In diesen zehn packenden Erzählungen aus der Psychotherapie entschlüsselt der bedeutende amerikanische Psychotherapeut Irvin D. Yalom die Geheimnisse, Frustrationen, aber auch die Erhabenheit und den Humor, die nicht nur den Kern jeder therapeutischen Begegnung ausmachen, sondern auch des Lebens selbst. Indem er uns an den Zwangslagen seiner Patienten teilhaben lässt, gewährt uns Yalom nicht nur einzigartige Einblicke in deren persönliche Sehnsüchte und Motivationen, sondern erzählt uns auch viel über sich selbst und sein eigenes Ringen zwischen persönlicher Betroffenheit und therapeutischer Rolle. Herausgekommen sind dabei wunderbare, unerschrockene Geschichten über die menschliche Seele und den therapeutischen Prozess, der voller Schmerz, Verwirrung, aber auch unverhoffter Freude und Hoffnung ist.
Irvin D. Yalom wurde 1931 als Sohn russischer Einwanderer in Washington, D.C. geboren. Er gilt als einer der einflussreichsten Psychoanalytiker in den USA und ist vielfach ausgezeichnet. Seine Fachbücher gelten als Klassiker. Seine Romane wurden international zu Bestsellern und zeigen, dass die Psychoanalyse Stoff für die schönsten und aufregendsten Geschichten bietet, wenn man sie nur zu erzählen weiß.
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WAS IST REAL?
Charles, ein sympathischer Geschäftsmann in leitender Position, hatte den entsprechenden Hintergrund: eine gediegene Ausbildung in Andover/Harvard und an der Harvard Business School, einen Großvater und Vater, die beide erfolgreiche Banker waren, und eine Mutter als Kuratoriumsvorsitzende eines hervorragenden Frauencolleges. Und er hatte das entsprechende Umfeld: eine Wohnung in San Francisco mit Panoramablick von der Golden Gate zur Bay Bridge, eine bezaubernde, gesellschaftlich aktive Ehefrau, ein Gehalt im mittleren sechsstelligen Bereich und ein Jaguar XKE Cabrio. Und das alles im fortgeschrittenen Alter von siebenunddreißig Jahren.
Nur sein Inneres war nicht entsprechend: von Selbstzweifeln, Selbstanklagen und Schuldgefühlen geplagt, litt Charles jedes Mal unter Schweißausbrüchen, wenn er nur ein Polizeiauto auf der Autobahn sah. »Frei flottierende Schuldgefühle, die nach einem Vergehen forschen, das bin ich«, scherzte er. Darüber hinaus erniedrigte er sich in seinen Träumen gnadenlos: Er sah sich mit großen, nässenden Wunden zusammengekauert in einem Keller oder einer Höhle liegen; er war Abschaum, ein Tölpel, ein Krimineller, ein Hochstapler. Aber auch wenn er sich in seinen Träumen noch so sehr abwertete: Sein skurriler Sinn für Humor schien immer durch.
»Ich wartete in einer Gruppe von Leuten, die für eine Filmrolle vorsprachen«, erzählte er, als er mir in einer unserer ersten Sitzungen einen Traum schilderte. »Ich wartete, bis ich an der Reihe war, und spielte meine Rolle ziemlich gut. Und tatsächlich rief mich der Regisseur später wieder herein und gratulierte mir. Er erkundigte sich nach meinen früheren Filmrollen, und ich sagte ihm, dass ich noch nie in einem Film mitgespielt hätte. Er schlug die Hände auf den Tisch, stand abrupt auf und brüllte, während er hinausging: ›Sie sind kein Schauspieler, Sie spielen einen Schauspieler!‹ Ich rannte ihm hinterher und brüllte: ›Wenn man einen Schauspieler spielt, IST man ein Schauspieler!‹ Aber er ging einfach ungerührt weiter. Ich brüllte, so laut ich konnte: ›Schauspieler spielen andere Leute. Das ist es, was Schauspieler machen!‹ Aber es war zwecklos. Er war weg, und ich blieb allein zurück.«
Charles’ Unsicherheit schien fest in ihm verankert zu sein und immun gegen jedwede Art von Wertschätzung. Alles Positive – die eigene Leistung, sein beruflicher Aufstieg, Liebesbezeugungen von Frau, Kindern und Freunden, begeisterte Reaktionen von Kunden oder Arbeitgebern – floss so schnell durch ihn hindurch wie Wasser durch ein Sieb. Obwohl wir, wie ich fand, eine gute Arbeitsbeziehung hatten, ließ er es sich nicht ausreden, dass er mir auf die Nerven ging oder mich langweilte. Einmal erwähnte ich Löcher in seinen Taschen, und diese Bemerkung wirkte so sehr bei ihm nach, dass er während unserer Arbeit oft darauf zu sprechen kam. Nachdem wir stundenlang die Quellen seiner Selbstverachtung hinterfragt und alle üblichen Verdächtigen unter die Lupe genommen hatten – schlechtes Abschneiden bei IQ- und SAT-Tests, die Unfähigkeit, sich gegen den Klassenrowdy in der Grundschule zu wehren, Akne in der Pubertät, zwei linke Füße auf dem Tanzparkett, gelegentliche vorzeitige Samenergüsse, Sorgen wegen seiner geringen Penislänge –, stießen wir irgendwann auf die primäre Quelle seines düsteren Seelenzustands.
»Alles fing an einem Morgen an, als ich acht Jahre alt war«, erzählte mir Charles. »Mein Vater – ein Olympiasegler – fuhr an einem grauen, windigen Tag wie jeden Morgen mit seinem kleinen Boot von Bar Harbor, Maine, hinaus und kam nie mehr zurück. Dieser Tag hat sich in meinem Kopf eingegraben: diese schreckliche Nacht, in der die Familie kein Auge zugetan hat, der ständig zunehmende, brüllende Sturm, Mutter, die ständig hin und her lief, unsere Anrufe bei Freunden und bei der Küstenwache, unser gebanntes Starren auf das Telefon, das auf dem Küchentisch mit einem rotweißen Tischtuch stand, und unsere wachsende Angst vor dem heulenden Wind, als die Nacht hereinbrach. Und am schlimmsten von allem war das Wehklagen meiner Mutter früh am nächsten Morgen, nachdem die Küstenwache angerufen und berichtet hatte, dass sie sein leeres Boot kieloben im Wasser treibend entdeckt hatten. Die Leiche meines Vaters wurde nie gefunden.«
Tränen strömten über Charles’ Wangen, und Emotionen erstickten seine Stimme, als hätte sich der Vorfall erst gestern ereignet und nicht vor achtundzwanzig Jahren. »Damit war Schluss mit den guten Tagen, Schluss mit den stürmischen Umarmungen meines Vaters, mit Hufeisenwerfen, Halma und Monopoly. Ich glaube, damals wurde mir bewusst, dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war.«
Charles’ Mutter trauerte ihr restliches Leben lang, und nie wieder kam jemand ins Haus, der ihm den Vater ersetzt hätte. So, wie er es sah, wurde er zu seinem eigenen Vater. Auf sich allein gestellt zu sein, hatte auch sein Gutes: sich selbst zu erfinden kann das Selbstwertgefühl enorm stärken. Aber es ist ein einsames Geschäft, und mitten in der Nacht sehnte Charles sich oft nach dem warmen heimischen Herd, der vor so langer Zeit erkaltet war.
Ein Jahr zuvor hatte Charles dann auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung James Perry kennen gelernt, einen Hightech-Unternehmer. Die beiden wurden Freunde, und nach mehreren Treffen bot James ihm eine attraktive Führungsposition in seinem neu gegründeten Unternehmen an. James, zwanzig Jahre älter als Charles, hatte das, was man den Golden Touch des Silicon Valley nennt, und obwohl er ein riesiges Vermögen angehäuft hatte, schaffte er es nicht, »aus dem Spiel auszusteigen«, wie er es ausdrückte. Und so gründete er weiterhin eine Firma nach der anderen. Obwohl ihre Beziehung komplex war – sie waren zugleich Freunde, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Mentor und Protegé –, bewältigten Charles und James diese Herausforderung mit Bravour. Ihre Tätigkeit war mit häufigen Reisen verbunden, aber immer wenn beide in der Stadt waren, ließen sie es sich nicht nehmen, sich nach Feierabend auf einen Drink zu treffen und zu plaudern. Sie sprachen über alles: die Firma, den Wettbewerb, neue Produkte, Personalprobleme, ihre Familien, Investitionen, aktuelle Filme, Urlaubspläne, was immer ihnen in den Sinn kam. Charles schätzte diese persönlichen Treffen sehr. Kurz nachdem sich die beiden kennen gelernt hatten, war es dann, dass Charles zum ersten Mal mit mir in Kontakt trat. So paradox es erscheinen mag, eine Therapie ausgerechnet in einer so glücklichen Zeit der Zuwendung und der Förderung anzustreben, gab es dafür doch eine einfache Erklärung: die Fürsorge und väterliche Zuwendung, die ihm James gab, fachte Charles’ Erinnerung an den Tod seines Vaters neu an und machte ihn bewusster für das, was ihm gefehlt hatte.
In unserem vierten Therapie-Monat bat Charles mich telefonisch um einen außerplanmäßigen Termin. Mit aschfahlem Gesicht kam er in mein Sprechzimmer. Langsam ging er zu seinem Stuhl, nahm umständlich Platz und brachte drei Worte heraus: »Er ist tot.«
»Charles, was ist passiert?«
»James ist tot. Schwerer Herzinfarkt. War sofort tot. Seine Witwe erzählte mir, dass sie mit ihren Kuratoriumskollegen beim Abendessen war und ihn beim Nachhausekommen zusammengesunken in einem Sessel im Wohnzimmer vorfand. Mein Gott, er war nicht einmal krank! Das war gänzlich, gänzlich unerwartet.«
»Wie schrecklich. Was für ein Schock muss das für Sie sein.«
»Wie soll ich es beschreiben? Mir fehlen die Worte. Er war ein so guter Mann, so freundlich zu mir. Ich war so privilegiert, ihn zu kennen. Ich wusste es! Die ganze Zeit wusste ich, dass das alles zu schön war, um von Dauer zu sein! Du meine Güte, ich fühle wirklich mit seiner Frau und seinen Kindern.«
»Und ich fühle mit Ihnen.«
In den folgenden zwei Wochen trafen Charles und ich uns zwei- bis dreimal die Woche. Er war unfähig zu arbeiten, schlief schlecht und weinte oft während unserer Sitzungen. Immer wieder drückte er seine Hochachtung für Perry aus und seine tiefe Dankbarkeit für die gemeinsam verbrachte Zeit. Der Schmerz vergangener Verluste kam wieder hoch, es ging dabei nicht nur um seinen Vater, sondern auch um seine Mutter, die nun seit drei Jahren und einem Monat tot war. Und um Michael, einen Freund aus Kindertagen, der in der siebten Klasse gestorben war, und um Cliff, den Betreuer eines Jugendcamps, der an einem geplatzten Aneurysma gestorben war. Immer wieder sprach Charles von Schock.
»Dann wollen wir Ihren Schock untersuchen«, schlug ich vor. »Was sind seine Zutaten?«
»Der Tod ist immer ein Schock.«
»Weiter. Erzählen Sie mir darüber.«
»Das ist doch naheliegend.«
»Fassen Sie es in Worte.«
»Zack. Das Leben ist vorbei. Einfach so. Man kann sich nirgends verstecken. So etwas wie Sicherheit gibt es nicht. Vergänglichkeit … das Leben ist vergänglich … das wusste ich … wer weiß das nicht? Aber ich habe nie viel darüber nachgedacht. Wollte nie darüber nachdenken. Aber James’ Tod bringt mich zum Nachdenken. Zwingt mich dazu. Die ganze Zeit. Er war älter, und ich wusste, dass er vor mir sterben wird. Das hat mich einfach dazu gebracht, mich mit gewissen Dingen auseinanderzusetzen.«
»Erzählen Sie weiter. Mit welchen Dingen?«
»Mit meinem eigenen Leben. Mit meinem Tod, der vor mir liegt. Mit der Endgültigkeit des Todes. Damit, für immer tot zu sein. Der Gedanke, für immer tot zu sein, hat sich irgendwie in meinem Kopf festgesetzt. Sie wissen gar nicht, wie ich meine katholischen Freunde um diese...
Erscheint lt. Verlag | 14.4.2015 |
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Übersetzer | Liselotte Prugger |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Creatures of a Day |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | eBooks • Erzählungen • Erzählungen, (Psycho-) Therapie • Frustration • Geschichten • Glück • Psychoanalyse • Psychologie • Psychotherapie • (Psycho-) Therapie • Seele |
ISBN-10 | 3-641-15469-3 / 3641154693 |
ISBN-13 | 978-3-641-15469-1 / 9783641154691 |
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