Die neuen Leiden des jungen W (eBook)
160 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73940-2 (ISBN)
»Die ?neuen? Leiden des jungen W. sind die alten: Liebe, die als Eifersucht schmerzt, gestörtes Verhältnis zur Mitwelt, das als verletzter Ehrgeiz quält. Auch Werther 1972 liebt eine verlobte, später verheiratete Frau namens Charlotte, die er nicht wie sein Vorgänger Lotte, sondern ?Charlie? nennt« Rolf Michaelis, Frankfurter Allgemeine Zeitung.
<p>Ulrich Plenzdorf wurde am 26. Oktober 1934 in Berlin-Kreuzberg geboren. Er starb am 9. August 2007 in Berlin. Seine Eltern wurden wegen ihrer Mitgliedschaft in der KPD während der Zeit des Nationalsozialismus mehrfach inhaftiert. Von 1949 bis 1952 besuchte er die Schulfarm Scharfenberg in Himmelpfort bei Fürstenberg (Havel). 1950 zog die Familie von West- nach Ost-Berlin um, wo Plenzdorf 1954 in Lichtenberg das Abitur bestand. In Leipzig studierte Plenzdorf anschließend Marxismus-Leninismus und Philosophie am Franz-Mehring-Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig, verließ die Hochschule aber ohne Abschluss. Ab 1959 besuchte er die Deutsche Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg. Ab 1963 arbeitete er als Szenarist und Dramaturg im DEFA-Studio Babelsberg. Parallel zu seinem Studium arbeitete Plenzdorf von 1955 bis 1958 als Bühnenarbeiter. 1958-1959 war er Soldat der Nationalen Volksarmee. Bekannt wurde der DDR-Autor auch in der Bundesrepublik Deutschland durch seinen gesellschaftskritischen Roman <em>Die neuen Leiden des jungen W</em>. Ursprünglich als Bühnenstück geschrieben und 1972 in Halle (Saale) uraufgeführt, erschien der Roman ein Jahr später und wurde seitdem in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Plenzdorf machte sich aber vor allem auch als Drehbuchautor zahlreicher Spielfilme (<em>Die Legende von Paul und Paula, Der Trinker, Abgehauen</em>) und Fernsehserien (vierte Staffel von <em>Liebling Kreuzberg</em>) einen Namen. Von 1992 war er Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Im Jahr 2004 hatte er eine Gastdozentur am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig inne. Ulrich Plenzdorf war seit 1955 mit Helga Lieske verheiratet und hatte drei Kinder.</p>
Ulrich Plenzdorf wurde am 26. Oktober 1934 in Berlin-Kreuzberg geboren. Er starb am 9. August 2007 in Berlin. Seine Eltern wurden wegen ihrer Mitgliedschaft in der KPD während der Zeit des Nationalsozialismus mehrfach inhaftiert. Von 1949 bis 1952 besuchte er die Schulfarm Scharfenberg in Himmelpfort bei Fürstenberg (Havel). 1950 zog die Familie von West- nach Ost-Berlin um, wo Plenzdorf 1954 in Lichtenberg das Abitur bestand. In Leipzig studierte Plenzdorf anschließend Marxismus-Leninismus und Philosophie am Franz-Mehring-Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig, verließ die Hochschule aber ohne Abschluss. Ab 1959 besuchte er die Deutsche Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg. Ab 1963 arbeitete er als Szenarist und Dramaturg im DEFA-Studio Babelsberg. Parallel zu seinem Studium arbeitete Plenzdorf von 1955 bis 1958 als Bühnenarbeiter. 1958-1959 war er Soldat der Nationalen Volksarmee. Bekannt wurde der DDR-Autor auch in der Bundesrepublik Deutschland durch seinen gesellschaftskritischen Roman Die neuen Leiden des jungen W. Ursprünglich als Bühnenstück geschrieben und 1972 in Halle (Saale) uraufgeführt, erschien der Roman ein Jahr später und wurde seitdem in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Plenzdorf machte sich aber vor allem auch als Drehbuchautor zahlreicher Spielfilme (Die Legende von Paul und Paula, Der Trinker, Abgehauen) und Fernsehserien (vierte Staffel von Liebling Kreuzberg) einen Namen. Von 1992 war er Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Im Jahr 2004 hatte er eine Gastdozentur am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig inne. Ulrich Plenzdorf war seit 1955 mit Helga Lieske verheiratet und hatte drei Kinder.
»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«
»Im September. Ende September. Am Abend bevor er wegging.«
»Hast du nie an eine Fahndung gedacht?«
»Wenn mir einer Vorwürfe machen kann, dann nicht du! Nicht ein Mann, der sich jahrelang um seinen Sohn nur per Postkarte gekümmert hat!«
»Entschuldige! – War es nicht dein Wunsch so, bei meinem Lebenswandel?!«
»Das ist wieder deine alte Ironie! – Nicht zur Polizei zu gehen war vielleicht das einzig Richtige, was ich gemacht hab. Selbst das war schließlich falsch. Aber zuerst war ich einfach fertig mit ihm. Er hatte mich in eine unmögliche Situation gebracht an der Berufsschule und im Werk. Der Sohn der Leiterin, bis dato der beste Lehrling, Durchschnitt eins Komma eins, entpuppt sich als Rowdy! Schmeißt die Lehre! Rennt von zu Hause weg! Ich meine …! Und dann kamen ziemlich schnell und regelmäßig Nachrichten von ihm. Nicht an mich. Bewahre. An seinen Kumpel Willi. Auf Tonband. Merkwürdige Texte. So geschwollen. Schließlich ließ sie mich dieser Willi anhören, die Sache wurde ihm selber unheimlich. Wo Edgar war, nämlich in Berlin, wollte er mir zunächst nicht sagen. Aus den Tonbändern wurde jedenfalls kein Mensch schlau. Immerhin ging so viel daraus hervor, daß Edgar gesund war, sogar arbeitete, also nicht gammelte. Später kam ein Mädchen vor, mit der es dann aber auseinanderging. Sie heiratete! Solange ich ihn hier hatte, hat er nichts mit Mädchen gehabt. Aber es war doch kein Fall für die Polizei!«
Stop mal, stop! – Das ist natürlich Humbug. Ich hatte ganz schön was mit Mädchen. Zum erstenmal mit vierzehn. Jetzt kann ich’s ja sagen. Man hatte so allerhand Zeug gehört, aber nichts Bestimmtes. Da wollte ich’s endlich genau wissen, das war so meine Art. Sie hieß Sylvia. Sie war ungefähr drei Jahre älter als ich. Ich brauchte knapp sechzig Minuten, um sie rumzukriegen. Ich finde, das war eine gute Zeit für mein Alter, und wenn man bedenkt, daß ich noch nicht meinen vollen Charme hatte und nicht dieses ausgeprägte Kinn. Ich sag das nicht, um anzugeben, sondern daß sich keiner ein falsches Bild macht, Leute. Ein Jahr später klärte mich Mutter auf. Sie rackerte sich ganz schön ab. Ich Idiot hätte mich beölen können, aber ich machte Pfötchen wie immer. Ich glaube, das war eine Sauerei.
»Wieso entpuppte er sich als Rowdy?!«
»Er hat seinem Ausbilder den Zeh gebrochen.« – »Den Zeh?«
»Er hat ihm eine schwere Eisenplatte auf den Fuß geworfen, eine Grundplatte. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ich meine …!«
»Einfach so?«
»Ich war nicht dabei, aber der Kollege Flemming sagte mir – das ist der Ausbilder, ein erfahrener und alter Ausbilder, zuverlässig –, daß es so war: Er verteilt morgens in der Werkstatt die Werkstücke, ebendiese Grundplatten zum Feilen. Und die Burschen feilen auch, und beim Nachmessen fällt ihm auf, Edgars Nachbar, Willi, hat da eine Platte fertig, aber die hat er nicht gefeilt, die war aus dem Automaten. In der Produktion werden die Grundplatten natürlich automatisch gefertigt. Der Junge hat sie sich besorgt und zeigt sie jetzt vor. Sie ist natürlich genau bis auf ein Hundertstel. Er sagt ihm das: Die ist aus dem Automaten.
Willi: Aus was für einem Automaten?
Flemming: Aus dem Automaten in Halle zwei.
Willi: Ach, da steht ein Automat?! – Das kann ich doch gar nicht wissen, Meister. In der Halle waren wir zum letzten Mal, als wir anfingen mit der Lehre, und da hielten wir die Dinger noch für Eierlegemaschinen. Und das war dann Edgars Stichwort, das war natürlich alles vorher abgemacht: Also nehmen wir mal an, da steht ein Automat. Kann ja sein. Da fragt man sich doch, warum wir dann die Grundplatten mit der Feile zurechtschruppen müssen. Und das im dritten Lehrjahr.«
Gesagt hab ich das. Das stimmt. Aber aus dem Hut. Abgemacht war überhaupt nichts. Ich wußte, was Willi und die anderen vorhatten, wollte mich aber raushalten, wie immer.
»Flemming: Was hab ich euch gesagt, als ihr bei mir angefangen habt? – Ich hab euch gesagt: Hier habt ihr ein Stück Eisen! Wenn ihr aus dem eine Uhr machen könnt, habt ihr ausgelernt. Nicht früher und nicht später.
Das ist so sein Wahlspruch.
Und Edgar: Aber Uhrmacher wollten wir eigentlich schon damals nicht werden.«
Das wollte ich Flemming schon lange mal sagen. Das war nämlich nicht nur sein blöder Wahlspruch, das war seine ganze Einstellung aus dem Mittelalter: Manufakturperiode. Bis da hatt ich’s mir immer verkniffen.
»Und anschließend warf ihm Edgar dann diese Grundplatte auf den Fuß und mit dermaßen Kraft, daß ein Zeh brach. Ich war wie vom Donner gerührt. Ich wollte das erst nicht glauben.«
Stimmt alles. Bis auf zwei Kleinigkeiten. Erstens hab ich die Platte nicht geworfen. Das brauchte ich nicht. Diese Platten waren auch so schwer genug, einen ollen Zeh oder was zu brechen, einfach durch ihre Masse. Ich brauchte sie bloß fallen zu lassen. Was ich denn auch machte. Und zweitens ließ ich sie nicht anschließend fallen, sondern erst sagte Flemming noch einen kleinen Satz, nämlich er tobte los: Von dir hätte ich das am allerwenigsten erwartet, Wiebau!
Da setzte es bei mir aus. Da ließ ich die Platte fallen. Wie das klingt: Edgar Wiebau! – Aber Edgar Wibeau! Kein Aas sagt ja auch Nivau statt Niveau. Ich meine, jeder Mensch hat schließlich das Recht, mit seinem richtigen Namen richtig angeredet zu werden. Wenn einer keinen Wert darauf legt – seine Sache. Aber ich lege nun mal Wert darauf. Das ging schon jahrelang so. Mutter ließ sich das egal weg gefallen, mit Wiebau angeredet zu werden. Sie war der Meinung, das hätte sich nun mal so eingebürgert, und sie wär nicht gestorben davon und überhaupt, alles, was sie im Werk geworden ist, ist sie unter dem Namen Wiebau geworden. Und natürlich hieß unsereins dann auch Wiebau! Was ist denn mit Wibeau? Wenn’s Hitler wär oder Himmler! Das wär echt säuisch! Aber so? Wibeau ist ein alter Hugenottenname, na und? – Trotzdem war das natürlich kein Grund, olle Flemming die olle Platte auf seinen ollen Zeh zu setzen. Das war eine echte Sauerei. Mir war gleich klar, daß jetzt kein Schwein mehr über die Ausbildung reden würde, sondern bloß noch über die Platte und den Zeh. Manchmal war mir eben plötzlich heiß und schwindlig, und dann machte ich was, von dem ich nachher nicht mehr wußte, was es war. Das war mein Hugenottenblut, oder ich hatte einen zu hohen Blutdruck. Zu hohen Hugenottenblutdruck.
»Du meinst, Edgar hat einfach die Konsequenz der Sache gescheut und ist deshalb weg?«
»Ja. Was sonst?«
Ich will mal sagen: Besonders scharf war ich auf das Nachspiel nicht. »Was sagt der Jugendfreund Edgar Wiebau (!) zu seinem Verhalten zu Meister Flemming?« Leute! Ich hätt mir doch lieber sonstwas abgebissen, als irgendwas zu sülzen von: Ich sehe ein … Ich werde in Zukunft …, verpflichte mich hiermit … und so weiter! Ich hatte was gegen Selbstkritik, ich meine: gegen öffentliche. Das ist irgendwie entwürdigend. Ich weiß nicht, ob mich einer versteht. Ich finde, man muß dem Menschen seinen Stolz lassen. Genauso mit diesem Vorbild. Alle forzlang kommt doch einer und will hören, ob man ein Vorbild hat und welches, oder man muß in der Woche drei Aufsätze darüber schreiben. Kann schon sein, ich hab eins, aber ich stell mich doch nicht auf den Markt damit. Einmal hab ich geschrieben: Mein größtes Vorbild ist Edgar Wibeau. Ich möchte so werden, wie er mal wird. Mehr nicht. Das heißt: Ich wollte es schreiben. Ich hab’s dann bleibenlassen, Leute. Dabei wäre der Aufsatz höchstens nicht gewertet worden. Kein Aas von Lehrer traute sich doch, mir eine Fünf oder was zu geben.
»Kannst du dich an sonst noch was erinnern?«
»An einen Streit natürlich? – Wir haben uns nie gestritten. Doch, einmal schmiß er sich vor Wut die Treppen runter, weil ich ihn irgendwohin nicht mitnehmen wollte. Da war er fünf, wenn du das meinst. – Trotzdem wird alles wohl meine Schuld sein.«
Das ist großer Quatsch! Hier hat niemand schuld, nur ich. Das wolln wir mal festhalten! – Edgar Wibeau hat die Lehre geschmissen und ist von zu Hause weg, weil er das schon lange vor- hatte. Er hat sich in Berlin als Anstreicher durchgeschlagen, hat seinen Spaß gehabt, hat Charlotte gehabt und hat beinah eine große Erfindung gemacht, weil er das so wollte!
Daß ich dabei über den Jordan ging, ist echter Mist. Aber wenn das einen tröstet: Ich hab nicht viel gemerkt. 380 Volt sind kein Scherz, Leute. Es ging ganz schnell. Ansonsten ist Bedauern jenseits des Jordan nicht üblich. Wir alle hier wissen, was uns blüht. Daß wir aufhören zu existieren, wenn ihr aufhört, an uns zu denken. Meine Chancen sind da wohl mau. Bin zu jung gewesen.
»Mein Name ist Wibeau.«
»Angenehm. – Lindner, Willi.«
Salute, Willi! Du warst zeitlebens mein bester Kumpel, tu mir jetzt einen Gefallen. Fang nicht auch an, in deiner Seele oder wo nach Schuld zu wühlen und so. Reiß dich zusammen.
»Es soll Tonbänder von Edgar geben, die er besprochen hat? Sind sie greifbar? Ich meine, kann ich sie hören?
Gelegentlich?«
»Ja. Das geht.«
Die Tonbänder:
kurz und gut / wilhelm / ich habe eine bekanntschaft gemacht / die mein herz näher angeht – einen engel – und doch bin ich nicht imstande / dir zu sagen / wie sie vollkommen ist / warum sie vollkommen ist / genug / sie hat allen meinen sinn gefangengenommen – ende nein / ich betrüge mich nicht – ich lese in ihren schwarzen augen wahre...
Erscheint lt. Verlag | 6.10.2015 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aussteiger • Belletristische Darstellung • DDR • Deutscher Jugendbuchpreis 2002 • Deutschland • Geschichte 1972 • Heranwachsender • Ingeborg-Bachmann-Preis 1978 • Jacob-Kaiser-Preis 1982 • Ostdeutschland DDR • Schullektüre • ST 300 • ST300 • suhrkamp taschenbuch 300 |
ISBN-10 | 3-518-73940-9 / 3518739409 |
ISBN-13 | 978-3-518-73940-2 / 9783518739402 |
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