Die Verlorene – Friedas Fall (eBook)

Roman
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2015 | 1. Auflage
448 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-0886-6 (ISBN)

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Die Verlorene – Friedas Fall - Michèle Minelli
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Das Schicksal einer Frau.

St. Gallen, 1904: Als die junge Frieda Keller, zum Tode verurteilt, ihr Gnadengesuch schreibt, liegen der Alptraum eines Missbrauchs, eine Verzweiflungstat und ein skandalöser Prozess hinter ihr. Michèle Minellis Roman beruht auf dem historischen Kriminalfall, in dem die Schneiderin Frieda Keller in die Mühlen einer männerbestimmten Justiz geriet, die alle Schuld der Frau auflud und den Täter ungeschoren ließ. 

»Ein dichter, packend erzählter Roman.« Salzburger Nachrichten



Michèle Minelli, 1968 in Zürich geboren, ist dort Dozentin für kreatives Schreiben. Sie hat Dokumentarfilme gedreht, Sachbücher, eine Reisereportage und einen Roman veröffentlicht, bevor 2012 ihre grandiose Familiensaga »Die Ruhelosen« erschien. 2013 folgte der Kriminalroman »Wassergrab«. Sie erhielt verschiedene Preise und Stipendien. Ihr Roman »Die Verlorene« (2015) erzählt die authentische Geschichte der Frieda Keller, die 1904 in St. Gallen in einem aufsehenerregenden Justizskandal verurteilt wurde. Der Roman wird zurzeit verfilmt.

Eins


Schreib, Mädchen, wenn du irgendetwas zu sagen hast, um Himmels willen, schreib es jetzt!

Wie kann man diese Tat in Worte fassen?

Wozu?

Da sitz ich hier, die Hände eingefaltet für ein bisschen Wärme und gar nicht viele Schritte von daheim entfernt. Sind es siebzig oder hundert? Mehr? Die Rorschacherstrasse leicht den Hang hinab.

Ich bin mitgegangen, was hätte ich auch sonst –

… diese Straße, die zum See hinführt. Daran will ich jetzt nicht denken.

Was mir am meisten fehlt, ist die Stimme meiner Mutter. Ihr breites Bern, das in jedes Wort die Liebe flicht. Und wie sie mich anschaut, wenn sie fragt: »Was brauchst du, Kind?«

»Sie brauchen dringend Hofgang, Wärme, Licht«, hat der freundliche Herr gesagt. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen. Ich kenne seinen Namen nicht. Es ziemt sich nicht, allein mit einem Mann zu sein. Auf engem Raum. Und doch. Ich musste immer wieder zu ihm hinblinzeln. Wie ein Mensch von einer anderen Erde. Von einer fernen Welt. Mit ihm herein war der Duft von Flieder gegaukelt, das wenigstens bilde ich mir ein, einen Atem der Frische, einen Hauch Frühling, den der Wind unter seinen Hemdkragen geweht hat. Immer weht der Wind irgendetwas irgendwohin. Den Wind kann man nicht bremsen. Der Wind ist wie ein Mann.

Unerwartet war er eingetreten, schlank und lang, geduckt hatte er sich unter dem Türrahmen, drahtig in seinem teuren Kleid. Und wie er geschaut hat. Sein Blick, das ganze Gesicht voll Aufmunterungsbegehren. Wie der aussah in seinem Aufzug, wie hergerichtet für ein Fest. Hier könne ich nicht bleiben, hat er gesagt. Dabei bin ich doch schon ewig hier. Und er erst einen einzigen Moment. Er sagte: »Einen Monat. Einen Monat und einen Tag genau.«

Kann man die Zeit zählen? Die Glocken der Pfarrkirche St. Fiden meinen: Ja.

Ich höre die große mit dem runden Klang wie ein Bauch, der gefüllt sein will, und ich höre diese kleine, heisere, von irgendwoher. Zuvor war sie mir nie aufgefallen, wenn ich hier entlangging. Sie klingt wie ein Schöpflöffel aus Holz, der gegen eine Suppenschale klöppelt. Sie klingt wie ein Kind, das fröhlich ist, weil es weiß, dass es bald zu essen gibt.

Wo hat man Ernstli hingebracht?

Wie es ihm dort geht?

»Dieses Recht habt Ihr verwirkt.« So hat der Landjäger gesagt. Nie würde er mir sagen, wo der Ernstli ist. Ich sei ihm keine rechte Mutter.

Grad weil ich seine Mutter bin.

Grad drum.

Das Fenster geht nach hinten. Die Türe auf den Gang, der Gang führt einen nach draußen. Der freundliche Herr braucht lediglich zu klopfen. Ihm macht man auf. Er kann hinaus. Mir bleibt das Fenster, nutzlos wie eine Luftspiegelung. Der Mörtel und der Kalk rieseln lautlos. Und in diese Stille falle auch ich, falle ich, ich falle.

Dass ich mich nicht waschen kann, geniert mich. Wie viele Glockenschläge, bis es wieder Mittwoch ist? Dabei war der Herr so fein gekleidet. Er tat mir richtig leid in seinem zweireihigen Glanzanzug, Satinbesatz, perlmuttschimmernden Kragen um den rot ausrasierten Hals. Mit seinem Hut in der Hand, wie er nicht recht wusste, wohin mit sich. Seiner großen männlichen Gestalt.

Solche Anzüge hätte ich bei Fräulein Bahon auch gerne genäht.

Ungewaschen, bis es wieder Mittwoch ist. Schuhe ohne Bändel. So geht man nicht zum Haus hinaus. Und ich, ich gehe nirgendshin. Nicht, bis wieder Mittwoch ist. Freitag, und dann Sonntag, und dann Dienstag, und die Stimmen der Vögel, die Amsel am Morgen, die als Erste spricht, das ganze Tschilpgefleuch, das nach und nach ins Lied einstimmt. Das war mir früher nie bewusst. Hier höre ich es. Aber hier gehöre ich nicht hin.

Immer wieder muss ich mir vorstellen, wie sie mich holen kommen. Ich kann nicht dagegen an, da ist eine solche Angst.

Wenn man mir doch vergibt!

In einem langen Marsch werden sie kommen, der Bezirksammann und seine Landjäger. Sie kommen den Gang herunter bis vor meine Zellentür. Ich stelle mir vor, wie der eine den Schlüssel dreht und, ohne ihn abzuziehen, die Türe öffnet, Schlüssel und Klinke in seiner Hand, und ich, mit meinem nicht gewaschenen Haar, mit meinen zusammengefalteten Händen für ein bisschen Warm, sitze auf der Pritsche, ungemacht.

Das kann ich nicht ertragen.

Seine Stimme gehört zu einem Bergkanton, die Worte spricht er abfallend in ein Dunkles hinein. Hier sprechen wir hell und mancherorts gequetscht.

Grübeln hülfe nichts. Mit seinen brunnentiefen Vokalen aus einer gänzlich anderen Welt. Töne, die mich daran erinnern, dass ich tief gefallen bin. Und an meine Mutter. Daran, wie sie fragt: Was brauchst du, Kind? Und auch, wie froh ich immer war. In jener Zeit davor. Als sie noch lebte und für mich da war, als sie noch war.

Als mein Leben noch ein Leben war.

Und ähnlich flehentlich wie der ihrige drang der Klang seiner Stimme zu mir hin, als er mich plötzlich nicht mehr siezte und auch nicht wie die Landjäger mit gemeinem Ihr ansprach, als er sich vorlehnte, dieser fremde freundliche Herr mit Kragen und Binder und seidigem Revers, der sich um mich kümmern will, um mich und meinen Fall, so nah an mein Gesicht heran, dass ich seinen Atem spürte, wie er mir Papier und Bleistift in die Finger legte, seine geäderten Hände, unerwartet fest und kühl, sie rochen karamellen, und seine Worte, einen ganzen Ton heller nun, flammend in der Luft: »Schreib, Mädchen, wenn du irgendetwas zu sagen hast, um Himmels willen, schreib es jetzt!«

Auszug aus den Akten der Staatsanwaltschaft St. Gallen, Aktenstück 57, Selbstgeschriebener Lebenslauf der Frieda Keller (geboren 1879)

Kann mich nur noch vom vierten Altersjahr erinnern, da wurde ich schwer krank, dass Herr Doktor alle Hoffnung aufgab, meine Eltern mussten Tag und Nacht wachen, als Herr Doktor mich auch wieder eines Abends besuchte, machte er meine Eltern darauf aufmerksam, dass es heute Nacht eine Änderung gebe; sie wollen sich bitte vorbereiten. Da war grad das Gegenteil! Meine Fieber nahmen ab und von derselben Stunde wurde es Tag für Tag besser, und Herr Doktor war ganz erstaunt, dass ich noch am Leben war! So musste ich fünf Viertel Jahre das Bett hüten. War so schwach, konnte nicht gehen und stehen, von meiner Krankheit an war ich bis jetzt immer schwächlich.

Vom ersten bis zum vierten Jahr war ich grässlich fett. Aber von der kranken Stunde an war ich leicht und mager. Solange ich im elterlichen Hause wohnte, hat mir meine Mutter, ohne dass die andern es wussten, immer noch Essen zugesteckt, aber es half alles nichts.

Mit dem siebten Jahr musste ich in die Schule, das erste und zweite Schuljahr war Fräulein Stutz unsere Lehrerin, und das dritte und vierte Schuljahr Herr Lehrer Wehrlin. Kann nicht sagen, dass ich von den Ersten gewesen bin, aber doch gab ich mir Mühe und Fleiß, dass der Lehrer mit mir zufrieden war. Musste die ganze Woche in die Schule, nur Mittwoch- und Samstagnachmittag hatte ich frei. Zuerst musste ich dann meine Schulaufgaben machen, und nachher mein Fach stricken, das mir meine Mutter aufgegeben hat, dann erst durfte ich noch bis zum Nachtessen auf der Gasse spielen oder mit der Puppe mich beschäftigen. Hatte mich aber meistens mit der Puppe abgegeben. Habe ihr die Kleider selber angefertigt, hatte sehr große Freude am Nähen. Konnte mich stundenlang verweilen, es war da schon mein Wunsch; ich wollte Damenschneiderin werden. Wohnte damals noch im Kanton Thurgau, in Bischofszell, dem schönen …

*

In die offenen Arme von Sitter und Thur schmiegte sich das Städtchen auf seinem Berg. Unterhalb der Terrasse, in der Talsenke, unweit der Thurbrücke, produzierte die Jacquardweberei Niederer mit Bildern durchwobene Stoffe, die mit der Eisenbahnlinie Sulgen–Bischofszell–Gossau in die weite Welt hinaustransportiert wurden. Dort, in der Mulde, bei den Brücken, in der Brüel und in der Bleiche, siedelte sich die Industrie an. Leinwandproduktion, Maßschneidereien, Schifflistickereien, Färbereien. Das feine Tuch wölbte sich zu Hügeln, und die Stoffe schwollen zu stolzen Bergen an; Bischofszells Glück platzte aus jeder Naht, und der Fluss verkündete es in tiefroten Wellen, wenn erfolgreich eingefärbt worden war.

Sie kamen von überall her mit ihren Familien, die anpackten für eine Saison, ein Jahr, ein Leben. Auch Friedas Vater, Jakob Keller, war einst von Neukirch an der Thur zugewandert, und im gleichen Jahr kam wohl auch der Gerber von irgendwoher, irgendwoher kommen wir schon, hatte er gesagt, ein bleicher Mann mit flinken Augen, die hin und her huschten und dabei etwas Vages, etwas Leeres hatten, so dass Frieda zusammenzuckte, wenn sein Blick sie traf, und nicht nur dieses erste Mal, als sie mit ihren älteren Schwestern den Vater begleitete, als der in der Oberstadt bei dem neuen Gerber Leder bezog. Frieda war, als würde sie allein dadurch schuldig gesprochen, dass dieser Gerber schaute, und sie unterdrückte den Impuls, sich unter dem Blick wegzuducken, Mal für Mal.

Aber Ida. Ida, die hinter dem Gerber über den Ladentisch lugte; die beiden Mädchen hatten sich vom ersten Augenblick an als Freundinnen erkannt. Wenn sie zusammen waren, verschmolzen sie zu einer Eins.

Die Bauern gewöhnten sich schnell an das Bild von vier Mädchenhänden, die den Kühen Zöpfe in die Schwanztroddeln flochten, wenn am Obertorplatz Viehmarkt war. Und auch der Fuhrhalter mit seinen Rappen reichte Zuckerbrösel, um zuzusehen, wie sie die tellerflachen Hände den Nüstern seiner Tiere entgegenstreckten. Schwer zu sagen, wer tiefer schnaubte, die Pferde oder die Kinder, deren Erregung als Schauer über die kleinen Körper lief. Für sie gab es nichts Schöneres, als die Köpfe...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2015
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1904 • Frauen • Fridas Fall • Gericht • Gleichheit • Gnadengesuch • Justiz • Kindsmord • Krimi • Me too • Missbrauch • Prozess • Roman • Schande • Schweiz • Skandal • St. Gallen • True Crime • Verfilmung • Vergewaltigung • Verurteilung • Verzweiflung
ISBN-10 3-8412-0886-X / 384120886X
ISBN-13 978-3-8412-0886-6 / 9783841208866
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