Kindeswohl (eBook)

Spiegel-Bestseller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 2. Auflage
224 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60452-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kindeswohl -  Ian McEwan
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Scheidungen, Sorgerecht, Fragen des Kindeswohls - das ist das Spezialgebiet der Richterin Fiona Maye. In ihrer eigenen, kinderlosen Ehe ist sie seit über dreißig Jahren glücklich. Bis zu dem Tag, als ihr Mann ihr einen schockierenden Vorschlag unterbreitet und ihr ein dringlicher Gerichtsfall vorgelegt wird, in dem es für einen 17-jährigen Jungen um Leben und Tod geht.

Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg ?Abbitte? ist jeder seiner Romane ein Bestseller, viele sind verfilmt, zuletzt ?Am Strand? (mit Saoirse Ronan) und ?Kindeswohl? (mit Emma Thompson). Ian McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts, der American Academy of Arts and Sciences und Träger der Goethe-Medaille.

[48] 2

Sie nahm den üblichen Weg vom Gray’s Inn Square zu den Royal Courts of Justice und versuchte möglichst wenig zu denken. In einer Hand trug sie ihre Aktentasche, in der anderen den aufgespannten Schirm. Es herrschte ein trübes, grünes Licht, die Stadtluft war kühl an ihren Wangen. Sie verließ das Haus durch den Haupteingang; dem Morgenplausch mit John, dem freundlichen Pförtner, wich sie mit einem munteren Nicken aus. Dabei hoffte sie, dass sie nicht allzu sehr wie eine Frau in der Krise aussah. Um sich von ihrer Situation abzulenken, ließ sie vor ihrem inneren Ohr ein Stück ablaufen, das sie auswendig gelernt hatte. Es war ihr Ideal von sich selbst, das sie da hörte, über den Lärm der Rushhour hinweg, die Pianistin, die sie niemals sein würde, eine Pianistin, die Bachs zweite Partita ohne jeden Fehler spielte.

Es hatte fast den ganzen Sommer geregnet, die Stadtbäume wirkten gleichsam angeschwollen, ihre Wipfel aufgeplustert; die Bürgersteige waren sauber und glatt, die Autos auf der High Holborn blitzblank wie im Ausstellungssalon. Als sie das letzte Mal hingesehen hatte, war die ebenfalls angeschwollene Themse von einem dunkleren Braun gewesen, düster und rebellisch stieg die Flut an den Brückenpfeilern empor, drauf und dran, die Straße zu erobern. Aber alle marschierten [49] weiter, klagend, entschlossen, durchnässt. Der Jetstream, außer Kontrolle geraten, war nach Süden abgebogen, blockierte die linde Azorenluft und saugte Eiseskälte aus dem Norden an. Folge des menschengemachten Klimawandels – schmelzendes Meereseis, das die oberen Luftschichten durcheinanderbrachte – oder von unregelmäßiger Sonnenfleckenaktivität, für die niemand etwas konnte, oder von natürlichen Schwankungen, uralten Rhythmen des Planeten. Oder von allen drei Faktoren, oder auch nur zweien davon. Aber was nützten Erklärungen und Theorien so früh am Tag? Fiona und alle anderen in London mussten zur Arbeit.

Als sie die Straße überquerte, um in die Chancery Lane abzubiegen, begann es heftiger zu regnen, ein jäher kühler Wind trieb die Tropfen vor sich her. Dunkler war es auch geworden, Wasser spritzte ihr eiskalt an die Waden, Menschen hasteten vorbei, stumm und mit sich selbst beschäftigt. Auf der High Holborn strömte der Verkehr unbeeindruckt weiter, laut und machtvoll, Scheinwerfer gleißten auf dem Asphalt, und sie lauschte wieder dem großartigen Präludium, dem Adagio im italienischen Stil, der fernen Verheißung von Jazz in den schleppenden dichten Akkorden. Aber es gab kein Entrinnen, das Stück führte sie geradewegs zu Jack zurück, denn für ihn hatte sie es letzten April auswendig gelernt, als Geburtstagsgeschenk. Dämmerung auf dem Platz, sie beide eben von der Arbeit nach Hause gekommen, das Licht der Tischlampen, er mit einem Glas Champagner in der Hand, ihr Glas auf dem Flügel, während sie spielte, was sie in den Wochen zuvor geduldig einstudiert hatte. Seine entzückten Rufe, als er das Stück erkannte, sein liebenswürdig übertriebenes Staunen ob solcher [50] Gedächtnisleistung, der lange Kuss am Ende, ihr gehauchtes »Alles Gute zum Geburtstag«, seine feuchten Augen, das Klingen der Kristallgläser.

Nun sprang der Motor des Selbstmitleids an, und hilflos beschwor sie die verschiedenen Überraschungen herauf, die sie für ihn organisiert hatte. Die Liste war ungesund lang – Opernbesuche, Kurztrips nach Paris und Dubrovnik, Wien und Triest, Keith Jarrett in Rom (Jack, ahnungslos, wusste nur, dass er eine Reisetasche packen und sich gleich nach der Arbeit mit ihr am Flughafen treffen sollte), gepunzte Cowboystiefel, ein Flachmann mit Gravur und, wegen seiner neuen Leidenschaft für Geologie, der Gesteinshammer eines Forschers aus dem neunzehnten Jahrhundert, in einem Lederetui. Als Herold seines zweiten Frühlings zum fünfzigsten Geburtstag eine Trompete, die einst Guy Barker gehört hatte. Das alles machte aber nur einen Bruchteil des Glücks aus, mit dem sie ihn überschüttete, und Sex war nur ein Bruchteil dieses Bruchteils, und erst seit kurzem ein Problem, das er zu einer ungeheuren Ungerechtigkeit aufgebauscht hatte.

Trauer und eine Flut kränkender Details, aber der wahre Zorn lag noch vor ihr. Eine sitzengelassene Frau von neunundfünfzig, in den frühsten Kinderjahren des Alters, in denen man gerade erst krabbeln lernte. Sie bog von der Chancery Lane in den schmalen Durchgang ein, der in das architektonische Prachtlabyrinth von Lincoln’s Inn hineinführte, und zwang ihre Gedanken zu ihrer Partita zurück. Zum Trommeln der Regentropfen auf ihrem Schirm hörte sie das beschwingte Andante, »schreitend«, eine bei Bach seltene Tempobezeichnung, die schöne, unbeschwerte Melodie über [51] dem schlendernden Bass, und an Great Hall vorbei verfielen ihre Schritte unwillkürlich in den Rhythmus dieser unirdisch heiteren Klänge. Die Töne schienen sich bis zu einem klaren, allgemeinmenschlichen Sinn aufzuschwingen, bedeuteten aber rein gar nichts. Nur Anmut, geläuterte Anmut. Oder Liebe in ihrer unbestimmtesten, weitesten Form, Liebe zu allen Menschen, unterschiedslos. Zu Kindern vielleicht. Johann Sebastian hatte zwanzig davon, aus zwei Ehen. Er ließ sich durch seine Arbeit nicht vom Lieben und Lehren abhalten, er sorgte für diejenigen, die überlebten, er komponierte für sie. Kinder. Der unentrinnbare Gedanke stellte sich wieder einmal ein, während sie zu der anspruchsvollen Fuge überging, die sie aus Liebe zu ihrem Mann gemeistert hatte, und sie mit voller Wucht spielte, fehlerlos, die einzelnen Stimmen sauber getrennt.

Ja, ihre Kinderlosigkeit war selbst eine Fuge, eine Flucht – das ständig wiederkehrende Thema, dessen sie sich jetzt zu erwehren versuchte −, eine Flucht vor ihrer eigentlichen Bestimmung. Sie war nicht zur Frau geworden, so wie ihre Mutter dieses Wort verstand. Der Weg zum gegenwärtigen Zustand war ein langgezogener, von Jack und ihr über zwei Jahrzehnte hinweg gemeinsam gespielter Kontrapunkt, mit Dissonanzen, die auftauchten und sich auflösten, die sie aber in unruhigen, oft entsetzten Augenblicken immer wieder anklingen ließ, derweil die fruchtbaren Jahre dahingingen, Fiona fast zu beschäftigt, es überhaupt zu bemerken.

Eine Geschichte, die man am besten zügig erzählte. Nach den Abschlussprüfungen weitere Examina, dann die Zulassung als Anwältin, die Referendarzeit, ihre Aufnahme, mit etwas Glück, in eine angesehene Sozietät, frühe Erfolge bei [52] der Verteidigung aussichtsloser Fälle – wie vernünftig es ihr damals vorgekommen war, Kinder bis Anfang dreißig aufzuschieben. Und dann war es so weit, und sie bekam es mit komplexen, hochinteressanten Fällen zu tun und feierte noch größere Erfolge. Auch Jack meinte zögerlich, sie sollten ein oder zwei Jahre warten. Also Mitte dreißig, da lehrte er in Pittsburgh, und sie arbeitete vierzehn Stunden am Tag, vertiefte sich immer mehr ins Familienrecht, während der Gedanke an eine eigene Familie trotz aller Besuche von Neffen und Nichten immer weiter in den Hintergrund rückte. In den Jahren darauf die ersten Gerüchte, dass sie frühzeitig in die Richterschaft berufen werden könnte, was regelmäßige Reisen durch einen Gerichtsbezirk mit sich brächte. Aber der Ruf kam nicht, noch nicht. Und als sie die vierzig überschritten hatte, keimten Bedenken von wegen Risikoschwangerschaft und Autismus auf. Und gleich noch mehr junge Besucher am Gray’s Inn Square, lärmende, anstrengende Großneffen und -nichten, die sie daran erinnerten, wie schwierig es wäre, in dieses ihr Leben einen Säugling hineinzuzwängen. Dann reuige Adoptionspläne, ein paar vorsichtige Erkundigungen – und in den sich beschleunigenden Jahren danach oft quälende Zweifel, nächtliche Vorsätze, sich eine Leihmutter zu suchen, feste Entschlüsse, die in der morgendlichen Hetze zur Arbeit kassiert wurden. Und als sie endlich, eines Morgens um halb zehn, in den Royal Courts of Justice den Treueeid vor dem Lordoberrichter und den Richtereid vor zweihundert perückenbewehrten Kollegen leistete, als sie stolz in ihrer Robe vor ihnen stand und mit geistreichen Bemerkungen bedacht wurde, da wusste sie, die Sache war gelaufen, sie gehörte dem [53] Gesetz, wie manche Frauen früher Bräute Christi gewesen waren.

Sie überquerte den New Square und näherte sich der Buchhandlung Wildy’s. Die Musik in ihrem Kopf war verklungen, dafür tauchte jetzt ein weiteres altes Thema auf: Selbstvorwürfe. Sie war egoistisch, halsstarrig, dröge und ehrgeizig. Verfolgte nur ihre eigenen Ziele, machte sich weis, ihre Karriere diene nicht im Wesentlichen ihrer persönlichen Befriedigung, hatte zwei oder drei liebenswerten und talentierten Individuen die Existenz verwehrt. Hätte sie Kinder, wäre es ein schockierender Gedanke, sie nicht gehabt zu haben. Und das war jetzt ihre Strafe: sich dieser Katastrophe allein stellen zu müssen, ohne vernünftige erwachsene Kinder, die sich um sie kümmerten und sie anriefen, die ihre Arbeit stehen- und liegenließen und zu dringenden Küchenkonferenzen herbeieilten, ihren dummen Vater zur Vernunft und zu ihr zurück brachten. Aber würde sie ihn wieder aufnehmen? Sie würden auch sie zur Vernunft bringen müssen, ihre beinahe existierenden Kinder, die Tochter mit der rauchigen Stimme, vielleicht Kuratorin an einem Museum, und der unstetere, auf zu vielen Gebieten begabte Sohn, der zwar sein Studium nicht abschloss, aber weit besser Klavier spielte als sie. Beide immer liebevoll, großartig an Weihnachten und in den Sommerferien und wenn es darum ging, ihre jüngsten Verwandten zu unterhalten.

Sie ging an Wildy’s vorbei, ohne sich von der juristischen Fachliteratur im Schaufenster verführen zu lassen, überquerte die Carey Street und...

Erscheint lt. Verlag 9.1.2015
Übersetzer Werner Schmitz
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel The Children Act
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anwalt • Bestseller • Bluttransfusion • Ehe • Ehebruch • England • Englische Literatur • Fanatismus • Gerechtigkeit • Gericht • Gerichtssaal • Glaube • Jugendlicher • Justiz • Kinderlos • Kl • Klavier • Krebs • Leukämie • London • Medizin • Moral • Musik • Prozess • Rationalit • Rationalität • Religion • Richterin • Sekte • Teenager • Untreue • Urteil • Weltliteratur • Zeugen Jehovas
ISBN-10 3-257-60452-1 / 3257604521
ISBN-13 978-3-257-60452-8 / 9783257604528
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