Sämtliche Werke in 22 Bänden (eBook)
11700 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-10923-8 (ISBN)
Ernst Jünger, am 29. März 1895 in Heidelberg geboren. 1901-1912 Schüler in Hannover, Schwarzenberg, Braunschweig u. a. 1913 Flucht in die Fremdenlegion, nach sechs Wochen auf Intervention des Vaters entlassen 1914-1918 Kriegsfreiwilliger 1918 Verleihung des Ordens »Pour le Mérite«. 1919-1923 Dienst in der Reichswehr. Veröffentlichung seines Erstlings »In Stahlgewittern«. Studium in Leipzig, 1927 Übersiedlung nach Berlin. Mitarbeit an politischen und literarischen Zeitschriften. 1936-1938 Reisen nach Brasilien und Marokko. »Afrikanische Spiele« und »Das Abenteuerliche Herz«. Übersiedlung nach Überlingen. 1939-1941 im Stab des Militärbefehlshabers Frankreich. 1944 Rückkehr Jüngers aus Paris nach Kirchhorst. 1946-1947 »Der Friede«. 1950 Übersiedlung nach Wilflingen. 1965 Abschluß der zehnbändigen »Werke«. 1966-1981 Reisen. Schiller-Gedächtnispreis. 1982 Goethe-Preis der Stadt Frankfurt/Main.1988 Mit Bundeskanzler Kohl bei den Feierlichkeiten des 25. Jahrestags des Deutsch-Französischen Vertrags. 1993 Mitterrand und Kohl in Wilflingen. 1998 Ernst Jünger stirbt in Riedlingen.
Ernst Jünger, am 29. März 1895 in Heidelberg geboren. 1901–1912 Schüler in Hannover, Schwarzenberg, Braunschweig u. a. 1913 Flucht in die Fremdenlegion, nach sechs Wochen auf Intervention des Vaters entlassen 1914–1918 Kriegsfreiwilliger 1918 Verleihung des Ordens »Pour le Mérite«. 1919–1923 Dienst in der Reichswehr. Veröffentlichung seines Erstlings »In Stahlgewittern«. Studium in Leipzig, 1927 Übersiedlung nach Berlin. Mitarbeit an politischen und literarischen Zeitschriften. 1936–1938 Reisen nach Brasilien und Marokko. »Afrikanische Spiele« und »Das Abenteuerliche Herz«. Übersiedlung nach Überlingen. 1939–1941 im Stab des Militärbefehlshabers Frankreich. 1944 Rückkehr Jüngers aus Paris nach Kirchhorst. 1946–1947 »Der Friede«. 1950 Übersiedlung nach Wilflingen. 1965 Abschluß der zehnbändigen »Werke«. 1966–1981 Reisen. Schiller-Gedächtnispreis. 1982 Goethe-Preis der Stadt Frankfurt/Main.1988 Mit Bundeskanzler Kohl bei den Feierlichkeiten des 25. Jahrestags des Deutsch-Französischen Vertrags. 1993 Mitterrand und Kohl in Wilflingen. 1998 Ernst Jünger stirbt in Riedlingen.
DER SOMME-RÜCKZUG
Ende Februar 1917 stieß ich wieder zum Regiment, das seit einigen Tagen bei den Ruinen von Villers-Carbonnel in Stellung lag, und übernahm die Führung der achten Kompanie.
Der Anmarsch zu den Kampfgräben schlängelte sich durch das unheimliche, verödete Gebiet der Somme-Niederung; eine alte, schon stark beschädigte Brücke führte über den Fluß. Andere Annäherungspfade waren als schmale Knüppeldämme quer über das Sumpfbecken gelegt, das sich in der Niederung ausbreitete; auf ihnen galt es, Mann hinter Mann, breite, raschelnde Schilfgürtel zu durchbrechen und schweigende, schwarzblinkende Wasserflächen zu überschreiten. Wenn auf diesen Strecken Granaten einschlugen und den Morast in hohen Springsäulen aufrissen oder wenn die Garben der Maschinengewehre über die Sumpfflächen irrten, konnte man nur die Zähne zusammenbeißen, denn man schritt wie auf einem Seile dahin, zu dessen Seiten es keine Deckung gab. Daher wurden einige phantastisch zerschossene Lokomotiven, die am hohen Ufer der anderen Seite auf einem Bahngleis stehengeblieben waren und das Ende des Weges ankündigten, jedesmal mit einem Gefühl der Erleichterung begrüßt.
In der Niederung lagen die Dörfer Brie und Saint-Christ. Türme, von denen sich nur eine einzige schmale Mauer erhalten hatte, in deren Fensteröffnungen das Mondlicht spielte, dunkle Trümmerhaufen, von wirrem Balkenwerk überragt, und vereinzelte, ihrer Zweige beraubte Bäume auf weiten, von schwarzen Einschlägen gemusterten Schneeflächen säumten den Weg als starre metallische Kulissen, hinter denen das Gespenstische dieser Landschaft auf der Lauer zu liegen schien.
Die Kampfgräben waren nach einer starken Schlammperiode gerade wieder notdürftig in Ordnung gebracht. Die Zugführer erzählten mir, daß sie eine Zeitlang die Ablösung nur durch Leuchtkugeln vollzogen hätten, um sich nicht der Gefahr des Ertrinkens auszusetzen. Eine schräg über den Graben geschossene Leuchtkugel bedeutete »Ich gebe die Wache ab«, eine andere, in entgegengesetzter Richtung, »Ich habe sie übernommen«.
Mein Unterstand lag ungefähr fünfzig Meter hinter der vorderen Linie in einem Quergraben, in dem außer mir und meinem kleinen Stabe noch eine mir persönlich zur Verfügung stehende Gruppe hauste. Er war trocken und gut ausgebaut. An seinen beiden durch Zeltbahnen verhängten Ausgängen standen kleine eiserne Öfen mit langen Rohren, durch die bei schweren Beschießungen oft Erdbrocken mit einem fatalen Poltern herunterrollten. Vom Stollen zweigten sich rechtwinklig einige blinde Gänge ab, die eine Reihe winziger Zellen bildeten. In einer von ihnen nahm ich Quartier. Außer einer schmalen Pritsche, einem Tisch und einigen Handgranatenkisten bestand die Einrichtung nur noch aus wenigen altvertrauten Gegenständen, der Spiritusbüchse, dem Kerzenhalter, dem Kochgeschirr und der persönlichen Ausrüstung.
Hier hielten wir auch des Abends, jeder auf fünfundzwanzig scharfen Handgranaten hockend, eine gemütliche Plauderstunde ab. Gesellschaft leisteten mir dabei die beiden Kompanieoffiziere Hambrock und Eisen, und ich glaube, daß die unterirdischen Sitzungen unserer kleinen Runde, dreihundert Meter vorm Feinde, seltsam genug waren.
Hambrock, seines Zeichens Astronom, ein großer Liebhaber E. Th. A. Hoffmanns, pflegte lange Reden über die Beobachtung der Venus zu halten, von der er behauptete, daß dieser Stern in seinem reinen Glanze auf Erden nie zu finden sei. Er war von winziger Figur, spinnendünn, rothaarig und hatte ein mit gelben und grünlichen Sommersprossen besätes Gesicht, das ihm unter uns den Beinamen »Marquis Gorgonzola« eingetragen hatte. Im Verlaufe des Krieges hatte er eigentümliche Gewohnheiten angenommen; so pflegte er tagsüber zu schlafen und erst am Abend lebendig zu werden, um dann zuweilen einsam vor den deutschen oder den englischen Gräben umherzugeistern. Auch hatte er die bedenkliche Manier, sich leise an einen Posten heranzuschleichen und plötzlich dicht neben seinem Ohre eine Leuchtkugel abzufeuern, »um den Mut zu prüfen«. Leider war er von viel zu schwächlicher Gesundheit für einen Krieg, und daher kam es wohl auch, daß er einer an sich harmlosen Verwundung erlag, die er bald danach bei Fresnoy erhielt.
Eisen war von ebenso kleiner Gestalt, aber beleibt, und da er als der Sohn eines Ausgewanderten im wärmeren Klima Lissabons aufgewachsen war, von einem ewigen Frösteln geplagt. Aus diesem Grunde pflegte er sich den Kopf durch ein großes rotkariertes Taschentuch zu wärmen, das oben über den Stahlhelm lief und unter dem Kinn zugeknotet war. Außerdem hatte er eine Vorliebe dafür, sich mit Waffen zu behängen – außer einem Gewehr, das er ständig trug, hatte er noch allerhand Messer, Pistolen, Handgranaten und eine Lampe im Gürtel stecken, so daß man, wenn man im Graben auf ihn stieß, zunächst glaubte, einer Art von Armenier begegnet zu sein. Eine Zeitlang trug er auch noch einige Eierhandgranaten in den Hosentaschen, bis diese Angewohnheit zu einem sehr unangenehmen Erlebnis führte, das er uns eines Abends zum besten gab. Er hatte nämlich in der Tasche herumgekramt, um seine Pfeife herauszuziehen, die sich dann in der Schlaufe einer Eierhandgranate verfangen und diese zum Abzug gebracht hatte. So hatte ihn plötzlich der unverkennbare matte Knall überrascht, der das drei Sekunden währende leise Zischeln des abbrennenden Zündsatzes einzuleiten pflegt. In seinem entsetzten Bestreben, das Ding herauszuziehen, um es über Deckung zu schleudern, verfitzte er sich dermaßen in seiner eigenen Hosentasche, daß es ihn längst in Stücke gerissen hätte, wenn nicht durch einen märchenhaften Glücksfall gerade dieses Geschoß ein Versager gewesen wäre. Halb gelähmt und in Angstschweiß gebadet, sah er sich dem Leben wiedergeschenkt.
Es war jedoch nur ein kurzer Aufschub, den er so gewann, denn er blieb wenige Monate später bei Langemarck im Gefecht. Auch bei ihm mußte der Wille dem Körper sehr zu Hilfe kommen; er war sowohl kurzsichtig wie schwerhörig und mußte, wie es sich bald bei einer kleinen Begegnung erwies, von seinen Leuten erst in die Richtung des Gegners gestellt werden, um sich am Kampf beteiligen zu können.
Immerhin sind schwächliche Leute von Herz besser als kräftige Feiglinge, was sich während der wenigen Wochen, die wir in dieser Stellung verbrachten, wiederum bei mancher Gelegenheit erwies.
Wenn dieser Teil der Front auch als ruhig bezeichnet werden konnte, so verrieten doch mächtige Feuerstöße, die zuweilen überraschend auf die Gräben hämmerten, daß es an Artillerie nicht mangelte. Auch war der Engländer recht neugierig, und es verging keine Woche, in der er nicht durch kleine Erkundungsabteilungen mit List oder mit Gewalt sich einen Einblick bei uns zu verschaffen suchte. Man munkelte manches von einer großen »Übermaterialschlacht«, durch die uns im Frühling noch ganz andere Feste bereitet werden sollten als jene, an die wir durch die Somme-Schlacht des vergangenen Jahres gewöhnt waren. Um die erste Wucht des Anpralls zu dämpfen, bereiteten wir eine großzügige Räumung vor. Ich berichte hier einige Erlebnisse aus dieser Zeit:
1. März 1917. Am Nachmittag herrschte des klaren Wetters wegen lebhafte Feuertätigkeit. Besonders eine schwere Batterie ebnete unter Ballonbeobachtung den Abschnitt des dritten Zuges fast vollkommen ein. Um meine Stellungskarte zu ergänzen, patschte ich am Nachmittag durch den vollständig versoffenen »Namenlosen Graben« dorthin. Während dieses Weges sah ich vor uns eine riesige gelbe Sonne zur Erde sinken, die eine lange schwarze Rauchfahne nach sich zog. Ein deutscher Flieger hatte sich an den unangenehmen Fesselballon herangemacht und ihn in Brand geschossen. Vom rasenden Feuer der Erdabwehr verfolgt, zog er glücklich in steilen Flügelkurven davon.
Am Abend kam der Gefreite Schnau zu mir und meldete, daß unter seinem Gruppenunterstande schon seit vier Tagen ein pickendes Geräusch zu hören sei. Ich gab die Beobachtung weiter und bekam ein Pionierkommando mit Horchapparaten gestellt, das allerdings nichts Verdächtiges erkundete. Später hieß es, daß damals die ganze Stellung unterminiert gewesen sei.
Am 5. März näherte sich in den frühen Morgenstunden eine Streife unserem Graben und begann den Drahtverhau zu durchschneiden. Eisen eilte mit einigen Leuten auf die Meldung eines Postens herbei und warf Handgranaten, worauf die Angreifer sich zur Flucht wandten und zwei Mann liegen ließen. Der eine, ein junger Leutnant, starb gleich darauf; der andere, ein Sergeant, war schwer an Arm und Bein verwundet. Aus den Papieren des Offiziers ging hervor, daß er den Namen Stokes trug und dem Royal Munster 2. Füsilierregiment angehörte. Er war sehr gut angezogen, und sein im Tode verkrampftes Gesicht war intelligent und energisch geschnitten. In seinem Notizbuch las ich eine Menge Anschriften von Londoner Mädchen; das rührte mich an. Wir begruben ihn hinter unserem Graben und setzten ihm ein einfaches Kreuz, in das ich mit Schuhnägeln seinen Namen einhämmern ließ. Ich ersah aus diesem...
Erscheint lt. Verlag | 4.11.2015 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • ad hoc • Annäherungen • Aus dem Nachlass • Betrachtungen zur Zeit • Das Abenteuerliche Herz • Der Arbeiter • Der Erste Weltkrieg • Deutschland • Die Zwille • Ernst Jünger • Erster Weltkrieg • Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg • Erzählungen • eumeswil • fassungen • Heliopolis • Natonalsozialismus • Späte Arbeiten • Strahlungen • Subtile Jagden • Supplement • Tagebücher • Werkausgabe • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-608-10923-4 / 3608109234 |
ISBN-13 | 978-3-608-10923-8 / 9783608109238 |
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