Der Tänzer (eBook)

Spiegel-Bestseller

(Autor)

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2014 | 1. Auflage
480 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-04501-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Tänzer -  Colum McCann
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Rudolf Nurejew galt als einer der größten Tänzer aller Zeiten. McCann begibt sich in seinem Roman auf die Spuren eines Künstlerlebens, das rätselhaft bleibt. Aus der Sicht der Wegbegleiter des Genies erzählt, entsteht ein schillerndes Kaleidoskop, das von Ost und West, Partyleben und Künstlereinsamkeit, Genialität, Trieb und Tod erzählt. Ein Leben wie ein Roman - ein wilder Tanz. «Das Buch ist so schwerelos wie ein Grand jeté seines Helden.» (Der Spiegel) «McCann ist ein Geschichtenerzähler, wie wir wirklich nur wenige haben.» (Elke Heidenreich) «Der sowjetische Tänzer Nurejew (1938-1993) setzt sich gleich bei seiner ersten Tournee 1961 in Paris von seiner Truppe ab und bleibt im Westen. Von nun an ist der Tatare ein internationaler Superstar. Rasant erzählt der irische Schriftsteller Colum McCann von den glorreichen und tragischen Lebensstationen im wüsten Leben eines Jahrhundertgenies. Im doppelten Sinn des Wortes wird die Lektüre zu einem schwindelerregenden Erlebnis.» (Focus) «Man muss rein gar nichts von Ballett verstehen, um den fast überirdischen Zauber auch beim Lesen zu spüren. Was daran liegt, dass der Autor ebenfalls ein Genie ist.» (Brigitte)

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award und den Rooney Prize for Irish Literature. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen Der Tänzer und Zoli. Für den Roman Die große Welt erhielt er 2009 den National Book Award. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York.

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award und den Rooney Prize for Irish Literature. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen Der Tänzer und Zoli. Für den Roman Die große Welt erhielt er 2009 den National Book Award. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York. Dirk van Gunsteren, 1953 geboren, übersetzte u.a. Jonathan Safran Foer, Colum McCann, Thomas Pynchon, Philip Roth, T.C. Boyle und Oliver Sacks. 2007 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis.

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Sowjetunion 1941  56

Drei Winter. Mit Pferden bahnten sie Wege durch Schneeverwehungen, sie trieben sie voran, bis sie starben, und dann aßen sie sehr traurig das Pferdefleisch. Die Sanis stapften durch den Schnee und hatten die Morphiumampullen mit Pflastern unter ihren Achseln befestigt, damit das Morphium nicht gefror, und je länger der Krieg dauerte, desto schwerer fiel es ihnen, die Venen der verwundeten Soldaten zu finden – die Soldaten verfielen zusehends und starben schon lange bevor sie wirklich starben. In den Gräben banden sie die Ohrenklappen ihrer Uschinkis fest um den Kopf, stahlen die Mäntel von Gefallenen und schliefen dicht zusammengedrängt, die Verwundeten in der Mitte, wo sie am besten gewärmt wurden. Sie trugen gefütterte Hosen, mehrere Lagen Unterwäsche, und manchmal machten sie Witze darüber, dass sie am liebsten Huren um den Hals tragen würden wie Schals. Nach einer Weile zogen sie die Stiefel nicht mehr allzu oft aus. Sie hatten Soldaten gesehen, deren erfrorene Zehen plötzlich einfach abfielen, und begannen zu glauben, dass man die Zukunft eines Mannes an seinem Gang ablesen konnte.

Zur Tarnung nähten sie zwei weiße Bauernhemden aufeinander, sodass sie über die Mäntel passten, zogen mit Schnürsenkeln die Halsausschnitte wie Kapuzen um das Gesicht zusammen und konnten stundenlang unerkannt im Schnee liegen. Die Flüssigkeit in den Rückstoßdämpfern ihrer Geschütze gefror. Die Pufferfedern ihrer MGs zersprangen wie Glas. Wenn sie Metall mit nackten Fingern berührten, riss die Haut in Fetzen ab. Sie machten Holzkohlefeuer und legten Steine hinein, die sie später in die Taschen steckten, damit sie ihnen die Hände wärmten. Wenn sie scheißen mussten, was nicht oft vorkam, hielten sie es für das Beste, in die Hosen zu machen. Dort blieb die Scheiße, bis sie gefroren war. Wenn sie dann einen Unterstand gefunden hatten, brachen sie die Masse heraus, und nichts stank, noch nicht einmal ihre Handschuhe – bis Tauwetter einsetzte. Sie banden Beutel aus Öltuch unter ihren Hosen fest, damit sie ihre Schwänze beim Pinkeln nicht der Kälte aussetzen mussten, und sie lernten, die Wärme in den Pissbeuteln zwischen ihren Beinen zu genießen, und manchmal half ihnen das, an Frauen zu denken, bis die Pisse gefror und sie wieder im Nirgendwo waren, auf einer weiten, von der Flamme über dem Schornstein einer Ölraffinerie beleuchteten Schneefläche.

Sie blickten über die Steppe und sahen die Leichen anderer Soldaten, erfroren, eine Hand in die Luft gereckt, ein Knie durchgedrückt, die Bärte weiß vom Frost, und sie lernten, den Toten die Kleider auszuziehen, bevor sie darin in Leichenstarre verfielen, und dann beugten sie sich hinunter und flüsterten: Tut mir Leid, Kamerad, und danke für den Tabak.

Sie hörten, dass der Feind aus Mangel an Bäumen Leichen auf die Wege legte, und versuchten, nicht hinzuhören, wenn Geräusche über die Eisfläche hallten – Reifen, die über Knochen knirschten und weiterrollten. Nie herrschte Stille, denn die Luft trug alle Geräusche weit: das Zischen der Skier, auf denen die Spähtrupps unterwegs waren, das Summen der Hochspannungsleitungen, das Pfeifen der Granaten, ein Kamerad, der nach seinen Beinen, seinen Fingern, seinem Gewehr, seiner Mutter schrie. Morgens wärmten sie ihre Gewehre mit einer halben Ladung, damit ihnen der Lauf nicht bei der ersten Salve um die Ohren flog. Sie wickelten Kuhhaut um die Griffe der Flugabwehrkanonen und deckten die Kühlschlitze der MGs mit alten Hemden ab, um den Schnee am Eindringen zu hindern. Die Soldaten auf Skiern lernten, im Hocken zu gleiten, sodass sie ihre Handgranaten seitlich werfen und im Vorstoßen kämpfen konnten. Sie fanden einen zerstörten T-34, einen Verwundetentransporter oder sogar einen feindlichen Panzer, ließen die Kühlflüssigkeit durch den Aktivkohlefilter ihrer Gasmasken laufen und betranken sich damit. Manchmal tranken sie so viel Kühlflüssigkeit, dass sie nach ein paar Tagen blind waren. Sie strichen die Geschütze mit Sonnenblumenöl ein – nicht zu viel auf den Schlagbolzen, gerade die richtige Menge auf die Federn –, und mit dem überschüssigen Öl rieben sie ihre Stiefel ein, damit das Leder nicht brach und Kälte und Nässe hereinließ. Sie sahen in den Munitionskisten nach, ob ein Fabrikmädchen in Kiew, Ufa oder Wladiwostok ein Herz für sie hineingemalt hatte, und selbst wenn nicht, war es, als hätte sie es getan, und dann schoben sie die Magazine in ihre Katjuschas, ihre Maxims, ihre Degtjarows.

Wenn sie vorstießen oder sich zurückzogen, sprengten sie mit 100-Gramm-Ladungen Schützenlöcher in die Erde, um ihr Leben zu retten, sofern ihr Leben etwas war, das sie retten wollten. Sie teilten sich Zigaretten, und wenn sie keinen Tabak mehr hatten, rauchten sie Sägemehl, Teeblätter oder Kohl, und wenn es nichts anderes gab, rauchten sie Pferdescheiße, doch die Pferde litten solchen Hunger, dass sie kaum noch schissen. In den Bunkern hörten sie Radio: Schukow, Jeremenko, Wassilewski, Chruschtschow, auch Stalin, dessen Stimme nach Schwarzbrot und gesüßtem Tee klang. In den Gräben wurden Lautsprecherkabel verlegt, man brachte Verstärker an die Front und richtete die Lautsprecher nach Westen, damit man die Deutschen mit Tangos, Radiosendungen und Sozialismus wach halten konnte. Man erzählte ihnen von Verrätern, Deserteuren, Feiglingen und schärfte ihnen ein, sie zu erschießen. Die roten Orden, die diese Toten an der Brust trugen, nahmen sie ihnen ab und befestigten sie an den Innenseiten ihrer Kittelhemden. Zur Tarnung bei Nacht beklebten sie die Scheinwerfer der Wagen, Verwundetentransporter und Panzer mit Abdeckband. Sie stahlen es auch und wickelten es um Hände, Füße und ihre Fußlappen, und manche wickelten es sogar um die Ohren, doch das Band riss ihnen die Haut auf, und sie schrien, wenn die Erfrierungen kamen, und dann noch mehr, wenn die Schmerzen einsetzten, und einige hielten sich die Pistole an den Kopf und sagten Adieu.

Sie schrieben an Galina, Jalena, Nadia, Tania, Natalia, Dascha, Pawlena, Olga, Sweta und Walia – sorgsam geschriebene Briefe, die zu ordentlichen Dreiecken gefaltet waren. Sie erwarteten keine lange Antwort, vielleicht nur eine Seite, deren Parfümduft an den Fingern des Zensors blieb. Die Briefe an die Front bekamen Nummern, und wenn eine Nummernserie fehlte, wussten die Männer, dass es einen Posttransport erwischt hatte. Die Soldaten saßen in den Gräben, starrten ins Leere und schrieben in Gedanken Briefe an sich selbst, und dann waren sie mit einem Mal wieder mitten im Krieg. Granatsplitter trafen sie unter dem Auge. Gewehrkugeln durchschlugen ihre Wadenmuskeln. Bombensplitter fuhren in ihren Hals. Mörsergranaten brachen ihnen das Rückgrat. Phosphorbomben setzten sie in Brand. Die Toten wurden auf Pferdewagen geladen und in mit Dynamit ausgehobenen Massengräbern beerdigt. Frauen aus der Umgebung kamen mit umgebundenen Kopftüchern zu den Gruben, um die Gefallenen zu betrauern und heimlich zu beten. Die Totengräber, die man aus den Gulags geholt hatte, blieben abseits stehen und ließen den Frauen ihre Rituale. Auf die Toten wurden noch mehr Tote gehäuft. Gefrorene Knochen waren schwer zu brechen, und so lagen die Leichen schrecklich verkrümmt da. Die Totengräber schaufelten Erde darüber, und manchmal stürzten sie sich in ihrer Verzweiflung selbst in die Grube, und noch mehr Erde wurde darüber geschaufelt, sodass es nachher hieß, man könne dort ein leises Beben spüren. Oft kamen abends die Wölfe aus dem Wald und trabten hochbeinig durch den Schnee.

Die Verwundeten wurden auf Wagen, Pferde oder Schlitten geladen. In den Feldlazaretten waren sie mit einer ganz neuen Sprache konfrontiert: Dysenterie, Typhus, Kongelation, Grabenfuß, Ischämie, Pneumonie, Zyanose, Thrombose, Herzschmerzen – und wenn sie von diesen Krankheiten genesen waren, schickte man sie wieder an die Front.

Auf dem Land suchten die Soldaten nach kürzlich abgebrannten Dörfern, denn dort war die Erde weich, sodass man sie aufgraben konnte. Der Schnee gab Geschichten preis: hier eine Blutlache, dort einen Pferdeknochen, das Gerippe eines PO-2-Sturzkampfbombers, die Leiche eines Pioniers, den sie in der Spasskajastraße gekannt hatten. In Charkow versteckten sie sich in Trümmern und Ruinen, in Smolensk tarnten sie sich unter Ziegelsteinhaufen. Sie sahen Eisschollen auf der Wolga und entzündeten Öllachen auf dem Eis, sodass es ...

Erscheint lt. Verlag 1.8.2014
Übersetzer Dirk van Gunsteren
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ballett • Nurejew • Tanz
ISBN-10 3-644-04501-1 / 3644045011
ISBN-13 978-3-644-04501-9 / 9783644045019
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