Zehn zärtliche Kratzbürsten (eBook)

(Autor)

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2015 | 1. Aufl. 2015
270 Seiten
Bastei Lübbe (Verlag)
978-3-7325-1270-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zehn zärtliche Kratzbürsten - Arto Paasilinna
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Geschäftsführer Rauno Rämekorpi feiert seinen sechzigsten Geburtstag. Gratulanten gibt es viele, und so häufen sich Blumensträuße und Geschenke. Schade nur, dass seine Frau auf Blumen allergisch ist.

Die Blütenpracht muss also weg, jedoch keinesfalls auf den Müll! So beginnt Rauno eine Fahrt durch Helsinki, und mit einem Strauß in der Hand stattet er seinen verflossenen Liebschaften einen Besuch ab ...

1

Annikki

Der Tod schnauft uns entgegen wie eine unheimliche Dampflok, die alles auf ihrem Weg zermalmt, und keiner kann dem entkommen. Auf den Zug ins Totenreich wird jedermanns Leiche irgendwann aufgeladen, auch wenn der Fahrplan sich manchmal ändert. Vor dieser letzten Reise steht jedoch das Alter, und davor die späten mittleren Jahre. Und die beginnen, wenn der Mensch sechzig wird. Zu diesem Zeitpunkt sollte ein jeder, und besonders der Mann, sich bereithalten und auf die Abfahrt seines Zuges warten, sollte sich läutern und zur Ruhe kommen. Doch längst nicht alle tun dies.

Mit dampfendem Rücken verließ Direktor Rauno Rämekorpi die Sauna im Obergeschoss seines Reihenhauses und trat auf den Balkon hinaus, um sich abzukühlen. Unbekleidet stand er da und betrachtete den grauen Finnischen Meerbusen, der vor Westend in Espoo wogte. Es war Freitagmorgen, der siebte September. Hinter Rämekorpi lagen sechzig raue, rastlose und auch merkwürdige Jahre, vor sich hatte er zehn, hoffentlich zwanzig. Was würde der Rest des Lebens mit sich bringen, was konnte er noch erwarten, was musste er unbedingt noch tun? Vor sechzig Jahren, 1941, war Rauno im Dorf Riipinen, Gemeinde Sodankylä, zur Welt gekommen. Die Deutschen hatten Lappland besetzt. An allen Fronten hatten die Kämpfe des zweiten Weltkriegs getobt.

Am Himmel schrien Kraniche. Die großen Vögel schwebten im Kreis, suchten nach tragenden Luftströmen, formierten sich zu einer Pflugschar. Raunos Augen wurden feucht, als er nach oben schaute, er konnte es nicht lassen, musste beobachten, wie sich die stolzen Vögel auf ihre lange Reise vorbereiteten. Als sie ihre Formation gebildet hatten und zielstrebig gen Süden flogen, senkte der Direktor den Blick und trocknete seine Tränen. Die Kraniche waren davongeflogen. Auch sein eigenes Leben näherte sich in raschem Tempo seinem Ende.

Der Kranichzug hatte durchaus nichts Schicksalhaftes. Die Vögel flogen jedes Jahr nach Süden. Rauno fragte sich, was es letztlich war, das sie forttrieb. Er glaubte, dass sie im kalten Wind und im Frost des Nor-dens durchaus zurechtkommen würden, aber wie sollten sie in Lapplands Sümpfen Nahrung finden, da sich die Frösche bis unter die Frostschicht verkriechen würden. Futter war es, was die Vögel im Süden suchten, sonst gar nichts. Ein Kranich frisst keine Eichhörnchen, klettert nicht auf einen Baum. Aber wenn die Evolution dafür gesorgt hätte, dass ihm Greiffüße gewachsen wären, könnte man in Lapplands Schneestürmen eindrucksvolle Schauspiele beobachten, wenn sich die Langhälse ihren Weg in die dichten Wipfel der Fichten bahnen, Marder und Eichhörnchen verfolgen, die unglücklichen Fellknäuel schließlich packen und verschlingen würden. Nach erfolgreicher Jagd würden sie mit ihren langen Stelzen in den Baumwipfeln balancieren und zufriedene Schreie ausstoßen.

Raunos Frau Annikki trat auf den Balkon und legte sacht ihre Hand auf den Arm ihres Mannes.

Annikki: Erkälte dich nicht, Rauno. Komm herein, ich helfe dir in den Frack. Aber erst musst du dich rasieren und dein Haar trocknen.

Rauno sah sie an: eine dunkelhaarige, sanfte Frau, die auf schöne Art alterslos wirkte. Er war mit ihr seit fast dreißig Jahren verheiratet. Annikki war seine zweite Frau, seine erste Ehe hatte mit der Scheidung geendet, ihr entstammten zwei Söhne. Mit Annikki hatte er sich keine Kinder mehr angeschafft. Rauno spürte, dass er seine Frau auch nach Jahrzehnten noch liebte, obwohl ihr Zusammenleben nicht mehr so leidenschaftlich war wie in jungen Jahren. Sie unterhielten getrennte Schlafzimmer. Annikki hatte behauptet, dass Raunos Haare nach Rauch stanken, da er, besonders wenn er trank, pausenlos grüne North States qualmte. Bei Annikki war Asthma festgestellt worden, und ein Mann, der nach Zigaretten roch, war nicht gerade der ideale Bettgefährte. Trotzdem tappte Annikki jeden Morgen gegen sechs Uhr, wenn sie in ihrem eigenen Bett erwacht war, ins Schlafzimmer ihres Gatten und legte sich zu ihm, um noch ein Weilchen neben ihm weiterzuschlafen. Das war praktizierte Nähe und wortlose Liebe eines alternden Paares, eine schöne und zärtliche Geste, aus der ein angenehmes allmorgendliches Ritual geworden war.

Annikki brachte ihrem Mann von unten die Zeitung und das Frühstück herauf und stellte das Tablett neben seinem Bett ab. Rauno drehte sich auf die linke Seite und breitete die Zeitung auf dem Fußboden aus, in unmittelbarer Reichweite die Tasse Tee mit einer Scheibe Zitrone, dazu zwei leckere Sandwiches, die Annikki mal mit gebeiztem Lachs, mal mit Schinken, Mettwurst oder anderem Aufschnitt belegte und mit ein paar Zwiebelringen, Scheiben von Kiwifrüchten oder gekochtem Ei garnierte. Rauno aß also vom Fußboden wie eine Hauskatze oder ein Hund. Das war sehr praktisch, so brauchte er nicht extra aufzustehen und sich nach unten an den Frühstückstisch zu bemühen. Neben seinem Bett stand ein schmaler, hochbeiniger Tisch, an der Unterseite der Platte hatte Rauno zwei Leselampen festgeschraubt, deren Lichtstrahl auf den Fußboden gerichtet war. Oben auf dem Tisch lagen ein Stapel Bücher, einige Pillenschachteln, Schreibutensilien und das Handy. Wenn Annikki unten ihren Morgenkaffee getrunken hatte, kehrte sie noch einmal ins Bett ihres Mannes zurück und machte, an seinen Rücken gelehnt, ein Schläfchen. Diese morgendlichen Rituale zeugten von der tiefen Bindung der Eheleute, von einer wirklich schönen Beziehung.

Durch die offene Flügeltür flog eine muntere Kohlmeise herein und setzte sich im Wohnzimmer auf den Lampenschirm. Den hatte einst Annikki ausgesucht, es war eine stilvolle, große Glaskugel, die von Annikkis sicherem Geschmack zeugte. Das Wohnzimmer glich eigentlich mehr einem großen Saal, es war mehr als dreizehn Meter lang und fast sechs Meter hoch. Am anderen Ende des Hauses lag ein zwanzig Quadratmeter großer Raum, dort befand sich das Arbeitszimmer des Hausherrn, dahinter lagen die Schlafzimmer und der Saunabereich.

Die Meise musste verjagt werden, denn bald würden die Geburtstagsgäste eintreffen, und es wäre ein Unding, wenn der Vogel, vom Trubel verängstigt, seine Klackse in die Champagnergläser der Herrschaften oder auf die Frisuren der Damen fallen ließe. Rauno rannte nach unten ins Erdgeschoss und öffnete alle Türen und Fenster. Annikki klatschte in die Hände, aber die Meise begriff nicht, wohin sie fliegen sollte. Sie hatte den kleinen Kopf schräg gelegt und sah zu, wie der nackte Mann auf einen Küchenhocker stieg und sie zu verjagen versuchte. Als er schon fast die Hand an der Glaskugel hatte, flatterte die Meise auf die Gardinenstange – die Vorhänge bestanden aus weißem Stoff mit Reliefmuster, ebenfalls ausgewählt von Annikki. Das Geburtstagskind sprang vom Hocker und griff nach dem Mopp. Wieder flüchtete der Vogel, und da klingelte es an der Haustür.

Rauno Rämekorpi ging, um zu öffnen. Draußen stand die junge Botin eines Blumengeschäftes. Mit sachkundigem Blick musterte sie den älteren Herrn im Adamskostüm. Rauno war keine üble Erscheinung: groß und stabil gebaut, stramme Waden und Schenkel, ums Gemächt ein dichter Pelz, ein ziemlich praller Bierbauch, eine behaarte Brust, ein kräftiger Hals und ein typisch finnisches Gesicht mit breiter und hoher Stirn, die in einem dichten, feuchten Haarschopf endete. Ein Kerl wie ein Baum, sagte sich die junge Frau. Sie schätzte, dass er an die neunzig Kilo wiegen mochte. Mit ihm könnte man durchaus eine Menge Spaß haben. Gemeinsam trugen sie drei riesigen Blumensträuße ins Haus.

Annikki: Rauno, ich kümmere mich darum. Geh sofort und zieh dich an.

Rauno: Aber erst muss die Meise verjagt werden.

Annikki: Begreifst du nicht, dass du nichts anhast?

Rauno: Mir ist nicht kalt, ich komme ja gerade aus der Sauna.

Die Blumenbotin erklärte, dass sie sich darauf verstehe, verirrte Vögel aus Innenräumen zu vertreiben. Jetzt im Herbst, da es kühler wurde, kamen manchmal gleich mehrere durch das Lüftungsfenster in den Blumenladen, einmal hatte sich ein Dompfaff in einer kanadischen Thuja ein Nest gebaut und dort seine Eier ausgebrütet, zwölf Junge waren geschlüpft.

Rauno Rämekorpi glaubte die Geschichte nicht. Er sagte, dass der Dompfaff seines Wissens am Boden oder in Steinhöhlen niste, und im Herbst ganz sicher nicht, die Zeit sei vorbei. Es sei schlicht unnormal zu behaupten, dass es im Blumenladen das Nest eines Dompfaffs und eine Schar Jungvögel gebe.

Die junge Frau war über diese Bemerkung sichtlich erbost. Sie erklärte nachdrücklich, dass es ihrer Meinung nach auch keineswegs normal sei, dass sich vor ihr ein nackter Kerl spreize. Da sei es weit normaler, wenn ein Dompfaff im Blumenladen niste. Sie fand, Normalität sei einfach nur das, was die Masse tue: Wenn also jeder Kerl seine Klagen über die Blumenbotin unbekleidet loswürde, dann wäre das okay, aber dies hier sei schließlich das erste Mal, dass ein Kunde splitternackt vor ihr stehe und über einen Dompfaff diskutiere.

Annikki: Hört auf, euch über das Nisten zu streiten, und du, Rauno, rasier und kämm dich. Wir Frauen werden den kleinen Piepmatz schon gemeinsam verjagen.

Rauno Rämekorpi zog sich verärgert ins Badezimmer zurück. Bevor er die Tür schloss, sah er, wie die Frauen Ernst machten.

Blumenbotin: Püü-jiip, püü-jiip!

Als die kleine Meise die Stimme hörte, die an den Balzruf der Sperlingseule erinnerte, erkannte sie sofort, dass sie im Haus nicht mehr sicher war, und flog schleunigst durch die Doppeltür des Patio im Erdgeschoss nach draußen. Annikki Rämekorpi quittierte die Blumenlieferung, und so konnten die...

Erscheint lt. Verlag 16.7.2015
Übersetzer Regine Pirschel
Sprache deutsch
Original-Titel Kymmenen riivinrautaa
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. - 21. Jahrhundert • Besonders • Bücher • Comedy / Satire • Finnland • Frauen / Männer • interessant • Roman • Romane • Sonstige Belletristik • Sonstige Belletristik; 20. - 21. Jahrhundert; Finnland; Comedy / Satire; Frauen / Männer
ISBN-10 3-7325-1270-3 / 3732512703
ISBN-13 978-3-7325-1270-6 / 9783732512706
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