Deutschland, deine Sachsen (eBook)
176 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-0970-2 (ISBN)
Tom Pauls, geboren 1959 in Leipzig, Schauspieler und Kabarettist. Regelmäßig gastiert er auf Kabarettbühnen, in großen Konzerthäusern, drehte mehrere Spielfilme und ist regelmäßig im Fernsehen zu sehen. Seit 50 Jahren steht er auf der Bühne, gründete vor 40 Jahren das legendäre Zwinger-Trio. Populärste Bühnenfigur ist die sächsische Witwe Ilse Bähnert, der Tom Pauls seit dreißig Jahren Leben einhaucht. Am 11.11.2011 gründete der Schauspieler das Tom Pauls Theater in Pirna, spielt dort seine erfolgreichen Stücke und begrüßt, wann immer er kann, die Gäste persönlich.
Im Aufbau Verlag sind seine Bücher 'Das wird mir nicht nochmal passieren. Meine fabelhafte Jugend', 'Nischd wie hin. Unsere sächsischen Lieblingsorte' (zus. mit Bernd-Lutz Lange), 'Deutschland, deine Sachsen. Eine respektlose Liebeserklärung' und 'Meine Lene. Eine Liebeserklärung an die Dichterin Lene Voigt' lieferbar.
Mehr Informationen unter www.tom-pauls-theater.de
Der totgesagte Sachse
Haben Sie es gemerkt? Die Deutschen entdecken ihren Sachsen wieder. Jedenfalls können sie ihn nicht mehr ignorieren. Denn er existiert, der Sachse. Ja, er lebt. Immer noch. Er will sogar dazugehören und wird zur ernsten Konkurrenz der Deutschen. Gefahr aus dem Osten. Er will ernst genommen werden. Dabei war das immer sein größter Fehler. Deshalb haben die Deutschen ihn gern als lächerlichen Kasper verhöhnt. Er scherte sich übrigens nicht sonderlich darum, sondern schnitzte den schönsten deutschen Kasperkopf in Hohnstein in der Sächsischen Schweiz. Das ärgerte die anderen schon wieder.
Seit mehr als zwei Jahrhunderten nehmen die Deutschen ihren Sachsen nicht ernst, sondern glauben ernsthaft, er sei gar kein Deutscher, ja nicht einmal ein Mensch. So schrieb der Berliner Kurt Tucholsky schon 1931: »Neben den Menschen gibt es noch Sachsen und Amerikaner, aber die haben wir noch nicht gehabt und bekommen Zoologie erst in der nächsten Klasse.« Der Sachse wurde aber nicht nur verlacht, sondern zudem verketzert, verfemt und nicht zuletzt für tot erklärt.
Das hat sich bis heute kaum geändert. 65 Prozent der Menschen aus Deutschland waren auch über 20 Jahre nach dem Mauerfall noch nie in Sachsen. Warum auch? Man ahnt, da unten kurz vor Prag, unweit von Warschau gibt es ein bisschen Landschaft und vielleicht ein bisschen Kultur. Das war’s. Im Grunde sind den meisten Deutschen die Sachsen egal oder aber ein Ärgernis. Der Zweibeiner aus dem fünften neuen Land im Bund stört doch nur und spricht so komisch. Ein Satz von Literaturprofessor Walter Jens aus den 1960er-Jahren brannte sich zudem in das kollektive Gedächtnis der Deutschen: »Die Sprache Nietzsches und Wagners ist zum Jargon des Untermenschen, zur Fanatiker-Suade, zur Ausdrucksweise der Schergen geworden.« Der Sachse, ein Aussätziger? Sagt das nicht schon der Name?
Fast. Sachse kommt von Sasse, und das heißt Ansässiger – der geborene Aussitzer. Er kann warten. Er hat gewartet. Er muddelte vor sich hin. Muddln gehört zu seiner Strategie. Da tut er was, aber weder zielstrebig noch mit einem spürbaren Verbrauch an Energie. Er macht ganz aktiv: nichts. Mit seiner vorgetäuschten Emsigkeit treibt er jene, die nicht muddln, in den Wahnsinn. Das scheinbare Beschäftigtsein trägt einen Leitsatz vor sich her: Mir machn schon, dass nischt wird. Denn Muddln ist, bewusst eingesetzt, passiver Widerstand, um groben Unfug zu überleben. Es funktioniert wie Meditation und ist die Fähigkeit, unangenehme Zeiträume mit erfindungsreicher Anpassungsgabe unbeschadet zu überstehen. Das hat der Sachse perfektioniert.
Bis jetzt, wo er plötzlich von Deutschen hofiert wird. Recht ist ihm das nicht. Aber er sitzt nun mal mit am Tisch der deutschen Einheit, um vom großen Kuchen zu naschen oder um selbst was aufzutischen. Einige Deutsche, die nach Sachsen kamen, um hier zu arbeiten, gar zu leben und sich inzwischen als Sachsen fühlen, sitzen mit dabei. Der Sachse glaubte sich tatsächlich eingeladen. Allerdings wollten die Deutschen ihn am Katzentisch platzieren, damit er die Restkrümel frisst. Denn sie verstehen ihn immer noch nicht, nicht seine Sprache, nicht seinen Humor und erst recht nicht sein Gemuddl.
Den Sachsen hebt das nicht weiter an, er setzt sich gern zwischen alle Stühle. Egal, wo er sitzt. Die Deutschen müssen plötzlich mit ihm speisen. Und siehe da: Manchem und manchmal schmeckt sogar, was die Sachsen da anbieten, obwohl es doch bisher als geschmacklos galt.
Was ist da los im Staate Deutschland? Die Sachsen, lagen die nicht unterm Tisch, waren die nicht ausgestorben? Ausgestorben wie Saurier, Beutelwölfe, Vandalen oder Unterröcke? Die Statistik beweist das, denn die Deutschen irren sich statistisch betrachtet nie, sie sind ja Exportweltmeister der Statistik.
Rechnen wir doch mal zurück: Schon geschätzte 2000 Jahre vor Christus gab es erste Spuren frühmenschlichen Lebens im Elbe-Saale-Raum. Archäologische Grabungen brachten im Elbtalkessel zwischen Pirna und Gauernitz bei Meißen, dem Gau Nisan, eines Tages ein Zeugnis ans Licht, das die Kompendien der deutschen Geschichtenschreiber gehörig durcheinanderwirbelte. Eine einschneidende Zäsur, denn das ausgegrabene Metall entrostete sich als einschneidiges Schwert. Die meisten kennen es unter dem Terminus Sax.
Das Metall hielten Historiker bisher fälschlicherweise für ein Kampfschwert, weshalb sie die Sachsen als kleine Kampfgruppe betrachteten. Dabei ist das Sax nichts weiter als ein überdimensioniertes Zwiebelmesser, geschmiedet, um die Gemüsesuppe besser würzen zu können. Der Leipziger Geschichtenschreiber Jürgen Hart, Sachse hab ihn selig, bewies dies bereits statistisch in seinem Buch über die unglaubliche Historie Sachsens.
Später kreierten Porzellanmaler in Meißen übrigens das Zwiebelmuster, und auf der Unterseite des Meissener Scherbens finden wir zwei gekreuzte einschneidige Schwerter, genauso wie im kurfürstlich-sächsischen Wappen. Auch wenn die Schwerter eher Zahnstochern gleichen als einem Kampfgerät und die Zwiebeln auf dem Meissener Service gar keine Zwiebeln sind, sondern Granatäpfel.
Doch der Sax-Fund belegt, dass die Vorfahren der Sachsen schon hier siedelten, als weder von den angeblich ersten Siedlern, den germanischen Hermunduren, noch den slawischen Sorben die Rede war. Wie behauptet wird, sollen die Sachsen die Sorben ab 929 vertrieben haben wie die Amerikaner die Indianer. Nein, es ist genau anders herum: Die Sachsen flüchteten einst aus ihrem Land, weil sie sich mit den Hermunduren, einer Art West-Neandertaler des Frühmittelalters, die aus dem Westen Germaniens kamen, nicht vermischen wollten. Sie ließen ihre Hosen nicht runter, weil sie nicht als Elbtal-Hybriden enden wollten. Ihre instinktive Flucht bewahrte sie vor dem evolutionären Aus.
Die Legende sagt, dass ein Teil der Sachsen in die Lüneburger Heide flüchtete, wo sich einige niederließen. Das ist heute Nieder-Sachsen. Zwischendurch hielten sie an. Das ist das heutige Sachsen-Anhalt. Scherz lass nach, du bist umzingelt. Was jedoch stimmt, ist die Reise übern Kanal. Denn viele Sachsen gingen nach England, wo sie angelten, Siedlungen gründeten und ihre Sprache importierten.
Und was geschah im alten Sachsen? 1180 glich das Stammesherzogtum Sachsen dem heutigen Deutschland, Bayern und das heutige Sachsen ausgenommen. Aber Nieder-Sachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Teile von Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein gehörten dazu, sämtliche deutschen Bindestrichländer, die es eigentlich gar nicht gibt, denn sie waren ja sächsisch. Doch dann war schon Schluss mit Sachsen: In ebenjenem Jahre 1180 musste Heinrich der Löwe erstmals etwas von jenem Alt-Sachsen abgeben, den östlichen Landesteil. In den vergangenen 831 Jahren teilte sich das sächsische Gebiet exakt 22-mal. Zuletzt 1945. Da blieb nichts übrig außer einem Rest.
Ja, sie müssten ausgestorben sein, die Sachsen. Denn jahrhundertelang standen sie auf Platz 1 der jährlichen Selbstmordstatistik. Mit 28,3 je 100 000 Einwohner deutlich mehr Opfer als bei der akuten Blinddarmentzündung. Die Sachsen standen stets so nah am Selbstmord, dass sie die erste Selbstmordstatistik Deutschlands aufstellten.1 Das war 1784. Seitdem machte kein Deutscher den Sachsen den ersten Mordplatz streitig, weil sie immer die Schuld bei sich suchten und schuldbewusst sich selbst richteten. Doch im Jahr 2010 wurden sie geschlagen, die Sachsen: von den Bayern.
Die Deutschen sahen, wie der Sachse trotzdem überlebte. War er nicht endlich totzukriegen? Die Nationalsozialisten versuchten 1938 einen weiteren Todesstoß: Sie verboten ihm die Sprache, weil sie angeblich nicht rein deutsch, sondern jüdisch war. Der Sachse biss die Zähne zusammen und nuschelte weiter. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellten die Deutschen den Sachsen erneut kalt, ließen ihn in der Schmuddelecke der Nation vergammeln, nahmen seinen Dialekt als höchste Albernheit des Kabaretts und größten anzunehmenden politischen Gau ins Lach-Programm. Die Sachsen hatten ja inzwischen mehr Kriege verloren als die Amerikaner und die Deutschen zusammen. Waren sie nicht ein Volksstamm, dessen Geschichte die Geschichte der Kapitulation ist, ein Verlierer voller Schuldkomplexe, der Sachse des Bösen, der stets bejaht und es gut meint, der das Sowohl-als-Auch als Ideologie pflegt? Deshalb traute ihnen keiner, deshalb blieb der Sachse auch weiter verdächtig.
Noch ein statistischer Beweis seiner Nichtexistenz? Nach 1945 flüchteten die Sachsen wieder aus ihrem Land, weil Besatzer aus dem Osten kamen. Bis zum Bau der Mauer zog jeder Sechste weg, und danach flohen sie massenhaft über den Todesstreifen, nach statistischen Zählungen über zwei Millionen. Letztmalig gehört hatten wir 1952 vom Land Sachsen, als es komplett aufgelöst wurde und zu drei DDR-Bezirken mutierte. Ganze Städte wie Chemnitz verschwanden von der Landkarte.
Rein statistisch betrachtet kam der Sachse in Deutschland nicht mehr vor, er gehörte nicht dazu, dieser angeblich so sprachunfähige, landlose Selbstmörder. Vor 50 Jahren schrieb der Münchner Dieter Wildt das posthume Testament der Sachsen. Der heute über 80-jährige Journalist und Autor nannte sein Buch »Deutschland, deine Sachsen«.
Sachsen wandelte sich zum Endlager des kommunistischen Experiments, und der Sachse, der jetzt in drei Bezirken wohnte, sollte zum dämlichsten aller Michel mutieren. Leipziger, Dresdner oder Karl-Marx-Städter krebsten aus Sicht der Deutschen rum als Pappenheimer der Nation, die das ökonomisch stärkste Land der Vorkriegszeit in den volkseigenen Konkurs wirtschafteten. Die DDR-Sachsen verkamen zu Mauerschützen, zu...
Erscheint lt. Verlag | 9.3.2015 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Deutschland, deine Sachsen |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Deutschland • Geschichte • Humor • Kabarett • Mundart • Sachbuch • Sachsen • Volk |
ISBN-10 | 3-8412-0970-X / 384120970X |
ISBN-13 | 978-3-8412-0970-2 / 9783841209702 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 4,4 MB
Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopierschutz. Eine Weitergabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persönlichen Nutzung erwerben.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich