsala abgeblieben sind. Zahlreiche Frauen, die während der Schwangerschaft verhaftet wurden, kamen in argentinischen Gefängnissen nieder, doch noch ist nichts über den Verbleib und den Namen ihrer Kinder bekannt, die auf Befehl der Militärbehörden heimlich adoptiert oder in Waisenhäuser eingeliefert wurden. Weil sie den Lauf der Dinge nicht zulassen wollten, mussten etwa zweihunderttausend Frauen und Männer auf dem ganzen Kontinent sterben, und mehr als einhunderttausend kamen in drei kleinen, selbstbewussten Ländern Mittelamerikas um: in Nicaragua, El Salvador und Guatemala. Wäre dies in den Vereinigten Staaten geschehen, entspräche das proportional einer Million sechshunderttausend gewaltsamen Toden in vier Jahren.
Aus Chile, einem Land mit gastlicher Tradition, sind eine Million Menschen geflüchtet – das sind zehn Prozent der Bevölkerung. Uruguay, eine winzige Nation von zweieinhalb Millionen Einwohnern, die sich für das zivilisierteste Land des Kontinents hielt, verlor durch Verbannung einen von fünf Einwohnern. Der Bürgerkrieg in El Salvador hatte seit 1979 alle zwanzig Minuten quasi einen Flüchtling zur Folge. Stellte man sich ein Land vor mit all den Exilanten und Emigranten, so hätte es mehr Einwohner als Norwegen.
Ich wage zu glauben, es ist diese ungeheuerliche Wirklichkeit, und nicht nur ihr literarischer Niederschlag, die in diesem Jahr die Aufmerksamkeit der Schwedischen Akademie der schönen Künste auf sich gezogen hat. Eine Wirklichkeit, die nicht aus Papier ist, sondern die mit uns lebt und jeden Augenblick unserer zahllosen täglichen Tode bestimmt und die ein Quell unersättlicher Schöpferkraft voller Unglück und Schönheit speist, eine Wirklichkeit, von der dieser umherirrende und heimwehkranke Kolumbianer nicht mehr ist als eine vom Zufall bestimmte Chiffre.
Dichter und Bettler, Krieger und Schurken, alle, die wir Geschöpfe dieser gewalttätigen Wirklichkeit sind, brauchen wir die Einbildungskraft kaum zu bemühen, denn die größte Herausforderung ist für uns der Mangel an konventionellen Mitteln gewesen, um unser Leben glaubwürdig zu machen. Dies, Freunde, ist die Schwierigkeit unserer Einsamkeit.
Denn wenn diese Schwierigkeiten, die für uns entscheidend sind, uns behindern, ist unschwer zu begreifen, dass die ihre eigene Kultur verzückt betrachtenden rationalen Begabungen auf dieser Seite der Welt noch keine taugliche Methode haben, um uns verstehen zu können. Es ist verständlich, dass sie darauf beharren, uns mit der gleichen Elle zu messen, mit der sie sich selbst messen, ohne zu bedenken, dass die Verwüstungen des Lebens nicht für alle gleich sind und dass die Suche nach der eigenen Identität für uns ebenso hart und blutig ist wie einst für sie. Die Deutung unserer Wirklichkeit mithilfe fremder Schemata trägt nur dazu bei, uns immer fremder, immer unfreier, immer einsamer zu machen. Vielleicht wäre das ehrwürdige Europa verständnisvoller, wenn es uns in seiner eigenen Vergangenheit zu sehen versuchte. Wenn es sich daran erinnerte, dass London dreihundert Jahre benötigte, um seine erste Stadtmauer zu bauen, und weitere dreihundert, bis es einen Bischof bekam; dass Rom sich zwanzig Jahrhunderte in der Finsternis der Ungewissheit herumschlug, bevor ein etruskischer König es in der Geschichte etablierte, und dass noch im sechzehnten Jahrhundert die heute friedfertigen Schweizer, die uns mit ihrem milden Käse und ihren unerschütterlichen Uhren erfreuen, als Glücksritter Europa blutig schlugen. Noch in der Hochrenaissance plünderten und verwüsteten zwölftausend Landsknechte im Sold der kaiserlichen Heere Rom und metzelten achttausend seiner Einwohner nieder.
Ich beabsichtige nicht, zur Verkörperung der Illusionen Tonio Krögers zu werden, dessen Träume, einen keuschen Norden mit einem leidenschaftlichen Süden zu vereinen, Thomas Mann vor dreiundfünfzig Jahren an diesem Ort pries, aber ich glaube, dass Europas aufgeklärte Geister, die auch hier für ein menschlicheres und gerechteres Vaterland, für die Einheit der Völker, kämpfen, uns besser helfen könnten, wenn sie die Art und Weise uns zu sehen, von Grund auf revidierten. Die Solidarität mit unseren Träumen wird unser Gefühl von Einsamkeit nur dann vergehen lassen, wenn sie umgesetzt wird in echte Unterstützung für die Völker, die die Illusion haben, bei der Aufteilung der Welt ein eigenes Leben zu bekommen.
Lateinamerika möchte keine willenlose Schachfigur sein, noch hat es Grund, dies zu wünschen; und es ist auch nicht illusorisch, dass sein Streben nach Unabhängigkeit und Originalität zu einem Anliegen des Westens wird. Und wenn auch die Entfernung zwischen Europa und unseren Amerikas durch die Fortschritte der Schifffahrt kleiner geworden ist, scheint sich hingegen die kulturelle Distanz vergrößert zu haben. Die Originalität, die uns in der Literatur vorbehaltlos zugebilligt wird, warum verwehrt man sie uns mit allen möglichen Verdächtigungen bei unseren schwierigen Versuchen...
Erscheint lt. Verlag | 14.12.2015 |
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Übersetzer | Dagmar Ploetz, Silke Kleemann |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Cartagena de Indias • Film • Freundschaften • Gabo • Gabos Freundschaften • Gabos Schulabschlussrede • Gabriel Garcia Marquez • Hundert Jahre Einsamkeit • Literatur-Nobelpreis • Literaturnobelpreisträger • Nicht hier um eine Rede zu halten • öffentlich • Politik • Reden • Reden über Literatur • Sammlung • Sammlung von Reden • Schriftsteller des 20. Jahrhunderts • Yo no vengo decir un discurso |
ISBN-10 | 3-462-31525-0 / 3462315250 |
ISBN-13 | 978-3-462-31525-7 / 9783462315257 |
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