Die weißen Inseln der Zeit (eBook)

Lektüren, Orte, Bilder.
eBook Download: EPUB
2015
352 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-18787-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die weißen Inseln der Zeit - Hanns-Josef Ortheil
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Von magischen Momenten an ungewöhnlichen Orten
Hanns-Josef Ortheil erzählt von den Orten seines Lebens. Er berichtet von fesselnden Lektüren, von Bildern und Klängen, die ihn verzaubert haben. Vor unseren Augen lässt er ein Selbstporträt entstehen, das ihn als einen Enthusiasten der Kunst und als einen Entdecker zeigt, der unser Leben auf seine verborgenen Kräfte hin untersucht. Die Taschenbuchausgabe ist vom Autor um wichtige Texte erweitert worden, die seit der gebundenen Ausgabe des Buches erschienen sind und für einiges Aufsehen gesorgt haben.

Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.

Meine Eltern und ich


Ich wurde am 5. November 1951 in Köln geboren, meine Eltern wohnten damals im Norden der Stadt, in Köln-Nippes, am großen Erzbergerplatz, der heute wieder von alten, schön renovierten Mietshäusern aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg umsäumt wird.

 

Köln war nicht die Heimatstadt meiner Eltern, aber es war die Stadt, in der sie sich zeitlebens am wohlsten fühlten. Mein Vater hatte nach seinen Kriegssoldatenjahren in Köln eine Anstellung bei der Bundesbahn gefunden, von Beruf war er Geodät oder, wie er sagte, »Landvermesser«. In den Diensten der Bahn vermaß er Strecken, berechnete Tunneldurchbrüche und entwarf Brücken, er hatte eine Leidenschaft fürs Detail, fürs Exakte, für die ästhetische Zeichnung, für Millimeterpapier, Zirkelkästen und gut gespitzte Bleistifte. Wenn ich ihn zeichnen könnte, sähe man ihn auf einem drehbaren, arm- und lehnlosen Schemel vor einer weißen Tischplatte, die von einer tief hängenden Lampe beleuchtet wird. Vater beugt den Oberkörper über die Platte, die Zungenspitze wischt nervös über die Unterlippe, der Zirkel kreist auf dem hauchdünnen Papier, das sich an beiden Seiten zusammenrollt. Es ist still, niemand stört ihn, es ist die Stunde der Geometrie.

 

Meine Eltern kamen aus dem Siegerland, aus dem kleinen Ort Wissen an der Sieg, kaum fünfzig Kilometer östlich von Köln. Siegerland, sage ich, aber eigentlich müßte ich Nördlicher Westerwald sagen, denn meine Eltern, besonders aber mein Vater, der mit zehn Geschwistern auf einem großen Bauernhof aufgewachsen war, verstanden sich als Westerwälder.

Westerwälder – das sind die schwarz gekleideten, in sich gekehrten und landtreuen Menschen auf den Fotografien August Sanders, Bauern auf dem Sonntagsspaziergang zur Kirche, Frauen mit dunklen Kopftüchern, gezeichnet von vielen Geburten, Kinder, ängstlich und maulfaul, in einer dichten Traube um die auf zwei Stühlen thronenden Eltern geschart. So existieren sie auf meinen inneren Bildern als Gestalten der Vorzeit, als Gestalten der archaischen Gesten und Jahreszeiten, fromm, katholisch, die Männer oft mit breiter Stirn, störrisch, unbeirrbar, eine Sippe, die daheim blieb, jahrhundertelang, und nie aufgestört wurde von Eindringlingen oder Fremden.

 

Die Eltern meines Vaters waren Bauern, der große Hof lag an der Nister, einem Nebenflüßchen der Sieg, zum Hof gehörte eine Gastwirtschaft, all das gibt es heute noch, und drinnen, hinter der Theke der Gastwirtschaft, steht heute mein Vetter Johannes und begrüßt die Gäste.

Die Eltern meiner Mutter aber waren Kaufleute und hatten, wie es hieß, »ein großes Geschäft«, anfangs Spedition, dann Baustoffe, Kohlen, Öl und vor allem alles, was die Bauern brauchten, die mit ihren Traktoren vorfuhren, um de Säucher zu wiegen.

Zwischen dem Hof meines Vaters und dem Elternhaus meiner Mutter, das im alten Teil von Wissen, nahe der Kirche, steht, sind meine Eltern, seit sie sich kennengelernt hatten, hin und her geeilt, meist zu Fuß oder auf Fahrrädern. Meine Mutter hat in der Gastwirtschaft ausgeholfen, und mein Vater saß sonntags am Mittagstisch seiner späteren Schwiegereltern, dunkel gekleidet, der einzige Studierte weit und breit, seiner Passion nach aber ein Jäger oder ein Förster, witterungsabhängig, naturbegeistert, einer, der in Naturbildern dachte.

 

Da, wo meine Eltern ihre Kindheit und Jugend verbracht haben, haben sie sich in den fünfziger Jahren ein Haus gebaut, gleich weit entfernt von beiden Elternhäusern. Lange Zeit war das Haus vermietet, solange sie, wie es hieß, »unterwegs«, in der Fremde, waren.

Doch Anfang der siebziger Jahre haben sie sich dort wieder niedergelassen, von wo sie 1939, im Jahr des Kriegsbeginns, »in die Welt« aufgebrochen waren.

Sie bezogen ihr Haus, sie waren wieder angekommen im warmen Kreis der Verwandten und Freunde, und an den Sonntagen ging mein Vater zu seiner elterlichen Gastwirtschaft, mit dem Spazierstock auf dem Asphalt den Weg taktierend, und wurde von seinem jüngsten Bruder, der damals Hof und Gastwirtschaft betrieb, herzlich begrüßt.

 

Ich war das fünfte Kind meiner Eltern. Meine Mutter hat außer mir noch vier Söhne geboren, doch als ich 1951 zur Welt kam, war keiner der vier noch am Leben. Drei waren Stunden, Tage oder Wochen nach der Geburt gestorben, der erste in Berlin während eines Bombenangriffs, die beiden anderen nach dem Krieg, in Köln, als meine Mutter schon nicht mehr daran glaubte, daß eines ihrer Kinder am Leben blieb.

Denn die Lebenslinien unserer Familie, die meiner Eltern und meine eigene, sie haben einen fernen Fluchtpunkt, den 6. April 1945, den Tag, als mein zweiter Bruder, fast dreijährig, ums Leben kam. Meine Mutter war damals kurz vor Kriegsende mit ihren nächsten Verwandten auf das Hofgut »Hecke« nahe bei Wissen geflüchtet, am frühen Morgen des 6. April besetzten die Amerikaner das Gut, das wenig später von der versteckt im Tal liegenden deutschen Artillerie beschossen wurde.

Als die Geschosse einschlugen, saß meine Mutter in der Küche und hatte meinen Bruder auf dem Schoß, ein Granatsplitter traf ihn in den Hinterkopf, er war sofort tot, meine Mutter aber überlebte, verstört, ein in sich erstarrtes, zu Tode erschrockenes Bündel, das aufhörte, weiter an das Leben zu glauben.

Die beiden Söhne, die sie nach dem Krieg dennoch zur Welt brachte, starben, als wäre der Krieg noch nicht zu Ende, und auch als ich zur Welt kommen sollte (meine Mutter war inzwischen schon beinahe vierzig), rechnete niemand mit meinem Überleben.

 

Zum Zeitpunkt meiner Geburt war ich der Letzte und Erste zugleich. Ich war der Letzte einer ausgestorbenen Sippe, der Gemeinschaft meiner vier toten Brüder, von denen man erzählte, sie lebten im Himmel und blickten auf mich mit besonderer Freude. Und ich war der Erste, der meinen aus dem Himmel mit Wohlgefallen auf mich blickenden Brüdern zu beweisen hatte, daß sie weiterlebten in mir, daß sie wuchsen mit meinem Wachstum, daß ich sie wiedergebar.

Köln, Erzbergerplatz


Es ist Nachmittag, und Du sitzt »Em Golde Kappes«, dem alten Nippeser Brauhaus, das es seit 1913 gibt. Im 19. Jahrhundert soll in der ganzen Umgebung bis hin zum Rhein Kappes angebaut worden sein, von dort hat das Brauhaus seinen Namen, in dem jetzt von 10 Uhr morgens bis Mitternacht ohne Pause das gute Mühlen-Kölsch frisch vom Anstich serviert wird.

Du sitzt an einem der hellen, gescheuerten Brauhaustische, das milchig-gelbe Licht der Deckenlampen erhellt den Raum schwach, ringsum verläuft eine dunkle Holzverkleidung, die letzten Spätesser des Mittags beugen sich über eine »Dom-Woosch mit Röggelche« oder »E Engk Blotwoosch met Öllig«, und die ersten Frühesser des Abends bestellen zu Fleisch oder Wurst warme Beilagen, »Ädäppelschlot« für zwei Euro zwanzig oder »Quallmänner« für zwei Euro, oder den traditionellen »Sore Kappes«, der zum Mühlen-Kölsch besonders gut schmeckt.

Kaum hundert Meter vom »Golde Kappes« entfernt, am alten Erzbergerplatz, der bei seiner Entstehung Königin-Luise-Platz, dann Erzbergerplatz, kurze Zeit Adolf-Hitler-Platz, jetzt aber wieder Erzbergerplatz heißt, hast Du die ersten Jahre Deines Lebens verbracht, im ersten Stock von Haus Nummer neun. Deine frühsten Erinnerungsbilder bestehen aus Blicken aus dem Fenster des ersten Stocks hinunter auf den Platz, Du siehst kleine Gruppen von Kindern, die Murmeln und Ball spielen und sich jagen und davoneilen in alle Windrichtungen, und Du drückst Deine Nase gegen das Fensterglas, weil Du auf Vater wartest, der am frühen Abend die Schillstraße hinauf heimkommt und beim Einbiegen auf den Erzbergerplatz zu Deinem Fenster hinaufschauen wird, um Dir zu winken.

Bevor Du aber mit Deinem kleinen Rundgang durch Dein Kindheitsviertel beginnst, trinkst Du noch ein Kölsch und blätterst in dem Buch von Reinhold Kruse, Reinhold Kruse hat den ganzen ersten Band der »Edition Nippes« dem Erzbergerplatz gewidmet, in vierzehn Kapiteln geht er seiner Entstehung und seinen Veränderungen im vergangenen Jahrhundert nach.1

Und so erfährst Du, daß sich an der heutigen Stelle des Platzes früher einmal der »Nippeser Volksgarten« mit einem großen Weiher und einem Gartensaal befand, Tanzkränzchen, Jahrmärkte und Konzerte muß es dort gegeben haben und Frühlings- und Sommerfeste mit bengalischem Feuerwerk über dem Weiher oder einer Fackelpolonaise um den Weiher herum, an schönen Tagen konnte man Kahnfahren und an kalten Wintertagen Schlittschuhlaufen. Der Weiher muß in einer alten Rheinrinne gelegen haben, die es jahrhundertelang gab, ich bin am Ufer des Rheins groß geworden, denke ich, an den Ausläufern einer alten Rheinrinne habe ich meine ersten Tage verbracht, das ist ein weiteres Kölsch wert.

Anfang des vergangenen Jahrhunderts hat man den Nippeser Weiher dann zugeschüttet und mit der Anlage eines großen Platzes begonnen, in einer Stadtverordnetenversammlung hat man darüber gestritten, ob der Name Königin-Luise-Platz nicht zu hochtrabend sei, aber man ist dann doch bei diesem Namen geblieben. Schöne mehrgeschossige Häuser sind dann rund um den Platz entstanden, und schon bald legte man dort die erste »gärtnerische Schmuckanlage« in Nippes an, mit Blumen- und vor allem Rosenbeeten, Laubengängen und einem Kinderspielplatz, diese Anlage hat sich mit vielen Veränderungen über ein ganzes Jahrhundert erhalten, ich kann mich gut erinnern, sie beinahe täglich durchstreift zu haben, in den fünfziger Jahren waren die sie umgebenden Straßen noch autofrei, so daß man als Kind die schmalen Trottoirs an den...

Erscheint lt. Verlag 30.11.2015
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Autobiografie • Autor • eBooks • Essays • Feuilletons • Notizen • Orte • Reden • Reisen • Roman • Romane • Schriftsteller • Selbstporträt • Tagebuch
ISBN-10 3-641-18787-7 / 3641187877
ISBN-13 978-3-641-18787-3 / 9783641187873
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