Endlich frei (eBook)
Bastei Lübbe (Verlag)
978-3-7325-0614-9 (ISBN)
Was 1985 und 1986 im Iran geschah, wissen Millionen Leser des Weltbestsellers 'Nicht ohne meine Tochter'. Doch mit der Rückkehr in die USA war die Geschichte der damals erst vierjährigen Mahtob noch nicht ausgestanden. Jahrelang musste sie sich vor ihrem Vater verstecken, lebte unter falschem Namen, musste ihr Schicksal vor den Schulfreundinnen verschweigen - denn die Angst vor einer erneuten Entführung war groß.
Wie geht Mahtob Mahmoody heute mit ihrer Vergangenheit um? In poetischen Bildern voller Kraft erzählt sie, wie sie sich von ihrer Angst befreite, sich mit ihrer iranischen Familie versöhnte und endlich ihr eigenes Leben lebt.
Die Geschichte einer traumatischen Kindheit, eines Lebens in Angst - und einer außergewöhnlichen Versöhnung.
KAPITEL 1
Zweiunddreißig Umzüge in ebenso vielen Jahren. Der letzte war vielleicht der schönste, denn zum ersten Mal besitze ich jetzt ein eigenes Zuhause. Ich habe Wurzeln geschlagen und beschlossen, an diesem Ort zu bleiben … zumindest ein wenig länger als bisher … hoffentlich. Ich sitze in meinem Wintergarten, bade im Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinflutet, und wärme mir die Hände an einem Becher dampfenden Milchkaffees. Womit habe ich dieses Glück verdient?
Draußen zwitschern die Vögel ihren Dank für ein neues, frisch gefülltes Vogelhäuschen. Der Frühling in Michigan ist herrlich. Der Schnee weicht zurück und legt die braune Erde frei, die hie und da mit gelblich grünen Grasbüscheln gesprenkelt ist. Neben mir steht ein Tischchen, das mit den Symbolen des persischen Neujahrsfestes Nouruz geschmückt ist. Das Haft Sin, wörtlich die »Sieben ›S‹«, da alle Bestandteile mit dem persischen Buchstaben »S« beginnen, fungiert mit seinem uralten Weisheitsschatz als eine Art Wegweiser beim Übergang von einem Jahr zum nächsten. Zu den Hauptaufgaben des Nouruz gehört die Reinigung. Die Reinigung des Geistes von negativen Gedanken, die Reinigung des Körpers und sogar die Reinigung der Wohnung.
Ich nippe an meinem Kaffee und verspüre einen Energieschub. Ich weiß nicht, ob es mit all dem Gerede über den Frühjahrsputz oder mit dem Anblick meiner Haft-Sin-Tafel zu tun hat, aber ich entschließe mich, heute die letzten Umzugskartons im Keller mit der Aufschrift »Verschiedenes« in Angriff zu nehmen. Drei Monate habe ich die Sachen geflissentlich übersehen, jetzt wird es Zeit.
Als ich die Treppe ins Erdgeschoss hinuntergehe, empfinde ich eine tiefe Freude, dass diese mit weichem Teppich belegten Stufen nun tatsächlich mir gehören. Ich verweile an den Glasschiebetüren in dem bisher unmöblierten Raum, der eines Tages mein Arbeitszimmer werden soll, und inspiziere das fast leere Beet am Rand der Terrasse. Die ersten Tulpen und Narzissen strecken ihre Spitzen durch die noch halb gefrorene Erde. Die Fliederbüsche sind noch kahl. Ich freue mich darauf, hier Blumen und Kräuter zu pflanzen, vielleicht sogar Tomaten zu ziehen. Aber noch ist es nicht so weit.
Im hinteren Teil des Kellers, abgetrennt durch eine Tür, die man ohne Weiteres zumachen und ignorieren kann, befindet sich ein nicht ausgebauter Teil des Hauses, ein ideales Versteck für allerlei Gerümpel. Noch bevor ich die Tür öffne, entfährt mir ein Seufzer. Es sind doch nur noch ein paar Kisten, sage ich mir beim Hineingehen. Wenn du das erledigt hast, geht es dir garantiert besser.
Mein Arbeitsplatz ist vorbereitet. Auf dem Klapptisch steht eine Kiste, die förmlich darauf wartet, geöffnet zu werden. Okay, schauen wir mal, was wir da haben. Verschiedenes, das stimmt: Briefe, Zeitungsausschnitte, Fotos, abgerissene Eintrittskarten, die rote Schlüsselkette, die ich bei einem Talentwettbewerb an der Highschool gewonnen habe – dies und das, Dinge, die einen ideellen Wert, aber sonst keinen oder nur wenig Nutzen haben. Deshalb ist es so schwierig, diese Kisten auszupacken. Sie sind angefüllt mit Überbleibseln aus der Vergangenheit, die nicht so ganz zu meiner Gegenwart passen, und dennoch bringe ich es nicht über mich, sie loszulassen. Während ich mich durch die diversen Schichten wühle, entdecke ich Erinnerungsstücke aus allen Phasen meines Lebens, und mir wird klar, dass ich für diese Aufgabe Zeit brauche, einen bequemen Stuhl und eine zweite Tasse Kaffee. Ich lade mir die Schachtel auf die Hüfte, knipse das Licht aus, schließe die Tür und gehe nach oben in den Wintergarten.
Das Erste, was meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist ein Fotoalbum mit dunkelblauem Einband, auf dem einige Sterne und ein gelber Halbmond kleben … denn »Mahtob bedeutet Mondlicht«. Unwillkürlich muss ich schmunzeln, weil ich daran denke, wie mich meine Freunde und Freundinnen immer mit diesem Satz geneckt haben. Als ich das Album aus der Schachtel nehme, fällt ein Briefumschlag heraus, und meine Gedanken wandern mehrere Jahre zurück zu meinem bisher letzten Versuch, das Album fertigzustellen.
Damals arbeitete ich bei einer Hilfsorganisation für psychisch Kranke in Michigan. Ich mochte meinen Job, meine Kollegen, meine Stadt, meinen skurrilen und bunt zusammengewürfelten Freundeskreis. Das Leben war schön … nur unglaublich arbeitsam. Als sich die Gelegenheit ergab, über ein verlängertes Wochenende wegzufahren, hatte ich sofort zugegriffen und beim Packen aus einer Laune heraus das Album und einen Briefumschlag mit Fotos mitgenommen. Während des Flugs machte ich mich daran, die Fotos einzukleben, und fragte mich, weshalb ich zu Hause dazu nie Zeit fand. Musste das Leben wirklich so hektisch sein?
Schon vor ein paar Jahren hatte Mom, sentimental wie sie ist, angefangen, mir ganze Wagenladungen voller Schätze mitzubringen, die auf die eine oder andere Weise mit meinem Familienerbe zusammenhingen, darunter auch Schachteln mit losen Fotografien aus einem ganzen Leben. Auf der Rückseite der Fotos aus meinen ersten Lebensmonaten ist ein springender Fuchs abgebildet – derselbe Fuchs, der mich nach unserer Flucht im Schlaf verfolgte. Es sind zwar nur seine rot gedruckten Umrisse, aber die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Er springt mit gestreckten Läufen, angelegten Ohren und abstehendem Schwanz. Darunter steht in schwarzer Blockschrift »FOX PHOTO«.
Die Bilder, die ich jetzt in der Hand hielt, waren neueren Datums und nicht bei Fox Photo entwickelt worden. Also zierte kein Raubtier ihre Rückseite, und doch musste ich mich unwillkürlich vergewissern. Eine Angewohnheit, die ich im Laufe eines Lebens in ständiger Alarmbereitschaft entwickelt hatte. Es ist kein Zufall, dass ich in meiner Kindheit diese Abbildung unbewusst als Symbol für meinen Vater abgespeichert habe. Schließlich war er der Fotograf in der Familie, und ich war sein bevorzugtes Motiv. Mein Leben hätte auch völlig anders verlaufen können. Ich frage mich, was aus mir geworden wäre, wenn es nach den Vorstellungen meines Vaters gegangen wäre.
Ich hing meinen Erinnerungen nach, als die glamourös wirkende Frau auf dem Nebensitz sich mir zuwandte und ein Gespräch begann. Schon als sie eingestiegen war, hatte ich sie bemerkt. Sie war eine auffallende Erscheinung, ganz in Schwarz gekleidet mit Ausnahme der Stilettos mit Leopardenmuster. Sie trug eine überdimensionale Umhängetasche und einen modischen Strohhut bei sich. Eine riesige Designersonnenbrille hielt ihr das kurze blonde Haar aus dem Gesicht. Wie es mir oft passiert, drehte sich die Unterhaltung bald um Bücher, und bevor ich wusste, wie mir geschah, kritzelte ich ihre Lektüreempfehlungen in das Heft mit den Kreuzworträtseln der New York Times, das ich für die Reise mitgenommen hatte. Deine Juliet, Gute Geister und Ein Krokodil für Mma Ramotswe.
Schließlich gab ich es auf, mein Album fertigstellen zu wollen, packte die restlichen Fotos wieder in den Umschlag und schob ihn hinten ins Album. Dann eben ein andermal.
Ich scheine etwas an mir zu haben, was Menschen, oft sogar völlig Unbekannte, dazu bringt, mir ihr Herz auszuschütten. Das ist schon lange so, mindestens seit meinem zweiten Schuljahr. Meine Klassenkameraden bildeten eine Schlange hinter dem Klettergerüst und warteten darauf, bis sie an der Reihe waren, sich neben mich auf die Schaukel zu setzen und mit meiner Hilfe, wie man in der Psychologie sagt, »ihre Gefühle zu verarbeiten«. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gedacht, dass über meinem Kopf eine Gedankenblase schwebte mit dem Satz: »Psychologische Hilfe 5 Cent« oder dass ein Schild um meinen Hals hing, auf dem stand: »Der Doktor ist da«, wie bei Lucy von den Peanuts.
Den Rest des Flugs unterhielten wir uns nonstop, und bis zur Landung hatten wir uns zudem ausführlich über Schloss aus Glas, Wasser für die Elefanten und Die Bienenhüterin ausgetauscht, als wären wir alte Freundinnen, die sich lange nicht gesehen hatten.
»Wie lange haben Sie Aufenthalt?«, fragte sie mich, während wir darauf warteten, uns dem Ansturm Richtung Ausgang anzuschließen.
»Ungefähr zwei Stunden.«
»Dann haben Sie noch Zeit für ein Mittagessen.« Es war keine Frage.
Ich wollte protestieren, aber sie blieb hartnäckig. Wir gingen in ein Restaurant, wo wir unsere Unterhaltung über Literatur bei einem Glas Wein und einer gemeinsam bestellten Platte Meeresfrüchte fortsetzten. Ein Thema führte zum nächsten, und bald erzählte mir diese elegante Dame von einem unglaublich schmerzlichen Ereignis in ihrem Leben. Viele Jahre, so sagte sie, habe sie die emotionale Belastung durch diese Erfahrung stumm ertragen und sich nicht einmal ihren engsten Freunden anvertraut.
Während sich ihre Augen mit Tränen füllten, musste ich an den ramponierten schwarzen Bilderrahmen auf meinem Schreibtisch im Büro denken. Auf einem Blatt elfenbeinfarbenem Papier hatte ich Das Gedicht des Webers niedergeschrieben, das mir meine Freundin Hannah am Tag unseres Highschool-Abschlusses mitgegeben hatte. Damals war ich achtzehn, und es war einer der traurigsten Tage meines Lebens.
Das, was meine neue Freundin da beschrieb, waren definitiv dunkle Fäden. Doch in allen dunklen Fäden, davon bin ich überzeugt, steckt auch ein Segen, ob wir ihn nun erkennen oder nicht. Ich fragte mich, ob sie das verstehen würde.
»Ich kann es gar nicht fassen, dass ich Ihnen das alles erzähle«, schniefte sie. »Ich habe das Gefühl, Sie schon seit...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2015 |
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Übersetzer | Rita Seuss, Heide Horn |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | My Name is Mahtob |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Autobiografie • Autobiographie • Autobiographien • Belletristik • Bestsellerliste • bio • Biografie • Biographie • Biographien berühmter Persönlichkeiten • Biographien bestseller • Erfahrungsbücher • Erinnern • Erinnerung • Erinnerungen • Erzählung • Esoterik • Familie • Flucht • Fluchtversuch • Gedanken • Geschichte • Historie • Iran • Islam • Islamabad • Leben • Lebensbericht • Lebensbeschreibung • Lebensgeschichte • Memoiren • Memorien • Musk • Mutter • Mutter Tochter • Nicht ohne meine Tochter • Schicksal • Schicksalsschlag • Tagebücher • Trauma • Vater • Vita |
ISBN-10 | 3-7325-0614-2 / 3732506142 |
ISBN-13 | 978-3-7325-0614-9 / 9783732506149 |
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