Der goldene Handschuh (eBook)
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-05081-5 (ISBN)
Der Schriftsteller, Musiker und Schauspieler Heinz Strunk wurde 1962 in Bevensen geboren. Seit seinem ersten Roman Fleisch ist mein Gemüse hat er 14 weitere Bücher veröffentlicht. Der goldene Handschuh stand monatelang auf der Bestsellerliste; die Verfilmung durch Fatih Akin lief im Wettbewerb der Berlinale. 2016 wurde der Autor mit dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis geehrt. Seine Romane Es ist immer so schön mit dir und Ein Sommer in Niendorf waren für den Deutschen Buchpreis nominiert.
- Spiegel Jahres-Bestseller: Belletristik / Hardcover 2016 — Platz 19
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 31/2016) — Platz 20
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 29/2016) — Platz 20
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 27/2016) — Platz 18
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 26/2016) — Platz 17
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 25/2016) — Platz 14
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 24/2016) — Platz 13
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- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 22/2016) — Platz 11
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 21/2016) — Platz 10
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 20/2016) — Platz 11
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 18/2016) — Platz 7
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 17/2016) — Platz 7
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 16/2016) — Platz 6
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 15/2016) — Platz 5
Der Schriftsteller, Musiker und Schauspieler Heinz Strunk wurde 1962 in Bevensen geboren. Seit seinem ersten Roman Fleisch ist mein Gemüse hat er 14 weitere Bücher veröffentlicht. Der goldene Handschuh stand monatelang auf der Bestsellerliste; die Verfilmung durch Fatih Akin lief im Wettbewerb der Berlinale. 2016 wurde der Autor mit dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis geehrt. Seine Romane Es ist immer so schön mit dir und Ein Sommer in Niendorf waren für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Teil II City Nord
Eine gemeine Finte, der klanglose, gewöhnliche Name. Petra Schulz ist eine raffinierte Mischung aus Aristokratentochter und Vorstadtschlampe. Kullerrunde Kinderaugen in einem ordinären Backpfeifengesicht, teuer und billig, verdorben und unschuldig zugleich. Dabei ist sie erst siebzehn und hat höchstens sechzig, siebzig Prozent ihres Potenzials erreicht.
WH 3 hätte dieses Geschöpf aus tausendundeiner Nacht nie kennengelernt, wäre da nicht die Sache mit Flamingo gewesen. Der Hund von Hausmeister Wohlgemuth ist der hässlichste Hund der ganzen Gegend, vielleicht sogar der ganzen Stadt, eine bis in die kleinste Kleinigkeit und Einzelheit missglückte Kreuzung aus anderen missglückten Kreuzungen. Noch dazu ein ganz schlimmer Stinker. Auch der Tierarzt hat keine Erklärung dafür, warum das zerfledderte Hundchen tausend Meilen gegen den Wind dünstet. Wenn es nicht gerade minus dreißig Grad hat, muss Flamingo draußen bleiben. Warum Herr Wohlgemuth dieses bedauernswerte Exemplar von einem Hund mit einem so unpassenden Namen bedacht hat, bleibt sein Geheimnis. Herr Wohlgemuth ist ein netter Mann, der weder Bosheit noch Zynismus kennt. Nur ganz im Geheimen spielt er mit dem Gedanken, den Köter zum Ferienbeginn an einer Autobahnraststätte anzubinden und seinem Schicksal zu überlassen. Wobei er sich das Anbinden schenken könnte, denn Flamingo ist so dumm, dass er stehen bleiben und auf seine Abholung warten würde. Aber der Hausmeister bringt es einfach nicht übers Herz, und da das Ehepaar Wohlgemuth kinderlos geblieben ist, betrachtet er es als seine ihm vom Schicksal zugedachte Aufgabe, sich um diese ärmste aller Kreaturen zu kümmern.
Letzter Schultag, Zeugnisausgabe, heißester Tag des Jahres. Starr steht die Sonne, als halte jemand die Erdachse an. Es knallt herunter, von oben, von unten, von hinten, von vorn, die Sonne knallt, die Sonne knallt, die Sonne knallt, und wer nicht das Glück hat, ans Meer oder an sonst ein Gewässer fahren zu können, dem stehen schlimme Wochen bevor. WH 3 stehen nicht nur schlimme, sondern furchtbare Wochen bevor, denn seine Akne ist entzündet wie noch nie, sie steht lichterloh in Flammen, das Fleisch selber brennt, und wenn alles brennt, empfindet er seine Geilheit als noch quälender und hoffnungsloser. Vor kurzem hat er ein Mädchen vielleicht eine Spur zu lange angeglotzt. Und was sagt die zu ihm? «Bist du nicht ganz schussecht?» Ohne Mitleid, ohne Erbarmen. Bist du nicht ganz schussecht. Mehr Wahrheit geht nicht.
Außerdem ist er, auch nach eigener Einschätzung, noch mal hässlicher geworden. Es wird ihm also, wie im vergangenen und vorvergangenen Sommer, nichts anderes übrigbleiben, als sich in den schattigen Gewölben der elterlichen Villa zu verkriechen. Er weiß nicht, was schlimmer ist, Schule oder Ferien. Da es nichts, aber auch gar nichts zu tun gibt, trödelt er, als gelte es, einen Trödelweltrekord aufzustellen. Er hat das Schulgelände bereits verlassen, als ihm einfällt, dass er etwas (Hefte) vergessen hat. Also zurück ins Klassenzimmer, dann fällt ihm im Treppenhaus ein, dass er etwas noch Unwichtigeres (Geodreieck) vergessen hat, wieder zurück, dann vergisst er auf halbem Wege, was er eigentlich wollte, wenig später fällt es ihm wieder ein, ein sinnloses Hin und Her, elendes Elend. Irgendwann hat er doch alles beisammen und watschelt schweißüberströmt über den kochenden Asphalt des verwaisten Schulgeländes. Die brühheiße Luft lastet auf der Haut, als wäre sie ein fester Gegenstand.
Flamingo steht wie festgeschraubt vor seiner Hundehütte. Er ist vollkommen erschöpft, trotz Hitze zittert er mit aller Verzweiflung, zu der ein Lebewesen fähig ist. Was soll das? Herr Wohlgemuth wird ihn wohl kaum dort hingestellt haben. Der arme Flamingo ist über und über und über mit Fliegen bedeckt, unzählige, tausend, fünftausend, zehntausend oder noch mehr Insekten, die in Klumpen, Trauben, Nestern an ihm kleben, so was hat man überhaupt noch nicht gesehen. Sie umschwärmen ihn wie faules Obst, sie kriechen auf ihm herum, sitzen an den Augen, im Fell, in den Ohren, auf den Geschlechtsteilen, im Maul, überall. Weil Flamingo für zehn stinkt, fühlen sich die Viecher außerordentlich wohl, sie berauschen sich förmlich an seinem Verwesungsgeruch. Flamingo steht reglos auf der Stelle und hofft, dass sein kleines Hundeleben bald verstreicht.
Als er WH 3 sieht, lächelt er ihn an. Es ist wirklich ein Lächeln, ein schiefes, verzweifeltes Hundelächeln, Flamingo lacht ihm zu, während ihn die Fliegen auffressen. WH 3 kann nicht anders, als das zitternde Tier auf den Arm zu nehmen. Es stinkt bestialisch, der Hund dünstet sicher das Zehnfache seines Körpergewichts aus. Jetzt sind die Fliegen auch an WH 3 dran. Ihr Summen ist aggressiv, rasend, weil er ihnen die sicher geglaubte Beute entrissen hat. WH 3 läuft mit Flamingo um den Schulhof, er dreht in der prallen Sonne eine Runde nach der nächsten, bis der Hund so gut wie fliegenfrei und er selbst vollkommen erschöpft ist. Er trägt ihn zur Hundehütte und begießt ihn mit Resten aus seiner Wasserflasche. Mehr kann er für den Hund nicht tun.
Auch Petra Schulz ist spät dran heute. Allerdings nicht wegen Trödelns, sondern weil ihr wegen anhaltend schlechter Leistungen die Leviten gelesen wurden. Als ihre Klassenlehrerin sie endlich in die Ferien entlässt, wird sie auf dem Weg über den Hof Zeugin des Dramas. Wie sich hier ein armes Exemplar von Mensch mit einem noch ärmeren Exemplar von Hund solidarisiert, bricht ihr fast das Herz. Sie geht eine unter WH 3 und kennt ihn nur vom Sehen; wer kennt ihn nicht vom Sehen? Wenn man einen nur vom Sehen kennt, dann ist es WH 3. Aus Neugierde folgt sie ihm, beschleunigt irgendwann ihren Schritt, bis sie ihn auf Höhe des Kiosks eingeholt hat. «Hallo», sagt sie. «Bist du auch so spät dran?» Und dann: «Wir kennen uns doch. Haben wir wohl denselben Weg.»
WH 3 trifft das gänzlich unvorbereitet. Er sieht aus, wie er aussieht, also noch schlimmer als sonst: Das Hemd, zur Windel geworden, klebt feucht und formlos am Körper, die dünnen Haare sind klitschnass. Seine Augen sind ausgetrocknet, jeder Lichtstrahl tut weh. Am Morgen dauert es manchmal eine Viertelstunde, bis er sie aufbekommt, und eine weitere Viertelstunde, bis er halbwegs sehen kann. Es ist das allererste Mal in seinem Leben, dass er von einem Mädchen angesprochen wird, und dann noch von so einer. Er bekommt keinen Ton heraus und hat nur einen einzigen Wunsch, dass nämlich alles irgendein dummes Missverständnis ist und sie ihn für alle Zeiten in Ruhe lässt. Von wegen. Petra stellt sich an den Kiosk und kauft eine Packung Lux-Zigaretten, außerdem zwei Cola. Sie öffnet die Flaschen mit einem Plastikfeuerzeug, toll, wie sie das macht, und reicht ihm eine. Danke. Sie bietet ihm eine Zigarette an. Danke, nein. WH 3 raucht nicht, was ihm furchtbar peinlich ist, noch nicht mal das kann er. Er nimmt sich vor, unverzüglich damit anzufangen, egal, wie das hier ausgeht. Petra raucht, ihre Art zu inhalieren, ist einmalig. WH 3 tippelt derweil von einem Bein aufs andere. Er findet keinen richtigen Stand. Er kann buchstäblich nichts, noch nicht mal vernünftig stehen. Petra raucht, kaut gleichzeitig Kaugummi und macht dabei auch noch Blasen. Ein Naturtalent. Ein Wundermensch aus blühendem Fleisch. Eine Frucht, aus der man eine Million Becher Saft pressen kann. Eine Herausforderung zum Glück. Andere würden schreien vor Verheißung, WH 3 nicht. Was in Gottes Namen will die, will die, will die von ihm?! Er kennt den Grund ja wirklich nicht. «Stört es dich, wenn ich noch eine rauche? Oder musst du gleich los?» Das fragt sie ihn ernsthaft. Sie ihn! Er nickt, weil er sich für seine brüchige, vergrätzte, kaputte Roboterstimme schämt.
Sie steckt sich mit der glühenden Kippe die nächste an und trinkt einen Schluck Cola. Das macht er auch. Einen Schluck trinken, das geht. Er stellt sich vor, mit ihr im Winter hier zu stehen, wenn er nicht so eklig schwitzt. Sie würde rauchen und von der Kälte blaue Finger bekommen. Er würde ihre Hand nehmen und wärmen. Er stellt sich die Wärme ihrer Hand in der seinen vor. Mehr würde er gar nicht wollen.
Petra streicht sich die Haare aus dem Gesicht und lässt die erst halb aufgerauchte Zigarette fallen, dann laufen sie weiter. Es ist angenehm, das gemeinsame Gehen. Sie erklärt etwas umständlich, wo sie wohnt, dass sie mit dem Bus zweimal umsteigen müsse. Nur mit Mühe kann er ihren Ausführungen folgen. Wieso wohnt die so weit weg? Da muss es doch auch eine Schule geben. Egal. Er nimmt sich vor, rauchen zu lernen, und stehen, und gucken. Gleich nachher wird er damit anfangen, er hat ja den ganzen Sommer über Zeit. Plötzlich rennt sie los, um ihren Bus zu erwischen. Beim Einsteigen winkt sie ihm noch zu und ruft irgendwas. WH 3 winkt zurück. Gut, gut, das ist ja noch mal ganz gut gegangen, denkt WH 3, ein Glück.
Im neuen Schuljahr stehen sie dann öfter in den Pausen beisammen, sie gehen gemeinsam zum Kiosk, oder er begleitet sie zur Bushaltestelle. Er ist glücklich, in ihrer Nähe sein zu dürfen. Manchmal berührt sie ihn, zufällig, einmal streicht sie mit ihrer Hand kurz über seine. Die Sommerferien hat er dazu genutzt, rauchen zu lernen, er hat sich sein erstes Paar Blue Jeans angeschafft und noch allerlei andere nützliche Dinge. Er weiß, dass es noch lange nicht genug ist, noch lange...
Erscheint lt. Verlag | 26.2.2016 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 70er • Alkoholismus • Armut • Berühmte Kriminalfälle • Deutscher Sozialroman • deutsche Verbrechen • dunkler humor • Fatih Akin • Fritz Honka • Hamburg • Hamburg Roman • Kino • Kriminalliteratur • Kriminalpsychologie • Psychopath • Reeperbahn • Rotlichtviertel • Serienkiller • Serienmörder • Siebziger Jahre • St. Pauli • Thriller • True Crime • Verfilmung • Wahre Kriminalgeschichte • Wahre Verbrechergeschichte |
ISBN-10 | 3-644-05081-3 / 3644050813 |
ISBN-13 | 978-3-644-05081-5 / 9783644050815 |
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