Schlafes Bruder (eBook)

Roman. Jubiläumsausgabe
eBook Download: EPUB
2014 | 4. Auflage
224 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-960535-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schlafes Bruder -  Robert Schneider
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»Das ist die Geschichte des Musikers Johannes Elias Alder, der zweiundzwanzigjährig sein Leben zu Tode brachte, nachdem er beschlossen hatte, nicht mehr zu schlafen.« So beginnt der Debütroman von Robert Schneider, mit dem ihm vor 30 Jahren ein literarischer Welterfolg gelang. Der Auftaktsatz nimmt die Geschichte über das Leben eines Genies in der Enge eines österreichischen Bergdorfs vorweg: Schon als Kind ist der 1803 geborene Elias Außenseiter, sein außergewöhnlich scharfes Gehör und sein musikalisches Talent sorgen bei den Dorfbewohnern für Aufsehen und Argwohn. Die unerfüllte Liebe zu seiner Cousine Elsbeth quält ihn im Laufe der Jahre, und sie treibt ihn an. Bei einem Orgelwettbewerb in Feldberg improvisiert Elias über den Bach-Choral »Komm, o Tod, du Schlafes Bruder« und entfacht eine ungeahnt starke Wirkung auf sein Publikum und sich selbst. Der Roman wurde in Dutzende Sprachen übersetzt, erfolgreich verfilmt und ist einer der großen Klassiker der Gegenwart.

Robert Schneider, geb. 1961 in Bregenz, gelang mit »Schlafes Bruder« eines der erfolgreichsten literarischen Debüts der letzten Jahrzehnte. Er ist Autor von mehreren Romanen, Theaterstücken, Lyrik und Filmen. Im Frühjahr 2022 erscheint mit »Buch ohne Bedeutung« nach 15 Jahren erstmals wieder ein neuer Erzählungsband von Robert Schneider.

Robert Schneider, geb. 1961 in Bregenz, gelang mit »Schlafes Bruder« eines der erfolgreichsten literarischen Debüts der letzten Jahrzehnte. Er ist Autor von mehreren Romanen, Theaterstücken, Lyrik und Filmen. Im Frühjahr 2022 erscheint mit »Buch ohne Bedeutung« nach 15 Jahren erstmals wieder ein neuer Erzählungsband von Robert Schneider.

Ein Vater seinen Kindern

Der hochwürdige Kurat Elias Benzer war ein Mann von großen rednerischen Talenten, ein emphatischer Freund des Lebens und – dadurch bedingt und seiner natürlichen Anlage gehorchend – ein leidenschaftlicher Verehrer alles Weiblichen. Diese Leidenschaft gereichte ihm schließlich zum Untergang, wie später noch dargelegt werden wird.

Kurat Benzer stammte aus Hohenberg im Rheintalischen, das von alters her ein Bollwerk des Aberglaubens und der Dämonerei gewesen war. Darum wußte er von der letzten Hexenverfeuerung im Vorarlbergischen zu berichten, die er noch als Kind mit eigenen Augen gesehen hatte. Dieses gewaltige Erlebnis wurde zum Grundpfeiler seiner Theologie schlechthin. Unzählige Male predigte er seinen Eschberger Bauern von jener Verbrennung, und zwar derart wortfeurig, daß ihnen davon die Münder vertrockneten und das Blut in Köpfen und Ohren zu leuchten anfing. Ja, einige wähnten sich gar schon angezündet oder den Flammen leibhaftig übergeben. Wo immer sich dem Kuraten Benzer in der sonntäglichen Evangelienlesung die Gelegenheit bot, eine Brücke zu seinem imposanten Kindheitserlebnis zu schlagen, überquerte er sie auch. Vermöge seiner leuchtenden Phantasie gelang es ihm, die Episode mit dem brennenden Dornbusch am Ende doch wieder in die Szene vom brennenden Weib zu Hohenberg hinüberzuführen. Im Zusammenhang derartiger Homilien wäre es in Eschberg beinahe zu einem mörderischen Vorfall gekommen. Durch die zündenden Predigten des Kuraten bestärkt und daher guten Gewissens, beschlossen drei Lamparter am Funkensonntag des Jahres 1785, anstelle der Strohhexe die Zilli Lamparter, genannt Seelenzilli, in das Funkenfeuer zu stürzen.

Die Seelenzilli, eine greise Witwe, die mutterseelenallein auf des Dorfes höchstem Hof ihres Stündleins harrte, stand in dem merkwürdigen Ruf, mit verstorbenen Eschbergern disputieren zu können. Sie begründete ihre seherische Gabe damit, daß sie von allen Bewohnern dem Herrgott am nächsten wohne und deshalb das Wehklagen der jenseitigen Herrschaften deutlich vernehmen könne, vorausgesetzt, es herrsche eine klare Sternennacht, denn eine Wolkendecke verstelle das Hören. Das leuchtete jedem ein. Als dann die Seelenzilli in der Folge behauptete, daß ihr etliche Mohren aus dem Morgenland erschienen seien, Männer und Weiber von kohlenschwarzer Haut, kohlenschwarzem Gesicht, kohlenschwarzen Gliedern und kohlenschwarzen Zähnen, da zweifelte niemand mehr an den unheimlichen Fähigkeiten dieses Weibes.

Das brachte nun die Greisin auf den Gedanken, ein System zu ersinnen, das einer Art Seelenbuchhaltung glich und ihr indirekt eine geregelte Alterspension einbringen sollte. Sie wußte, daß ein Verstorbener, ehe er ins Paradies eingeht, erst im Fegefeuer brennen muß, und also beschloß sie, einen Katalog all dessen anzulegen, das die Lebenden zur unverzüglichen Rettung ihrer toten Verwandten zu leisten hätten. Nun war in Eschberg verwandt jeder mit jedem. Um die Verwirrung geringer zu halten, hieß man sich beim Vornamen, und die Namen der Eheweiber glich man den Vornamen ihrer Männer an.

Es wanderte also eines Tages die Seelenzilli beschwerlich hinunter zum Hof eines Lamparters und eröffnete ihm, daß dessen Vater ihr jammernd und flennend erschienen sei. Der Vater könne keinen Frieden mehr finden, weil er ihr noch immer die sieben Klafter weiches gehacktes Brennholz schulde. Und weiter: In ungezählten Seancen mit Eschberger Toten wurde die Seelenzilli schließlich inne, daß ihr eigentlich jeder, ob Lamparter oder Alder, etwas schuldete. Aus ihrem Mund klang es dann gleichförmig drohend: »Acht Eier, zehn Vaterunser. Drei Pfund Wachs und fünfzig Ave. Ein Zentner Laubstreu und sieben Heilige Messen. Zehn Ellen Leinen und acht Psalter.«

Da half das ganze Schimpfen und Zutragen beim Kuraten nichts. Noch nie hatte man so viel Wachs, so viele Döchte und Heilige Messen spendiert. Noch nie war im Eschberger Kirchlein so inbrünstig gebetet worden. Wie man sieht, wußte die Seelenzilli das Notwendige mit dem Heilsamen glücklich zu verbinden, und im Grunde war sie die erste Pensionsbezieherin von Eschberg, man darf behaupten, ja, des Vorarlbergischen überhaupt.

So kam es dahin, daß man dieses Weib zu hassen begann. Unglücklicherweise grassierte zu jener Zeit eine äußerst merkwürdige und unseres Wissens bisher nur in Eschberg beobachtete Erdäpfelseuche auf den Bergäckern des Dorfes. Angeblich sollen die Erdäpfel über Nacht hohl geworden und auf Haselnußgröße geschrumpft sein. Wie auch immer.

Unter Lachen und Johlen, durchsetzt vom Rosenkranzgesäusel der Weiber, zog man die Seelenzilli auf einem Misthorner hinüber in den Weiler, der Altig genannt wurde, wo der Scheiterhaufen errichtet worden war. Die Seelenzilli gellte vor Todesnot und schwur, sie wolle jedem das Seine zurückgeben, aber ein Alder wies donnernd und mit feuersgeilen Augen auf die Predigten des Kuraten, und machte denen, die von der Tat schon ablassen wollten, wieder neuen Mut. Als man die Greisin vom Misthorner band, schien sie noch immer zu schreien, aber ihr eingeschlagener, von Schrunden entstellter Mund brachte keinen Laut mehr hervor. Salz klebte auf ihren furchigen Wangen, und aus den Mundwinkeln floß ein roter Speuz, den sie dürstend mit langer Zunge ableckte. Das Feuer teilte die Nacht. Etliche zogen die Hüte tiefer, verbargen ihre Gesichter, um nicht erkannt zu werden, wenn sie die Fäuste und Schuhkappen in den verlumpten Körper des Weibes spitzten. Sogar die Kinder kniffen und spuckten und ließen nicht davon ab. Als ein Unbekannter ihr das Kopftuch vom Schädel ohrfeigte, ging ein dunkles Murmeln durch die todesschwüle Bauernschar. Zum ersten Mal sah jeder, daß die Seelenzilli vollkommen kahlhäuptig war, und selbst der Kleingläubigste wähnte eine leibhaftige Hexe vor seinen Augen. Der Unbekannte trieb ihr die pralle Faust in den Magen und in die leeren Brüste, schrenzte ihr die Kleider weg, sollte doch alles so vor sich gehen, wie es der hochwürdige Kurat in seinen Predigten geschildert hatte. Aber plötzlich jellte der Unbekannte so grauenhaft auf, daß man fürchtete, er sei um den Verstand gekommen. »Die Pestseuche! Die Pestseuche!« brüllte er unaufhörlich und stürzte über den harschen Schnee in die Nacht. Und gleich den Funken der zu Boden krachenden Scheite stob auf der Stelle alles auseinander und hinein in jede Himmelsrichtung. Diese vermeintliche Pestseuche hatte dem Weib die letzten Wochen ihres Lebens gerettet.

Als unserem Kuraten dieser Vorfall durch ein Aldersches Plappermaul zu Ohren kam, gelobte er noch am selbigen Tag, nie wieder eine Feuerpredigt zu halten. Mit den Worten, es sei doch um Dreifaltigkeitswillen nicht alles bar zu nehmen, was ein Pfarrer von der Kanzel predige, entließ er das in seinem Glauben an die unzweifelbare Wahrheit des Priesterwortes empfindlich erschütterte Plappermaul.

Der geistvolle Entschluß währte aber nicht lange Zeit, denn bald mußte der Kurat feststellen, daß der religiöse Eifer der Eschberger im Abnehmen begriffen war. Die samstäglichen Rosenkränze, tadelte er, seien bloß noch von Weibsbildern besucht, die Unsitte des Tabakkäuens während des Heiligen Meßopfers sei wieder Mode geworden, einige Mannsbilder auf der Orgelempore störten mit ihrem frechen Grinsen die Andacht, und außerdem seien in den letzten zwei Wochen lediglich acht Kreuzer Opfergeldes eingegangen. Was aber das Allerschändlichste sei, und er blitzte teuflisch in die erschrockenen Äuglein einiger Alder Jungfrauen, daß neuerdings in den Häusern des Dorfes Winkeltänze veranstaltet und geistige Getränke ausgeschenkt würden. Als sich in der Folgezeit an den monierten Zuständen nichts änderte und sich an drei Sonntagen hintereinander außer ein paar Schildpattknöpfen nichts aus dem Opferbeutel rütteln ließ, brach der Kurat das Gelöbnis. Er sann auf eine Predigt, die den Eschbergern jetzt und für alle Ewigkeit den sturen Kleinmut austriebe.

Der Geist zu jener verhängnisvollen Predigt am Pfingstfest des Jahres 1800 überkam den Kuraten im Stall seines Widums, wohin er zu gehen pflegte, wenn immer er auf Schwerwiegendes sann. In der lauen Luft des Stalls, unter Kühen, Ziegen, Säuen und Hühnern, mochte er denken. Dort saß er nun auf seinem Holzfäßchen neben dem Schweinekoben, die Hände in die Stirn gelegt. Lange saß er einfallslos, wußte nur, daß er das Bild des Evangeliums – die Feuerszungen des Pfingstwunders – in ein Feuer ganz anderen Ausmaßes hinüberführen wollte. Lange saß er auf dem Fäßchen, sinnierte und fand keine Brücke, die zu überqueren ihm günstig erschien. Als ihm das Gesäß einschlief, erhob er sich unmutig, tat einige Schritte und tappte in eine noch dampfende Kuhklatter. Er rutschte, stürzte rücklings und mit dem Hinterkopf um Dreifaltigkeitswillen hart auf die Kante des Holzfäßchens. Das Fäßchen! Das war es! Das Schwarzpulver! Marodierende napoleonische Soldaten hatten es im Wald verloren. Er hatte es in Verwahrung genommen, auf daß kein Unfug damit geschehe. Vorsichtig langte er nach der daumendicken Beule und maulte, weshalb der Heilige Geist ausgerechnet auf diese Weise über ihn habe kommen müssen. Aber die Feuerpredigt war augenblicklich entworfen. Bei Nacht stieg der Kurat dann hinab in den Weiler, wo der Lamparter Haintz, der Mesmer von Eschberg, wohnte. Man sah die Kerzen bis zum Stumpf brennen. So lange blieb der Kurat.

Am Pfingsttag nahm alles seinen verhängnisvollen Lauf. Zwar stutzten etliche Kirchgänger ob der sonderbar ausgelegten Schnur, doch niemand zollte dem Umstand die ihm gebührende Obacht. Einer, dem es die Haare versengt hatte, wußte im nachhinein von einem merkwürdigen Fäßchen zu berichten. Er habe noch seinen Nachbarn gestüpft und zu ihm gesagt: »Sieh! Er...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2014
Reihe/Serie Reclam Taschenbuch
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 30 Jahre Schlafes Bruder • Anspruchsvolle Unterhaltungsliteratur • Bestseller • Johannes Elias Alder • Musik • Neuausgabe Schlafes Bruder • Robert Schneider Bildungsroman • Robert Schneider Buch • Robert Schneider Dorfroman • Robert Schneider Künstlerroman • Robert Schneider Musikerroman • Robert Schneider Mythologie • Robert Schneider Orgel • Robert Schneider Roman • Robert Schneider Roman Musik • Robert Schneider Roman Musiker • Robert Schneider Tod Liebe • Roman • Roman Hypnos Thanatos • Roman Tod Schlafmangel • Schlafes Bruder Jubiläum • Wer liebt schläft nicht • Zeitgenössische Romane
ISBN-10 3-15-960535-3 / 3159605353
ISBN-13 978-3-15-960535-7 / 9783159605357
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