Die größere Hoffnung (eBook)
288 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403444-7 (ISBN)
Ilse Aichinger wurde am 1. November 1921 in Wien geboren. 1948 veröffentlichte sie ihren Roman über die Kriegszeit in Wien, »Die größere Hoffnung«, und ihre ersten berühmten Geschichten. Für ihren Roman, ihre Gedichte, Hörspiele und Prosastücke, die in viele Sprachen übersetzt wurden, erhielt sie zahlreiche literarische Auszeichnungen, u. a. 1952 den Preis der Gruppe 47, 1982 den Petrarca-Preis, 1983 den Franz-Kafka-Preis, 1995 den Österreichischen Staatspreis für Literatur und 2015 den Großen Kunstpreis des Landes Salzburg. Ilse Aichinger starb am 11. November 2016 im Alter von 95 Jahren.
Ilse Aichinger wurde am 1. November 1921 in Wien geboren. 1948 veröffentlichte sie ihren Roman über die Kriegszeit in Wien, »Die größere Hoffnung«, und ihre ersten berühmten Geschichten. Für ihren Roman, ihre Gedichte, Hörspiele und Prosastücke, die in viele Sprachen übersetzt wurden, erhielt sie zahlreiche literarische Auszeichnungen, u. a. 1952 den Preis der Gruppe 47, 1982 den Petrarca-Preis, 1983 den Franz-Kafka-Preis, 1995 den Österreichischen Staatspreis für Literatur und 2015 den Großen Kunstpreis des Landes Salzburg. Ilse Aichinger starb am 11. November 2016 im Alter von 95 Jahren.
Die große Hoffnung
Rund um das Kap der Guten Hoffnung wurde das Meer dunkel. Die Schiffahrtslinien leuchteten noch einmal auf und erloschen. Die Fluglinien sanken wie eine Vermessenheit. Ängstlich sammelten sich die Inselgruppen. Das Meer überflutete alle Längen- und Breitengrade. Es verlachte das Wissen der Welt, schmiegte sich wie schwere Seide gegen das helle Land und ließ die Südspitze von Afrika nur wie eine Ahnung im Dämmern. Es nahm den Küstenlinien die Begründung und milderte ihre Zerrissenheit.
Die Dunkelheit landete und bewegte sich langsam gegen Norden. Wie eine große Karawane zog sie die Wüste hinauf, breit und unaufhaltsam. Ellen schob die Matrosenmütze aus dem Gesicht und zog die Stirne hoch. Plötzlich legte sie die Hand auf das Mittelmeer, eine heiße kleine Hand. Aber es half nichts mehr. Die Dunkelheit war in die Häfen von Europa eingelaufen.
Schwere Schatten sanken durch die weißen Fensterrahmen. Im Hof rauschte ein Brunnen. Irgendwo verebbte ein Lachen. Eine Fliege kroch von Dover nach Calais.
Ellen fror. Sie riß die Landkarte von der Wand und breitete sie auf den Fußboden. Und sie faltete aus ihrem Fahrschein ein weißes Papierschiff mit einem breiten Segel in der Mitte.
Das Schiff ging von Hamburg aus in See. Das Schiff trug Kinder. Kinder, mit denen irgend etwas nicht in Ordnung war. Das Schiff war vollbeladen. Es fuhr die Westküste entlang und nahm immer noch Kinder auf. Kinder mit langen Mänteln und ganz kleinen Rucksäcken, Kinder, die fliehen mußten. Keines von ihnen hatte die Erlaubnis zu bleiben und keines von ihnen hatte die Erlaubnis zu gehen.
Kinder mit falschen Großeltern, Kinder ohne Paß und ohne Visum, Kinder, für die niemand mehr bürgen konnte. Deshalb fuhren sie bei Nacht. Niemand wußte davon. Sie wichen den Leuchttürmen aus und machten große Bogen um die Ozeandampfer. Wenn sie Fischerbooten begegneten, baten sie um Brot. Um Mitleid baten sie niemanden.
In der Mitte des Ozeans streckten sie die Köpfe über den Schiffsrand und begannen zu singen. »Summ, summ, summ, Bienchen summ herum –«, »It’s a long way to Tipperary –«, »Häschen in der Grube« und noch vieles andere. Der Mond legte eine silberne Christbaumkette über das Meer. Er wußte, daß sie keinen Steuermann hatten. Der Wind fuhr hilfreich in ihre Segel. Er fühlte mit ihnen, er war auch einer von denen, für die niemand bürgen konnte. Ein Haifisch schwamm neben ihnen her. Er hatte sich das Recht ausgebeten, sie vor den Menschen beschützen zu dürfen. Wenn er Hunger bekam, gaben sie ihm von ihrem Brot. Und er bekam ziemlich oft Hunger. Auch für ihn konnte niemand bürgen.
Er erzählte den Kindern, daß Jagd nach ihm gemacht wurde, und die Kinder erzählten ihm, daß Jagd nach ihnen gemacht wurde, daß sie heimlich fuhren und daß es sehr aufregend war. Sie hatten keinen Paß und kein Visum. Aber sie wollten um jeden Preis hinüberkommen.
Der Haifisch tröstete sie, wie nur ein Haifisch trösten kann. Und er blieb neben ihnen.
Ein U-Boot tauchte vor ihnen auf. Sie erschraken sehr, aber als die Matrosen sahen, daß manche von den Kindern Matrosenmützen trugen, warfen sie ihnen Orangen zu und taten ihnen nichts.
Als der Haifisch den Kindern gerade einen Witz erzählen wollte, um sie von ihren traurigen Gedanken abzulenken, brach ein furchtbarer Sturm los. Der arme Haifisch wurde von einer riesigen Woge weit hinausgeschleudert. Entsetzt riß der Mond die Christbaumkette zurück. Kohlschwarzes Wasser spritzte über das kleine Schiff. Die Kinder schrien laut um Hilfe. Niemand hatte für sie gebürgt. Keines von ihnen hatte einen Rettungsgürtel.
Groß und licht und unerreichbar tauchte die Freiheitsstatue aus dem Schrecken. Zum ersten und zum letzten Male.
Ellen schrie im Schlaf. Sie lag quer über der Landkarte und wälzte sich unruhig zwischen Europa und Amerika hin und her. Mit ihren ausgestreckten Armen erreichte sie Sibirien und Hawaii. In der Faust hielt sie das kleine Papierschiff und sie hielt es fest.
Die weißen Bänke mit den roten Samtpolstern liefen erstaunt im Kreis. Die hohen, glänzenden Türen zitterten leise. Die bunten Plakate wurden dunkel vor diesem Schmerz.
Ellen weinte. Ihre Tränen befeuchteten den Pazifischen Ozean. Ihre Matrosenmütze war vom Kopf gefallen und bedeckte einen Teil des Südlichen Eismeers. Es lag sich hart genug auf dieser Welt. Wäre das kleine Papierschiff nicht gewesen!
Der Konsul hob den Kopf von seiner Arbeit.
Er stand auf, ging um den Schreibtisch und setzte sich wieder nieder. Seine Uhr war stehengeblieben und er hatte keine Ahnung, wie spät es war. Es mußte auf Mitternacht gehen. Nicht mehr heute und noch nicht morgen, soviel war sicher.
Er schlüpfte in den Mantel und löschte das Licht. Gerade als er den Hut aufsetzen wollte, hörte er es. Er behielt den Hut in der Hand. Es war das Schreien einer Katze; hilflos und unentwegt. Es machte ihn zornig.
Möglicherweise kam es aus dem Raum, in welchem die Leute tagsüber darauf warteten, abgewiesen zu werden. Diese vielen, vielen Leute mit den weißen, erwartungsvollen Gesichtern, die alle auswandern wollten, weil sie Angst hatten und weil sie noch immer daran dachten, die Welt wäre rund. Unmöglich, ihnen zu erklären, daß die Regel eine Ausnahme und die Ausnahme keine Regel war. Unmöglich, ihnen den Unterschied zwischen dem lieben Gott und einem Konsulatsbeamten klarzumachen. Sie hörten nicht auf zu hoffen, das Unwägbare in der Hand zu wägen und das Unberechenbare zu berechnen. Sie hörten einfach nicht auf.
Der Konsul beugte sich noch einmal aus dem Fenster und sah hinunter. Da war niemand. Er schloß hinter sich ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Mit großen Schritten durchquerte er die Vorräume. Mehr Vorräume als Räume, wenn man alles zusammennahm. Mehr Hoffnung, als man erfüllen konnte. Viel zuviel Hoffnung. Wirklich, zuviel?
Und doch tat die Stille weh. Schwarz in schwarz war die Nacht. Warm und dicht ineinandergewebt wie ein Trauerkleid. Hofft, ihr Leute, hofft! Webt helle Fäden dazwischen! Ein neues Muster muß werden auf der anderen Seite.
Der Konsul ging schneller. Er sah geradeaus und gähnte. Aber ehe er noch die Hand vor den Mund halten konnte, flog er der Länge nach hin. Er war über ein Hindernis gestolpert.
Der Konsul sprang auf. Er fand den Schalter nicht gleich. Als er das Licht andrehte, schlief Ellen noch immer. Ihr Mund stand offen. Sie lag auf dem Rücken und hatte die Fäuste geballt. Ihr Haar war geschnitten wie die Mähne eines Ponys, und auf dem Rand ihrer Mütze stand mit kleinen, goldenen Buchstaben »Schulschiff Nelson«. Sie lag zwischen dem Kap der Guten Hoffnung und der Freiheitsstatue und war nicht wegzubringen. Das war alles, was man mit einer Beule über dem linken Auge halbwegs ausnehmen konnte. Der Konsul wollte mit lauter Stimme etwas Unfreundliches sagen, preßte aber die Hand vor den Mund. Er hob seinen Hut vom Boden auf und streifte alles glatt. Und er kam ganz langsam auf Ellen zu. Sie atmete tief und schnell, als versäumte sie mit jedem Atemzug etwas viel Wichtigeres.
Der Konsul schlich auf den Fußspitzen rund um die Landkarte. Er bückte sich, hob Ellen sanft von der harten Welt und legte sie auf die Samtpolster. Sie seufzte mit geschlossenen Augen und grub den Kopf in seinen hellgrauen Mantel, einen runden, ganz harten Kopf. Als dem Konsul beide Füße eingeschlafen waren, nahm er Ellen auf die Arme, sperrte alle Türen wieder auf und trug sie vorsichtig in sein Zimmer.
Es schlug eins, die Stunde, zu der keine Uhr der Welt sich bewegen ließ, mehr zu sagen. Die Stunde, zu der es entweder schon zu spät oder noch zu früh ist, die Stunde nach zwölf. Ein Hund bellte. August. Auf einer Dachterrasse wurde noch getanzt. Irgendwo schrie ein Nachtvogel.
Der Konsul wartete geduldig. Er hatte Ellen in einen Lehnstuhl gelegt. Mit einer Zigarre zwischen den Fingern, die Beine weit von sich gestreckt, saß er ihr gegenüber. Er hatte die feste Absicht, geduldig zu sein. Er hatte sein ganzes Leben lang keinen unbekümmerteren Besuch empfangen.
Ellens Kopf lag auf der Lehne. Grenzenloses Vertrauen war in ihrem Gesicht. Die Stehlampe enthüllte es. Der Konsul zündete sich eine Zigarre an der andern an. Er holte ein großes Stück Schokolade aus dem Schrank und legte es vor Ellen auf den Rauchtisch; außerdem bereitete er einen Rotstift vor. Was er noch fand, war ein Berg bunter Prospekte. Doch das alles konnte Ellen nicht bewegen, zu erwachen. Ein einziges Mal drehte sie den Kopf auf die andere Seite – erregt richtete sich der Konsul auf – aber da schlief sie schon wieder.
Es schlug zwei. Noch immer rauschte der Brunnen. Der Konsul war todmüde. Erstaunt lächelte das Bild des verstorbenen Präsidenten auf ihn herab. Der Konsul versuchte diesen Blick zu erwidern. Aber es war ihm nicht mehr möglich.
Als Ellen erwachte, vermißte sie sofort die Landkarte. Keine Rede, daß ein Stück Schokolade und ein schlafender Konsul sie darüber hinwegtrösten konnten. Sie faltete die Stirn und zog die Knie an sich. Dann stieg sie über die Lehne und rüttelte den Konsul an den Schultern.
»Wo haben Sie die Landkarte hingetan?«
»Die Landkarte?« sagte der Konsul verwirrt, zog seine Krawatte zurecht und strich sich mit der Hand über die Augen.
»Wer bist du?«
»Wo ist die Landkarte?« wiederholte Ellen drohend.
»Ich weiß es nicht«, sagte der Konsul ärgerlich. »Oder meinst du, ich hätte sie versteckt?«
»Vielleicht«, murmelte Ellen.
»Wie kannst du das von mir glauben?« sagte der Konsul und streckte sich. »Welcher Mensch wollte die ganze Welt verstecken?«
»Da kennen Sie die großen Leute schlecht!«...
Erscheint lt. Verlag | 6.10.2015 |
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Reihe/Serie | Ilse Aichinger, Werke in acht Bänden (Taschenbuchausgabe) | Ilse Aichinger, Werke in acht Bänden (Taschenbuchausgabe) |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Ausgrenzung • Autobiographie • Bedrohung • Emigration • Halbjude • Hoffnung • Nationalsozialismus • Nürnberger Gesetze • Rassismus • Roman • Visum • Widerstand |
ISBN-10 | 3-10-403444-3 / 3104034443 |
ISBN-13 | 978-3-10-403444-7 / 9783104034447 |
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