Kopfkissenbuch (eBook)

(Autor)

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2015
384 Seiten
Manesse (Verlag)
978-3-641-17225-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kopfkissenbuch -  Sei Shonagon
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Eine poetische Zeitreise an den japanischen Kaiserhof des Jahres 1000
Ein Bündel edlen Papiers diente Sei Shonagon vor tausend Jahren als Notizbuch. Ihm vertraute sie an, was ihr durch den Kopf ging, darunter Vertrauliches und Delikates aus den Privatgemächern des Kaiserpalasts. Ob sie geistreiche Zwiegespräche schildert, ein intimes Tête-à-Tête oder das Schwertlilienfest ausmalt - ihre Impressionen wirken wie mit dem Tuschepinsel hingetupfte Ewigkeitsbilder. Nie hat man eine Frau inspirierter über sich und ihre Welt plaudern hören!

Sei Shonagons «Telegramme» aus einer sagenhaften Hochkultur gewähren tiefe Einblicke in das Japan der Heian-Zeit wie auch ins Seelenleben der Verfasserin selbst. Ihr radikal subjektives Bekenntnisbuch, erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt und dabei von aller falschen Süßlichkeit befreit, bezaubert durch seinen klaren, ungekünstelten Ton. Freizügig stellt hier eine kluge, selbstbewusste Frau Weltbewegendes neben scheinbar Banales, spricht über Mode oder Galanterie und entlarvt mit spitzer Feder das Intrigenspiel bei Hofe. Aus kritischer Halbdistanz zu den Mächtigen zeigt sie das Treiben einer müßiggängerischen Feudalkaste, die sich ihre Zeit mit Kalligraphie, Flötenspiel oder Fußball vertreibt. Und amüsiert erkennen wir heutigen Leser: Auch vor tausend Jahren gab es sie schon, die eitlen Parvenüs und Bonzen, Trendsetter und Stilikonen, Ästheten und Fashion-Victims.

Sei Shônagon (ca. 966-nach 1010) stammte aus einer literarisch und wissenschaftlich hochbegabten Familie - ihr Vater war ein bekannter Dichter -, trat mit sechsundzwanzig Jahren in den Dienst der Kaiserin Sadako und verbrachte ein Jahrzehnt bis zu deren Tod im Hofdienst. In dieser Zeit schrieb sie ihre zauberhaften Aufzeichnungen nieder, mit denen sie japanische Weltliteratur begründete.

1

Im Frühling liebe ich die Morgendämmerung, wenn das Licht allmählich wiederkehrt, die Umrisse der Berge sich schwach vor dem hellen Himmel abzeichnen und schmale, rosa angehauchte Wolkenstreifen über sie hinwegziehen.

Im Sommer sind es die Nächte, besonders die Mondscheinnächte, die es mir angetan haben. Aber selbst die Finsternis hat ihren Reiz, wenn Glühwürmchen in großer Zahl umherschwirren. Wie hübsch der Anblick von einem oder zweien, die sich mit schwachem Glimmen bewegen! Regennächte sind ebenfalls stimmungsvoll.

Im Herbst ist es die Abendstunde, wenn die noch kräftige Abendsonne sich immer mehr den Berggipfeln nähert und die Krähen ihren Schlafplätzen zustreben, drei, vier … und da noch zwei, und dort wieder drei … Wie eilig sie heimfliegen, ein bewegender Anblick! Entzückend ist auch, wenn Wildgänse in Formation winzig klein in der Ferne dahinziehen. Und dazu natürlich noch der sachte Windhauch nach Sonnenuntergang und das Zirpen der Grillen!

Im Winter mag ich den frühen Morgen. Vor allem, wenn Schnee gefallen ist oder Raureif alles weiß verziert. Aber auch, wenn einfach nur grimmige Kälte herrscht, gehört zu einem Wintermorgen der Anblick von Leuten, die geschäftig Feuer machen und Kohleglut in alle Gemächer bringen. Gegen Mittag, während die Kälte allmählich weicht, zerfällt die Glut im Heizbecken zu weißer Asche, was freilich nicht sonderlich schön aussieht.

2

Monate

Der Neujahrsmonat, der dritte, vierte, fünfte, siebte, achte, neunte, elfte und zwölfte Monat. Im Jahresablauf haben alle Monate, jeder zu seiner Zeit, durchaus ihren eigenen Reiz.

Der Neujahrsmonat

Der 1. Tag ist etwas ganz Besonderes. Der Himmel wölbt sich in Feiertagsruhe und ist wundervoll in Dunst gehüllt. Alle Menschen am Kaiserhof kleiden und schminken sich aufs Sorgfältigste, man wünscht dem Kaiser viel Glück im neuen Jahr und tauscht auch untereinander Glückwünsche aus. Wie herrlich, wenn alles einmal ganz anders ist als im Alltag!

Am 7. Tag werden zwischen den Überresten des Schnees junge Kräuter gepflückt. Ich mag den Anblick von Leuten, die freudig jubeln, wenn sie das frische Grün direkt bei Palastgebäuden finden, wo man es wahrhaftig nicht vermutet hätte.

Anlässlich der Präsentation des Aouma-Schimmels1 richten die Adligen ihre Wagen schmuck her und fahren in den Kaiserpalast, um das Ross zu besichtigen. Wenn die Wagen die Schwelle des mittleren Palasttores Taikenmon passieren, rumpeln sie so heftig, dass die Insassen mit ihren Köpfen aneinanderstoßen, die Steckkämme der Damen zu Boden fallen und, sofern man nicht achtgibt, zerbrechen. Das Gelächter dabei, welch ein Spaß!

Nahe der Torwache zur Linken2 stehen privilegierte Hofleute in Gruppen beisammen, die scherzhaft nach den Bögen unserer Gardisten greifen und die Pferde mit ihrem lauten Gelächter scheu machen.

Durch das Tor Senyōmon erhascht der Blick die Jalousien vor einem Palastgebäude, wo Palastdamen und Bedienstete des Amtes für die persönlichen Obliegenheiten des Kaisers zugange sind — ein wundervolles Bild.

‹Was sind das für begnadete Leute, denen es vergönnt ist, im Innersten des kaiserlichen Palastes ein- und auszugehen!›, geht es mir neidvoll durch den Sinn.3 Dabei ist von diesem innersten Bezirk nur ein schmaler Ausschnitt zu erblicken!

Auf den Gesichtern der Reiter unserer Eskorte schimmert die Haut arg dunkel durch die scheckige Schminke4 hindurch, und wo das Bleiweiß verwischt ist, gleicht es den braunen Erdflecken zwischen schmelzenden Schneeresten. Es sieht schauderhaft aus. Als wir bemerkten, dass die Pferde scheuten, erschraken wir sehr und zogen uns in den hintersten Winkel des Wagens zurück; deshalb konnte ich nicht so gut erkennen, was draußen vor sich ging.

Am 8. Tag gefällt mir, dass mehr Wagenlärm als sonst zu hören ist, weil die Hofleute voller Freude ausfahren.5

Am 15. Tag serviert man dem Hausherrn einen Reisbrei als Festspeise. Die Frauen und Mädchen im Haushalt nehmen heimlich die Rührhölzer aus den Töpfen an sich und lauern auf die Gelegenheit zu einem Streich,6 sind aber sehr auf der Hut, um nicht selbst einen Klaps einzustecken. Es ist so lustig anzuschauen, wie eine jede immerfort darauf achtet, dass niemand hinter sie gelangt! Und wenn es eine trotzdem so geschickt anstellt, einen Klaps auszuteilen, bricht ein lautes Gejohle los, und alle lachen vergnügt in höchst ausgelassener Stimmung. Klar, dass die Getroffene sich darüber ärgert!

Wenn ein junger Edelmann, der erst seit Kurzem mit einer Dame verbunden ist, im Palast zu Besuch weilt, wittern die Bediensteten ihre Chance. Eine Zofe im Haus, die sich etwas herauszunehmen traut, lauert im Hintergrund auf eine günstige Gelegenheit, was eine andere, die dem jungen Herrn aufwartet, bemerkt und auflacht. Die Zofe im Hintergrund bedeutet ihr mit einer Geste, still zu sein, während die junge Dame mit der formvollendeten Verabschiedung ihres Liebsten beschäftigt ist und nicht ahnt, was die Zofe im Schilde führt.

«Lassen Sie mich dies hier überreichen», sagt die Zofe, tritt unter diesem Vorwand heran, versetzt der Dame einen Klaps und saust dann davon. Alles bricht in schallendes Gelächter aus. Da auch der junge Mann herzlich mitlacht, ohne den Streich übel zu nehmen, geniert sich die junge Dame nicht allzu sehr, sondern errötet nur ein wenig, was ich höchst charmant finde.

Im Scherz versetzen die Zofen einander Klapse, ja selbst der junge Herr mag manchen leichten Hieb abbekommen. Interessant wird es, wenn sie im Übermut zu weit gehen, sodass eine anfängt zu weinen, eine andere zornig wird, wobei sie einander beschimpfen oder gar ungehörige Ausdrücke in den Mund nehmen. Auch an einem so erhabenen Ort wie dem Kaiserpalast benehmen sich an diesem Festtag alle Hofleute ungezwungen und geben ihre höfische Zurückhaltung auf.

Anlässlich der Jimoku-Feiern ist die Stimmung bei Hofe wiederum ganz anders geartet. Da mag es schneien oder klirrend kalt sein, die Hofleute laufen geschäftig mit ihren Gesuchen umher. Es geht schon in Ordnung, dass junge Männer im 4. oder 5. Rang einen gesunden Ehrgeiz an den Tag legen. Die älteren, grauhaarigen Herren hingegen vertrauen eher auf weibliche Fürsprache. Sie drehen die Runde durch die Wohngemächer der Hofdamen und setzen ihnen mit großem Eifer auseinander, was für ausnehmend fähige Leute sie doch seien. Dass die jungen Damen ihre Redensarten nachäffen und sich über sie lustig machen, dürften die wenigsten von ihnen je erfahren. «Empfehlen Sie mich bitte gnädigst seiner Kaiserlichen Hoheit!» oder «Richten Sie bitte der durchlauchten Kaiserin meine untertänigste Ehrerbietung aus!», lauten ihre Floskeln, und denjenigen, die das erstrebte Amt ergattern, ist das Glück hold gewesen, während mir diejenigen, die am Ende leer ausgehen, wirklich leidtun.

Der 3. Monat

Zum Doppeldrei-Fest am 3. Tag passt ein stiller, sonniger Frühlingstag am besten.

Es ist genau die Zeit, in der die Pfirsichbäume zu blühen beginnen. Und dazu der herrliche Anblick der Weiden, deren Blätter noch in dicken Knospenkokons schlummern! Voll entfaltet sehen Weidenblätter nicht mehr so hübsch aus.

Eine besondere Freude ist es, einen langen Zweig der prachtvoll blühenden Kirschen zu brechen und in eine große Vase zu stellen. Wenn sich dann Besucher oder Großwürdenträger wie die Brüder der Kaiserin, in Gewänder in Kirschblütenkombination mit dazu passendem, längerem Untergewand gekleidet, daneben niederlassen und freundlich mit uns plaudern, bin ich sehr glücklich.

Der 4. Monat

Die Zeit des Kamo-Schreinfests ist einfach wundervoll. Alle hochrangigen Adligen und Hofleute tragen über den weißen Untergewändern einheitliche Übergewänder, die sich nur im helleren oder dunkleren Farbton unterscheiden. Das wirkt frühlingshaft.

Das Laub der Bäume wuchert nicht so üppig wie im Hochsommer, sondern wirkt noch ganz zart; der Himmel, den weder Dunst noch Nebel trübt, hat vielleicht nichts Großartiges an sich und stimmt dennoch heiter.

Um diese Zeit lässt sich mitunter, zur leicht bewölkten Abendstunde oder zur anbrechenden Nacht, der erste noch zaghafte Ruf der Nachtigall vernehmen, so schwach und aus solcher Ferne, dass man meinen könnte, man habe sich verhört. Ist das nicht ein herrliches Erlebnis?

Wenn das Kamo-Fest näher rückt, sieht man allerorten Leute, die ockerfarbene oder blaupurpurne Seidenstoffe zusammenrollen und diese, nur der Form halber mit Papier verhüllt, emsig hin- und hertragen.7 Die schattiert oder abgestuft eingefärbten Stoffe wirken in dieser Zeit prachtvoller als sonst. Den Kindern wäscht man schon vorher die Haare; sie bekommen festliche Frisuren, laufen aber noch in Alltagskleidung umher, darunter auch einige mit aufgeplatzten Nähten oder losen Fäden. Sie bringen eilig ihre Sandalen und anderes Schuhwerk und drängeln: «Lass mir neue Lederriemen einsetzen, lass mir die Holzstege festklopfen!»

Es gehört zur schönen festlichen Stimmung, wie alle Welt aus Vorfreude übereifrig mit Vorbereitungen befasst ist. Selbst Kinder, die sonst ungezogen herumspringen, schreiten am Tag der Feier, in Festtracht gekleidet und fein herausgeputzt, so würdevoll einher wie die Priester bei einem Trauerritual. Es ist rührend anzusehen, wie jedem von ihnen die Mutter, Tanten oder ältere Schwestern hinterdreinlaufen und ihnen unablässig die Haare richten oder die Gewänder...

Erscheint lt. Verlag 12.10.2015
Übersetzer Michael Stein
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Makura-no-Soshi
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aphorismus • eBooks • Frauenliteratur • Japan • Klassiker der Weltliteratur • Kulturgeschichte • Kurzprosa, Aphorismus • Mittelalter • Tagebuch • Zeitreise
ISBN-10 3-641-17225-X / 364117225X
ISBN-13 978-3-641-17225-1 / 9783641172251
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