Der Anwalt des Königs (eBook)
656 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403704-2 (ISBN)
C.J.Sansom studierte Geisteswissenschaften und promovierte im Fach Geschichte. Nach einem Jura-Studium arbeitete er als niedergelassener Rechtsanwalt in Sussex, bevor er sich hauptberuflich dem Schreiben zuwandte. Insgesamt sind sieben Bücher in der Matthew-Shardlake-Serie erschienen, die weltweit über drei Millionen mal verkauft wurden. Der Stoff wurde als »Shardlake« für das Fernsehen verfilmt. Bis zu seinem Tod im April 2024 lebte der Autor in Brighton.
C.J.Sansom studierte Geisteswissenschaften und promovierte im Fach Geschichte. Nach einem Jura-Studium arbeitete er als niedergelassener Rechtsanwalt in Sussex, bevor er sich hauptberuflich dem Schreiben zuwandte. Insgesamt sind sieben Bücher in der Matthew-Shardlake-Serie erschienen, die weltweit über drei Millionen mal verkauft wurden. Der Stoff wurde als »Shardlake« für das Fernsehen verfilmt. Bis zu seinem Tod im April 2024 lebte der Autor in Brighton. Irmengard Gabler war nach dem Studium der Anglistik und Romanistik in Eichstätt und London einige Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für romanische Literaturwissenschaft an der Universität Eichstätt tätig. Seit 1993 übersetzt sie Belletristik und Sachbücher aus dem Englischen, Französischen und Italienischen (u.a. Cristina Campo, Serena Vitale, Philippe Blasband, Christopher J. Sansom, John Dickie, Adam Higginbotham). Die Übersetzerin lebt in München.
Kapitel Eins
Es war dunkel zwischen den Bäumen, nur das Mondlicht sickerte fahl durch die nahezu kahlen Zweige. Der Boden war dicht mit welken Blättern übersät, die den Hufschlag unserer Pferde dämpften, und wir wussten nicht, ob wir von der Straße abgekommen waren. Ein elender Ritt, wie Barak eben bemerkt hatte, als er wieder einmal über die unwegsame Gegend maulte, in die ich ihn verschleppt hatte. Ich hatte dem nichts erwidert, denn ich war hundemüde, mein armer Rücken wund und meine Beine in den schweren Stiefeln brettersteif. Außerdem hatte ich andere Sorgen, denn die seltsame Pflicht, die vor uns lag, lastete mir schwer auf der Seele. Ich nahm die Zügel in eine Hand und griff mit der anderen in die Manteltasche, nach dem Siegel des Erzbischofs; dieweil ich es mit den Fingern umschloss wie einen Talisman, erinnerte ich mich an Cranmers Versprechen: »Damit seid Ihr gegen Gefahr gefeit.«
Ein schwerer Schicksalsschlag lag hinter mir, denn sechs Tage zuvor hatte ich in Lichfield meinen Vater zu Grabe getragen. Seitdem waren Barak und ich fünf Tage in stetem Trab gen Norden geritten, obschon die Wege nach diesem feuchten Sommer des Jahres 1541 in denkbar schlechtem Zustand waren. Wir durchritten ein wildes Land: In vielen Dörfern standen noch die alten Langhäuser aus Lehm und Stroh, in denen Mensch und Vieh beisammen hausten. An diesem Nachmittag hatten wir bei Flaxby die Große Straße nach Norden verlassen. Barak wollte einkehren und nächtigen, aber ich bestand darauf, den Ritt fortzusetzen, nötigenfalls die ganze Nacht. Wir mussten uns sputen, der folgende Tag war der zwölfte September, und wir mussten vor dem König unser Ziel erreichen.
Die Straße hatte sich jedoch bald als so unwegsam erwiesen, dass wir sie bei Einbruch der Dunkelheit gegen einen trockeneren Pfad eintauschten, der nach Nordosten schwenkte, durch dichtes Waldland und über kahle Stoppelfelder, auf denen die Schweine wühlten.
Immer dichter standen die Stämme, durch die wir uns mit Mühe einen Weg bahnten. Einmal kamen wir vom Wege ab, und es war verteufelt schwer, ihn in der Dunkelheit wiederzufinden. Alles war still, bis auf das Flüstern fallender Blätter und das gelegentliche Knacken dürrer Zweige, wenn ein Keiler oder eine Wildkatze vor uns Reißaus nahm. Die Pferde, beladen mit den Satteltaschen, in die wir unsere Kleider und was sonst noch unentbehrlich war gepackt hatten, waren ebenso erschöpft wie Barak und ich. Ich konnte Genesis’ Müdigkeit spüren, und Sukey, Baraks feurige Stute, war’s zufrieden, meinem Wallach gemächlich hinterherzutrotten.
»Wir sind vom Weg abgekommen«, maulte er.
»In der Herberge hieß es, wir sollten dem breiten Pfad gen Süden folgen. Es wird ohnehin bald Tag«, sagte ich. »Dann werden wir ja sehen, wo wir sind.«
Barak ließ ein verdrossenes Knurren hören. »Wahrscheinlich sind wir längst in Schottland. Als Nächstes wird man uns überfallen und Lösegeld für uns fordern.« Ich sagte nichts, weil ich sein Lamentieren satt hatte, und so ritten wir schweigend weiter.
Meine Gedanken kehrten zum Begräbnis meines Vaters zurück, zu den wenigen Menschen, die am Grabe gestanden, als der Sarg in die Erde gesenkt worden war. Meine Base Bess hatte ihn tot im Bett vorgefunden, als sie ihm die Morgensuppe brachte.
»Ich wusste ja nicht, wie krank er war!«, hatte ich ihr beteuert, als wir anschließend auf den Hof zurückgekehrt waren. »Ich hätte mich um ihn kümmern müssen.«
Sie schüttelte müde den Kopf. »Du warst eben zu lange fort. Über ein Jahr.« Ich sah den Vorwurf in ihren Augen.
»Ich hatte es auch nicht leicht, Bess. Aber ich wäre doch gekommen.«
Sie seufzte. »Seit der alte William Poer letzten Herbst gestorben ist, war dein Vater ein gebrochener Mann. Die beiden hatten so schwer gerackert in den letzten Jahren, damit der Hof noch etwas abwarf; mit Williams Tod hatte ihn der Mut verlassen.« Nach kurzer Pause meinte sie: »Ich hab ihm geraten, er soll sich doch an dich wenden, aber das wollte er nicht. Unser Herrgott prüft uns wahrlich schwer. Letzten Sommer die Dürre, heuer die Überschwemmung. Ich glaube, dein Vater empfand es als Schmach, dass er in Geldnöten war. Da hat ihn das Fieber erwischt.«
Ich nickte. Dass der Hof, auf dem ich aufgewachsen war und der jetzt mir gehörte, tief verschuldet war, hatte mich schwer getroffen. Mein Vater war fast siebzig gewesen, sein Verwalter William nicht viel jünger. Sie hatten das Land nicht mehr ordentlich bestellen können, und die letzte Ernte war kümmerlich gewesen. Um noch über die Runden zu kommen, hatte er bei einem reichen Landeigentümer in Lichfield eine Hypothek aufgenommen. Ich hatte es erst durch ein Schreiben des Hypothekars erfahren, welches mich unmittelbar nach Vaters Tod erreichte und in dem bezweifelt wurde, dass der Wert meines Landes die Schuld abdecken würde. Wie viele Landadlige damals versuchte auch dieser, seinen Grundbesitz zu mehren, um darauf Schafe zu halten, und dies gelang am besten, indem er älteren Bauern zu Wucherzinsen Geld borgte.
»Sir Henry, dieser Blutsauger«, sagte ich voller Verbitterung zu Bess.
»Was willst du jetzt tun? Dich geschlagen geben?«
»Keinesfalls«, sagte ich. »Ich werde Vaters Namen nicht entehren. Ich werde die Hypothek bezahlen.« Weiß Gott, dachte ich, das bin ich ihm schuldig.
»So gefällst du mir.«
Ein unwilliges Schnauben hinter mir riss mich aus meinen Gedanken. Barak hatte Sukey gezügelt, sie zum Stehen gebracht. Ich hielt ebenfalls inne und drehte mich unbehaglich im Sattel um. Seine Gestalt und die Silhouetten der Bäume waren schon schärfer geworden, langsam graute der Morgen. Er deutete nach vorn. »Seht doch, dort!«
Vor uns lichtete sich der Wald. In der Ferne sah ich tief am Himmel ein rotes Licht.
»Da ist es ja!«, rief ich triumphierend. »Das Licht, nach dem wir Ausschau halten sollten; man hat es auf eine Kirchturmspitze gesetzt, um Reisenden den Weg zu weisen. Ich hatte recht, dies hier ist Galtres Forest!«
Wir ritten aus dem Wald. Ein kalter Wind blies vom Fluss herauf, als der Himmel sich lichtete. Wir hüllten uns fester in die Mäntel und trabten hinunter nach York.
Der Weg in die Innenstadt war mit Packpferden und Karren versperrt, die Güter aller Art geladen hatten. Einige Fuhrwerke schafften ganze Baumstämme in die Stadt, welche gefährlich weit über die Ladeflächen hinausragten. Vor uns erhoben sich die mächtigen Mauern der Stadt, schwarz vom Rauch vieler Jahrhunderte, und dahinter strebten zahllose Kirchtürme gen Himmel, die allesamt von den stolzen Zwillingstürmen des Yorker Münsters überragt wurden. »Hier geht es zu wie auf dem Wochenmarkt im Londoner Cheapside«, stellte ich fest.
»Man bereitet sich auf die Ankunft des Königs vor.«
Wir kamen nur langsam weiter, so dicht war das Gedränge. Verstohlen musterte ich meinen Begleiter. Es lag jetzt über ein Jahr zurück, dass ich Jack Barak nach der Hinrichtung seines früheren Brotherrn als Gehilfen in die Kanzlei aufgenommen hatte. Als ehemaliger Straßenjunge, der im Auftrag Thomas Cromwells zweifelhafte Botengänge ausführen musste, war er, wenn auch schlau und gottlob des Lesens und Schreibens mächtig, doch eine sehr ungewöhnliche Wahl. Dennoch hatte ich meine Entscheidung noch keinen Tag bereut. Er hatte sich gut eingefügt und als ein gelehriger Schüler erwiesen. Und wenn es galt, Zeugen ins Verhör zu nehmen, ihnen Geheimnisse aus der Nase zu kitzeln, konnte ihm keiner das Wasser reichen. Seine kritische Haltung unserem Rechtssystem gegenüber war ein nützliches Korrektiv, wenn mein Enthusiasmus mir wieder einmal den Blick vernebelte.
In den vergangenen Monaten erschien mir Barak jedoch oftmals bedrückt. Zuweilen vergaß er sich ganz und brachte mir denselben rüpelhaften Spott entgegen wie zu Beginn unserer Bekanntschaft. Da ich befürchten musste, er sei der Stubenhockerei überdrüssig geworden, hoffte ich, ihn mit diesem Ritt nach York wieder aufzumuntern. Er hatte jedoch wie alle Londoner gewaltige Vorurteile gegen den Norden und seine Bewohner und fast die gesamte Wegstrecke hier herauf nichts als geklagt und geknurrt. Jetzt schaute er missmutig nach allen Seiten, argwöhnisch gegen jeden.
Einzelne Häuser säumten die Straße, bis rechts von uns eine hohe, mit Zinnen bewehrte Mauer auftauchte, dahinter ein gewaltiger Kirchturm. Auf der Mauer patrouillierten Wachtposten; sie trugen eiserne Helme und die weißen Waffenröcke mit dem roten Malteserkreuz der verlässlichen Langbogenschützen. Statt mit Pfeil und Bogen waren sie jedoch mit Schwertern und furchterregenden Spießen bewaffnet; einige hatten sogar lange Vorderlader über der Schulter hängen. Das Lärmen und Schlagen jenseits der Mauer tönte bis heraus auf die Straße.
»Das ist wohl St Mary’s, die ehemalige Abtei, in der wir Quartier beziehen«, sagte ich. »Offenbar ist man schon emsig bei den Vorbereitungen für die Ankunft des Königs.«
»Sollen wir unsere Taschen abladen?«
»Nein, zuerst suchen wir Bruder Wrenne auf, dann reiten wir nach York Castle.«
»Den Gefangenen besuchen?«, fragte er leise.
»Genau.«
Barak blickte die Mauer empor. »St Mary’s ist gut bewacht.«
»Der König scheint sich nicht ganz sicher, ob er auch willkommen ist. Wen wundert’s.«
Ich hatte leise gesprochen, aber der Mann vor uns, der ein mit Getreidesäcken beladenes Packpferd am Zügel führte, drehte sich um und musterte uns scharf. Als Barak ihn anfunkelte, senkte der andere den Blick. Möglicherweise war er einer der vielen Spitzel des Kronrats, die ihre Augen und Ohren wahrhaft überall hatten.
»Vielleicht solltet Ihr die Robe anlegen«,...
Erscheint lt. Verlag | 23.7.2015 |
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Reihe/Serie | Matthew Shardlake | Matthew Shardlake |
Übersetzer | Irmengard Gabler |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane | |
Schlagworte | Anwalt • Bücher für Männer • Castle Tower • Glaser • Heinrich VIII • Historischer Kriminalroman • Hull • Jurist • Kirchenfenster • London • Matthew Shardlake • Mittelalter • Tower von London • Whitehall • York • York Castle |
ISBN-10 | 3-10-403704-3 / 3104037043 |
ISBN-13 | 978-3-10-403704-2 / 9783104037042 |
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