Und Nietzsche weinte (eBook)

Roman
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2014 | 1. Auflage
640 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-15737-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Und Nietzsche weinte -  Irvin D. Yalom
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Eine Ménage à trois zwischen Lou Andreas Salomé, Nietzsche und der Psychoanalyse
Das Wien des Fin de siècle: Die selbstbewusste junge Russin Lou Andreas Salomé drängt den angesehenen Arzt Josef Breuer, dem suizidgefährdeten Friedrich Nietzsche zu helfen und ihn von seiner zerstörerischen Obsession für sie zu kurieren. Breuer willigt ein und unterzieht Nietzsche einer neuartigen Heilungsmethode, deren Ausgang jedoch für beide unerwartet ist.

Irvin D. Yalom wurde 1931 als Sohn russischer Einwanderer in Washington, D.C. geboren. Er gilt als einer der einflussreichsten Psychoanalytiker in den USA und ist vielfach ausgezeichnet. Seine Fachbücher gelten als Klassiker. Seine Romane wurden international zu Bestsellern und zeigen, dass die Psychoanalyse Stoff für die schönsten und aufregendsten Geschichten bietet, wenn man sie nur zu erzählen weiß.

1


Das Glockenspiel von San Salvatore riß Josef Breuer aus seinen Träumen. Er zog seine schwere goldene Uhr aus der Westentasche. Neun. Zum wiederholten Male studierte er das Billett mit Silberrand, das er am Vortage erhalten hatte.

21. Oktober 1882

Doktor Breuer,

ich muß Sie in einer dringlichen Angelegenheit sprechen. Die Zukunft der deutschen Philosophie steht auf dem Spiele. Ich erwarte Sie morgen früh um neun im Café Sorrento.

Lou Salomé

Eine Impertinenz! Eine Unverfrorenheit, dergleichen er seit Jahren nicht erlebt hatte. Er kannte keine Lou Salomé. Keine Adresse auf dem Kuvert. Keine Möglichkeit, dieser Person mitzuteilen, daß neun Uhr eine unpassende Zeit sei, daß es Frau Breuer ganz und gar nicht gefiele, alleine frühstücken zu müssen, daß Dr. Breuer Ferien mache und daß ihn ›dringliche Angelegenheiten‹ nicht interessierten, ja, daß Dr. Breuer gerade deshalb nach Venedig gereist sei, um sich ›dringlicher Angelegenheiten‹ zu entziehen.

Und doch saß er nun Punkt neun hier im Café Sorrento, musterte die Gesichter der Gäste und fragte sich, wer von den Damen wohl die impertinente Lou Salomé sein mochte.

»Nehmen Sie noch Kaffee, Signore?«

Breuer nickte auf die Frage des Kellners, eines Knaben von dreizehn oder vierzehn Jahren mit naß zurückgekämmtem schwarzem Haar. Wie lange saß er wohl schon versunken da und träumte vor sich hin? Er blickte abermals auf seine Taschenuhr. Wieder zehn Minuten Lebenszeit vergeudet. Und womit? Wie gewöhnlich war er in Gedanken bei Bertha gewesen, der lieblichen Bertha, zwei lange Jahre seine Patientin. Er hatte an ihre spöttischen Worte denken müssen: ›Doktor Breuer, was fürchten Sie von mir?‹ Und daran, was sie gesagt hatte, als er ihr hatte eröffnen müssen, er könne sie nicht länger betreuen: ›Ich werde warten. Sie werden immer der einzige Mann in meinem Leben sein.‹

Er wies sich zurecht: ›Genug! Hör auf! Höre auf zu denken! Wozu hast du Augen! Sieh dich um! Gewähre der Welt Einlaß!‹

Breuer hob seine Tasse und sog zusammen mit tiefen Zügen kalter, venezianischer Oktoberluft den Duft des aromatischen Kaffees ein. Er wandte den Kopf und schaute. Sämtliche Tische des Café Sorrento waren mit Frühstücksgästen besetzt – größtenteils Touristen, größtenteils ältere Herrschaften. Einige Gäste hielten Zeitungen in der einen Hand, Kaffeetassen in der anderen. Hinter den Tischen stoben Wolken stahlblauer Tauben auf. Auf dem stillen Canal Grande ließ nur das Kielwasser einer einsam dahingleitenden Gondel die schimmernden Spiegelungen der Palazzi an beiden Ufern erzittern. Andere Gondeln schliefen noch, vertäut an schiefstehenden Pfählen, die da und dort aus dem Kanal ragten wie wahllos von Riesenhand hingeschleuderte Speere.

›So ist’s recht, alter Narr, mach die Augen auf!‹ sagte sich Breuer. ›Von überallher kommen die Menschen, um Venedig zu bewundern, Menschen, die sich weigern zu sterben, ehe sie nicht der Gnade seiner einzigartigen Schönheit teilhaftig geworden sind. Wieviel vom Leben mag wohl schon an mir vorbeigezogen sein, allein, weil ich nicht hingesehen habe? Oder hingesehen habe, ohne zu sehen?‹ Gestern hatte er einen einsamen Spaziergang unternommen, hatte die Insel Murano umrundet und hatte gleichwohl nach einer Stunde nichts gesehen, nichts wahrgenommen; es waren keine Bilder von der Netzhaut ins Gehirn gelangt. Seine Aufmerksamkeit hatte einzig Bertha gegolten: ihrem betörenden Lächeln, ihrem hingebungsvollen Blick, der Wärme ihres vertrauensvollen Körpers und ihrem beschleunigten Atem, wann immer er sie untersuchte oder massierte. Diese Bilder besaßen Macht, sie führten ein Eigenleben. Sobald seine Wachsamkeit nachließ, stahlen sie sich in sein Bewußtsein und usurpierten seine Vorstellungen. ›Soll das mein Los sein?‹ fragte er sich. ›Bin ich dazu verdammt, die Bühne zu sein, auf der sich bis in alle Ewigkeit meine Erinnerungen an Bertha in Szene setzen?‹

Am Nebentisch erhob sich jemand. Das metallische Scharren der Stuhlbeine auf dem Pflaster brachte ihn zur Besinnung, und erneut hielt er Ausschau nach Lou Salomé.

Ah, da kam sie! Die Dame, welche nun die Riva del Carbon herunterschritt und die Café-Terrasse betrat, die mußte es sein. Nur sie konnte jenes Billett verfaßt haben, diese stolze, schlanke Frau im Pelz, welche sich nun gebieterisch einen Weg zwischen vollbesetzten Tischen hindurch zu ihm bahnte. Aus größerer Nähe erkannte Breuer, daß sie jung war, jünger womöglich noch als Bertha, ein Schulmädchen gar. Aber was für ein sicheres Auftreten! Bei einem solchen Charisma würde sie es noch weit bringen!

Lou Salomé hielt zielstrebig, ohne das geringste Zögern, auf ihn zu. Wie konnte sie sich dessen nur so sicher sein, daß er der Gesuchte war? Mit der linken Hand strich sich Breuer hastig über den krausen, rötlichen Bart, damit auch ja keine Krümel vom Frühstücksgebäck darin hingen, die Rechte zupfte den schwarzen Rock zurecht und sorgte dafür, daß der Kragen sich nicht unvorteilhaft im Nacken hochschob. Kaum einen Meter vor ihm blieb sie unverhofft stehen und blickte ihm einen Moment lang geradewegs in die Augen.

Mit einemmal verstummte das Geschwätz in Breuers Kopf. Plötzlich bedurfte das Hinsehen keinerlei Anstrengung. Nun spielten sich Netzhaut und Hirnrinde das Bild Lou Salomés ohne weiteres zu und schleusten es bereitwillig in sein Bewußtsein. Eine ungewöhnliche Frau von nicht landläufiger Schönheit: ausgeprägte Stirn, kräftiges, gut geschnittenes Kinn, strahlend blaue Augen, volle, sinnliche Lippen, achtlos frisiertes, am Oberkopf zum Knoten geschlungenes silberblondes Haar, die Ohren und der lange, schlanke Hals gut sichtbar. Insbesondere gefiel ihm, wie einzelne, widerspenstige Haarsträhnen sich der Bändigung widersetzten und verwegen in alle Richtungen standen.

Drei Schritte noch, und dann stand sie an seinem Tische. »Doktor Breuer, ich bin Lou Salomé. Darf ich?« Sie deutete auf einen Stuhl. Und dann saß sie auch bereits, ohne daß Breuer Zeit geblieben wäre, sie angemessen zu begrüßen – also sich zu erheben, sich zu verbeugen, einen Handkuß anzudeuten, den Stuhl zurechtzurücken.

»Cameriere!« Breuer schnippte forsch mit den Fingern. »Einen Kaffee für die Dame. Cafèlatte?« Er blickte fragend zu Fräulein Salomé hinüber. Sie nickte. Trotz der morgendlichen Frische legte sie ihren pelzgefütterten Umhang ab.

»Ja, cafèlatte.«

Breuer und sein Gegenüber schwiegen einen Augenblick lang. Dann sah ihm Lou Salomé forschend in die Augen und hob zu sprechen an: »Ich habe einen zutiefst verzweifelten Freund. Es steht zu befürchten, er könnte sich in naher Zukunft das Leben nehmen. Das wäre für mich ein schmerzlicher Verlust, und überdies insofern tragisch, als ich selber daran einen gewissen Anteil hätte. Nun, das könnte ich ertragen und überwinden, doch ...« – sie beugte sich zu ihm vor und senkte die Stimme – » ... der Verlust ginge weit über meine Person hinaus; der Tod dieses Mannes hätte gewaltige Folgen – für Sie, für die europäische Kultur, für uns alle. Glauben Sie mir.«

Breuer wollte protestieren. ›Sie übertreiben gewiß, mein Fräulein‹, wollte er sagen, brachte die Worte jedoch nicht heraus. Was bei ihren Altersgenossinnen den Eindruck jugendlicher Emphase gemacht haben würde, wirkte an ihr nicht überzogen, klang vielmehr durchaus glaubwürdig. Ihr Ernst und ihre Eindringlichkeit waren nicht so leicht abzutun.

»Wer ist der Herr, der Freund, von dem Sie sprechen? Ist mir der Name geläufig?«

»Noch nicht! Aber sein Name wird bald in aller Munde sein. Er heißt Friedrich Nietzsche. Vielleicht mag Ihnen dieser Brief von Richard Wagner an Professor Nietzsche als Empfehlung dienen.« Sie zog einen Brief aus ihrer Handtasche, strich den Bogen glatt und hielt ihn Breuer hin. »Eines sollten Sie jedoch zuvor wissen: Weder ahnt Nietzsche, daß ich hier bin, noch, daß dieser Brief in meinen Händen ist.«

Fräulein Salomés Bekenntnis ließ Breuer zögern. ›Ja, darf ich die Zeilen denn lesen? Einen Brief, von welchem dieser Professor Nietzsche nicht weiß, daß sie ihn mir aushändigt – nicht einmal weiß, daß sie ihn hat! Wie ist der Brief in ihren Besitz gelangt? Geborgt? Gestohlen?‹

Einer Reihe seiner eigenen Wesenszüge maß Breuer großen Wert bei. Er war loyal, er war großzügig, er war für seinen diagnostischen Spürsinn berühmt. In Wien war er Hausarzt bedeutender Wissenschaftler, Künstler und Denker wie Brahms, Brücke und Brentano. Mit vierzig Jahren genoß er in ganz Europa eine hohe Reputation, distinguierte Persönlichkeiten aus aller Welt nahmen lange Reisen auf sich, um ihn zu konsultieren. Doch weit mehr Wert als auf all dies legte er auf seine Gradsinnigkeit: In seinem ganzen Leben hatte er sich nichts Unehrenhaftes zuschulden kommen lassen. Es sei denn, man legte ihm die Wollust zur Last, welche in seinen Phantasien Bertha galt, und nicht, wie es hätte sein sollen, seiner Frau Mathilde.

Er zögerte daher, den Brief entgegenzunehmen, den ihm Lou Salomé reichen wollte. Aber nur kurz. Ein Blick in ihre ungewöhnlichen kristallblauen Augen, und er griff nach dem Schreiben, das als Datum den 10. Januar 1872 führte und mit der Anrede ›Mein lieber Freund!‹ begann. Mehrere Absätze waren angestrichen.

Nun veröffentlichen Sie eine Arbeit, welche ihresgleichen nicht hat. Was Ihr Buch vor allen anderen auszeichnet ist die vollendete Sicherheit, mit welcher sich eine tiefsinnige Eigentümlichkeit darin kundgibt. Wie anders hätte sonst mir und meiner Frau der sehnlichste Wunsch erfüllt werden können, einmal von außen Etwas auf uns zutreten zu sehen, das uns...

Erscheint lt. Verlag 27.11.2014
Übersetzer Uda Strätling
Zusatzinfo sechs s/w-Fotos
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel When Nietzsche Wept
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Arzt • biografischerRoman • Dreiecksbeziehung • eBooks • Findesiècle • Heilung • HistorischerRoman • Ménageàtrois • Nietzsche • Obsession • Österreich • Philosophie • Philosophie, Psychoanalyse • Psychoanalyse • Psychologie • Roman • Romane • Russin • Wien
ISBN-10 3-641-15737-4 / 3641157374
ISBN-13 978-3-641-15737-1 / 9783641157371
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