Latte Macchiato (eBook)
240 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403216-0 (ISBN)
Tilman Allert, geboren 1947, studierte Soziologie an den Universitäten Freiburg, Tübingen und Frankfurt am Main. Nach seiner Promotion 1981 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen und habilitierte sich 1994. Seit 2000 ist er Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und lehrt als Gastdozent an den Universitäten von Tiflis und Eriwan sowie an der International Psychoanalytical University in Berlin. Er schreibt regelmäßig u.a. für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, die »Neue Zürcher Zeitung«, »Brand Eins« und »Die Welt«.
Tilman Allert, geboren 1947, studierte Soziologie an den Universitäten Freiburg, Tübingen und Frankfurt am Main. Nach seiner Promotion 1981 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen und habilitierte sich 1994. Seit 2000 ist er Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und lehrt als Gastdozent an den Universitäten von Tiflis und Eriwan sowie an der International Psychoanalytical University in Berlin. Er schreibt regelmäßig u.a. für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, die »Neue Zürcher Zeitung«, »Brand Eins« und »Die Welt«.
Unaufgeregt, aufmerksam und mit sprachlicher Eleganz widmet sich der Frankfurter Soziologe Tilman Allert den vermeintlich unbedeutenden Dingen des Alltags.
Latte Macchiato wird zum Zaubertrank für den Abschied von der Adoleszenz und der Mops zum Kuscheltier der kinderlosen Gesellschaft. Brillant!
Seine kurzen […] Feuilletons machen das Kleine groß – ganz in der Tradition von Georg Simmel, Siegfried Kracauer und Adornos ›Minima Moralia‹.
Tilman Allert ist ein feiner Beobachter und setzt aus sich ändernden Trink- und Essgewohnheiten, Formen des Feierns oder Redewendungen eine neue Soziologie unserer Zeit zusammen.
Tilman Allert beobachtet Phänomene des Alltags, klug, heiter, elegant formuliert und ungeheuer einleuchtend.
kluge Analysen unserer modernen westeuropäischen Welt.
Und so wohnt seinen feinsinnigen Reflexionen eine Melancholie inne, eine Wehmut über das Nichtanwesendsein.
konzentriert und belebend wie eine Espressobohne
3 Weihnachten feiern. Eine Typologie der Ritualität
Alle Jahre wieder – so lautet die magische Formel des Festes. Weihnachten ist kollektiver Gabentaumel, Weihnachten ist Glaubensfestigkeit durch bekundete Anwesenheit im Gottesdienst, Weihnachten ist Gabenflucht und Reisezeit, und nicht zuletzt ist Weihnachten das Fest der Konsumkritik. Wenn es die Klage nicht mehr gibt, gibt es den Dank nicht mehr. Wenn sich die Hoffnung auf die Wissenschaften richtet, dann hat der Glaube es schwer. Dennoch sind die Kirchen voll, etwa wegen der Kinder? Wegen des Konformitätsdrucks, weil es sonst nichts zu tun gibt und die Heizungen im Büro gedrosselt sind? Jenseits der Frage, ob die vollen Kirchen an Weihnachten die Malaise des christlichen Glaubens unter Beweis stellen oder ob in ihnen nicht gerade eine beeindruckende Evidenz für die Rückkehr zum Glauben zum Ausdruck kommt, bietet die Idee der Ritualität einen möglichen Zugang zum Verständnis. Weihnachten erscheint als dasjenige Fest im christlichen Kalender, das auf einzigartige Weise Ritualzumutung mit Ritualgenuss kombiniert.
Ob Festgegner, Festbefürworter oder Indifferente – im Austausch der Generationen erfahren die Menschen alle Jahre wieder im eigenen Lebensvollzug praktisch gewordene Soziologie: Weihnachten als ein Lehrstück für den Umgang mit elementaren Formen sozialen Lebens, für Ritualität als einer sozialen Tatsache. Georg Simmel hat die Geselligkeit – in ihren Ausdrucksgestalten vom Salon bis zur Party – als das Kunstwerk gedeutet, in dem die moderne Gesellschaft ihre eigene Funktionsweise spiegelt. Ähnlich erscheint das Weihnachtsfest als ein weiteres selbstgestaltetes Kunstwerk, an dem sich pure Sozialität bestaunen lässt.
So wie die Menschen über die Geselligkeit als Symbol der »Oberflächlichkeit des gesellschaftlichen Verkehrs«, wie Simmel schreibt, zu Recht und zu Unrecht klagen, so verhält es sich mit dem Weihnachtsfest und der ihm eingebauten Ritualität. Weihnachten ist Zumutung und Entlastung zugleich, darin liegt das Geheimnis seiner Anziehungskraft, seiner Unausweichlichkeit auch und gerade für diejenigen, die sich mit Ekelgefühlen vom Geschenkerausch abwenden und erhaben, dekoriert in Askese, in die letzten Winkel ihrer Einsamkeit oder Zweisamkeit zurückziehen.
Weihnachten als eine soziale Tatsache provoziert drei Handlungsmuster, die den normativen Ansturm von Außer-Alltäglichkeit aufgreifen: Naiv praktizierte, unbewusste Ritualität wäre die erste Variante. Wieso überhaupt Weihnachten gefeiert wird, eine solche Frage verbittet man sich. Traditional orientiert, in Konformität gegenüber dem Althergebrachten, »weil das einfach zum Leben dazugehört«, weil es Brauch und Sitte ist, so fügt sich der naive Weihnachtler den Zeitvorgaben des Adventskalenders, rückt ein in die Choreographie der ewig gleichen Verrichtungen am Vormittag des Heiligen Abends, dem Baumschmuck etwa – »Hing dieser Stern am Fenster, oder war der am Baum?« Töricht wäre es, die naive Praxis der Fügsamkeit als ein Zerrbild des Feierns oder gar als dessen Karikatur abzutun: Man fühlt sich wohl im Horizont eines Arrangements, das einem wie von Zauberhand die nächsten Schritte zu tun erlaubt, reflexionsentzogen, aber im Ergebnis so, dass eine gestaltete Ritualität entsteht.
Von diesem Typus, der empirisch vermutlich am häufigsten vorkommt, der sich dabei der Veranschaulichung des christlichen Festkanons – Gebet und Gesang und Lesung – bedienen, aber ebenso auf sie verzichten kann, unterscheiden wir die Weihnachtsflucht als die Flucht vor der Ritualität. Der Weihnachtsflüchtling folgt dem Muster einer entschlossenen Distanz; deren einfachste Form ist die Reise. Man schüttelt die Last der Regeln am besten auf den Malediven ab, kein Schnee, die Wahrnehmung bleibt frei von Autos mit aufs Dach gebundenen Bäumen. Die Not der Ritualzumutung macht erfinderisch und setzt die menschliche Phantasie für die Ausgestaltung freier sozialer Räume frei, am Heiligen Abend geht es zum Schnorcheln.
Diejenigen, die im Land bleiben, können sich austoben in all dem, was die Sozialität an Vermeidungsszenarien, an pointierter Regelverletzung und Mikro-Rebellion anbietet: Das kann die Party an Heiligabend sein, das besonnene Anschauen eines Tierfilms, sogar das ununterbrochene Quasseln während des Gottesdienstes – eine Nonkonformitätssteigerung; auf jeden Fall gilt: keine Geschenke, keine Gans, Baumverzicht und kein einziges Lied auf den Lippen.
Und schließlich der dritte Typus, die verstandene Ritualität. Handelnde nach diesem Muster folgen ohne Aversion den Gepflogenheiten der christlichen Tradition hierzulande, die in ihrer Eigenrationalität ausgelegt, anerkannt und auf diese Weise neu angeeignet werden können – Weihnachten erscheint hierbei als »heilige Zeit«: entweder dem christlichen Verständnis folgend oder auch im Lebensentwurf der säkularisierten Moderne, als sakralisierte Zeitlichkeit, als deren entweder gewünschte oder dankbar aufgenommene Ausdrucksgestalt sich die Möglichkeit zur Muße einstellt.
In der Feineinstellung der drei Muster des Handelns wäre noch nach Graden der Vehemenz zu unterscheiden: Lieder mit Inbrunst singen oder grimmig entschlossen tauchen, im Dämmerzustand das Vertraute zelebrieren oder in genau einem solchen Zustand auf nie Entdecktes stoßen, dies wären Beispiele. Nicht selten sind die Handlungsmuster unter den Generationen dynamisch konfliktgeladen oder in milder Toleranz verteilt. Was hingegen jenseits des knisternden Geschenkpapiers oder noch auf den fernen Malediven als irritierende Wirkung des Rituellen eintritt, ist der magische Raum des Zyklischen, der Wiederholung, des »Alle Jahre wieder«. Nicht die Progression, das Voranschreiten, das »Weiter so«, vielmehr die Zäsur liegt der normativen Kraft des Rituals zugrunde. Davon ist die salopp ausgesprochene »Auszeit«, die die Leute sich wünschen, die Zeit zwischen den Jahren, Anlass für Liegengebliebenes oder die Steuererklärung, nur ein Abklatsch.
Was den drei so unterschiedlichen Typen der Weihnachtsresonanz als Gemeinsames unterliegt, erschließt sich über die Konfrontation mit der Zäsur – darin liegt die Leistung des Rituals; es inszeniert das Zeitvergessen, genauer: Es tilgt Historizität und zelebriert den Traum ewiger Dauer. Das, was am Ritual die einen mit Genugtuung vollziehen, was andere in Panik versetzt, mit der Leere konfrontiert und wieder andere zur Reflexion veranlasst, ist das voraussetzungslose Gegebensein der Sozialität, der Zauber purer Präsenz, das Aufgetretensein des Gegenübers in der Welt, als deren Teil man sich wahrnimmt.
Im Sinnhorizont der Ritualität öffnet sich nun, mit der Gabe und dem Kind als dem Neuen, der Blick auf zwei Besonderheiten des Weihnachtsfestes, die noch im Rausch des Schenkens erkennbar sind. Dem Leben als etwas Gegebenem begegnen, »ich komme, bringe und schenke dir, was du mir hast gegeben«, darin liegt das magische Potential dieser Tage. Aber nicht nur das. In der Erfahrung des Zyklischen, in der Ritualität der Wiederholung lässt sich die kontrastierende Version menschlicher Eigenzeit nicht gänzlich ausblenden, die Sequentialität, das Eigenrecht der Entwicklung und der in die Zukunft gerichteten unerschöpflichen Möglichkeiten.
Seit den Arbeiten des Anthropologen Claude Lévi-Strauss wissen wir, wie das Zeitbewusstsein das Handeln bestimmt. Gesellschaften, die der Sequentialität gegenüber der Zyklizität den ethischen Vortritt lassen, müssen mit Folgeproblemen rechnen. Denn beide gehören zusammen, gerade in ihrer Kontrastivität verweisen sie aufeinander. Geraten sie aus dem dynamischen Gleichgewicht, entsteht das Risiko einer Zeitvergessenheit im mentalen Haushalt der Generationen. Neben der Gabe als dem zentralen mythischen Band, das sich um die oben unterschiedenen Typen der Festgestaltung legt, steht der symbolische Raum des Kindes, dessen Ankunft die christliche Tradition mit einem grandiosen mythischen Zauber versehen hat: »Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben«, das Kind als Symbol der Ankunft und des Anspruchs darauf, die Zyklizität der Zeit zu durchbrechen, Entwicklung zu ermöglichen. Als die leibliche Veranschaulichung der Gebürtlichkeit, als die Hannah Arendt eindrucksvoll die menschliche Existenz definiert, steht das Kind als das Neue vor der Tür der angehaltenen Zeit, »Ich steh an deiner Krippen hier«. Ist es abwegig, an den Rückgang der Geburten zu denken? Konfrontiert mit der Ritualität und der angehaltenen Zeit, schreibt sich im kollektiven Unbewussten moderner Gesellschaften der Verzicht auf Kinder als ein Schatten gewonnener Optionen ein. Er erscheint als ein Verzicht auf Zeitlichkeit. Der Geburtenschwund, so jedenfalls die drückende Evidenz aus den Familienministerien, scheint durch unzureichende Transferzahlungen nicht erklärt – näher liegt die Deutung, dass ihm ein geheimer Neid auf die Zukunft zugrunde liegt. Statt sie den Kindern zu öffnen, scheint die Multioptionsgesellschaft der Moderne in der anhaltenden Selbstsuggestion, alles und jedes sei vereinbar und ohne Verzicht, auch die Zukunft noch für den eigenen Lebensentwurf reservieren zu wollen. Im Blick auf die europäischen Nachbarn beruhigt man sich dann damit, dass es andernorts nicht anders geht. In Kindern jedoch, als den Trägern des Neuen, kündigt sich Abschied an, ihre Geburt symbolisiert in der Ankunft den Wechsel der Generationen, für die Eltern wird der Schmerz des Vergehens, der eigenen Endlichkeit spürbar. Das Rituelle der heiligen Zeit konfrontiert mit dem Vorgängigen der Sozialität, die Gabe erscheint als Antwort auf ein Gegebensein und zugleich als...
Erscheint lt. Verlag | 20.8.2015 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie | |
Schlagworte | abgefahren • Abitur-Feier • Ächtung • Adorno • Ahnung • Alltag • Angela Merkel • Argumentationsraum • Artenwechsel • Asketische • Aufdringlichkeit • Außendarstellung • authentische • Authentizität • Autogesicht • Auto-Gesicht • Besucherstatistik • Binnenordnung • Binnenraum • Blitzlichtgewitter • Bonjour • Botschaft • clouds • Dauerpräsenz • Deutschland • Ehemalige • Eheschließung • Eingangshalle • Eldeer • Elder Statesman • Endspiel • Erdmännchen • Erwachsenenstatus • Evakuierung • Exzellenz • Exzellenzkriterium • Fächer • Fahrstuhl • Familienmythos • Figur • Floskel • Flügeltüre • Frontalität • Funktionalismus • Gabenflucht • Gabentaumel • Gamardschobad • Georgien • Georg Simmel • Gesprächskultur • glaubensfestigkeit • Gottesdienst • Göttliche • Graffiti • Grandhotel • Gran-Hotel • Gruß • Grußende • Grußform • gut aufgestellt • Gymnasium • Handlungszumutung • Hausmeister • Herrgottsfrühe • Insolvenz • Intellektualgestalt • Interdisziplinarität • Intransparenz • Islam • It?s • Jil Sander • Jugendsprache • Kinderzimmer • Kleidung • Komfortversprechen • Konflikt • Konsumkritik • Koran • Korruption • Krähe • Kreativität • Krise • Kühlergrill • Kulturbedeutung • Kurzformel • Latte • Lehrende • Leistungsfähigkeit • macchiato • Mahl • Marcel Mauss • Maske • Masken • Maskentragen • Max Weber • Meerjungfrau • Mobilitätspotential • Mode • modische • Mops • Mummenschanz • Musikhochschule • Musik-Hochschule • Nationalsozialismus • Naturkatastrophe • Orangina • Performanz • Perspektive • Pfeffer-Mühle • Pfefferstreuer • Pleitegeier • Populärpsychologie • Problembehandlung • Pudel • raffinesse • Rahmung • Raumdurchquerung • raute • Regionalstolz • Restaurant • Ritual • Ritualität • Roland Barthes • Sachbuch • Sagenhaft • Salz • Sammlung • Scharfsinn • Schauspielerei • Schildkrötentempo • Schrei • Schulhof • Schwermut • Schwimmbad • Schwimmer • Selbstentblößung • Selbstreflexion • Selbstverständnis • Semantik • Sensationelle • Sensibilität • Sinnstruktur • Soziologie • Soziotop • Spezialisierung • Spielzeugkraftwerk • Spionage • Streit • Studiengang • Sublimierte • Sunniten • Theodor W. Adorno • Thomas Bernhard • Tischflucht • Tischgemeinschaft • Turmspruch • Turn • Typologie • Übergang • Überzeichnung • Umbau • Ungleichheit • Unwetter • Verfeinerung • Vergessenheit • Vermißen • Waffenhandel • Weihnachten • Wiederaufbau • Wissensgesellschaft • Zeitalter • Zeitgefühl • Zusammenkunft • Zuwendung • Zwiebelturm |
ISBN-10 | 3-10-403216-5 / 3104032165 |
ISBN-13 | 978-3-10-403216-0 / 9783104032160 |
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