Die Märchentante, der Sultan, mein Harem und ich (eBook)

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2014 | 2. Auflage
256 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-96609-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Märchentante, der Sultan, mein Harem und ich -  Helge Timmerberg
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Lose Seiten eines Märchens, genannt »Die Perlenkarawane«: Seit einer Berliner Winternacht vor über dreißig Jahren ist Helge Timmerberg davon fasziniert - und von seiner Erfinderin, Elsa Sophia von Kamphoevener. Als Mann verkleidet hatte sie an türkischen Lagerfeuern die besten Erzählungen gesammelt. Mit großer Wucht und Sinn für Komik schildert Timmerberg, wie die Geschichte der Märchenbaronin ihm immer wieder Türen, Herzen und Geldbörsen öffnete. Er erzählt von seinen Anläufen, mit ihrer Story Hollywood zu erobern, und von seiner eigenen Suche über Jahrzehnte, die ihn nach Kairo und an den Bosporus führte. Und von Marokko, dem Land, das ihn vom hartnäckigsten Liebeskummer befreite, ihm einen guten Freund schenkte und schließlich sogar den Vater zurückgab.

Helge Timmerberg, geboren 1952 im hessischen Dorfitter, trampte mit siebzehn nach Indien und beschloss, Journalist zu werden. Er zählt zu den innovativsten Journalisten und Reiseschriftstellern Deutschlands und veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung, der Zeit, Stern, Spiegel, Playboy u. a. »Tiger fressen keine Yogis« war sein erster großer Erfolg. Bei Malik und Piper erschienen mehrere Bestseller, zuletzt u. a. die Reisebücher »Die Straßen der Lebenden«, »Das Mantra gegen die Angst«, die Autobiografie »Lecko mio« und »Joint Adventure«.

Helge Timmerberg, 1952 im hessischen Dorfitter geb., reiste mit siebzehn zum erstenmal nach Indien. Dort beschloss er, Journalist zu werden; seitdem schreibt er Reisereportagen aus aller Welt, u.a. für "Stern" und "Die Zeit". Er lebt in St. Gallen und Wien und ist Autor von u.a. "Tiger fressen keine Yogis", "Shiva-Moon", "In 80 Tagen um die Welt" und zuletzt "African Queen".

Es war einmal ein Märchen ... Es lauerte einmal ein Märchen in einem losen Stapel DIN-A4-Blätter neben dem Gästebett von Endi Effendi. Draußen fielen Schneeflocken, drinnen Schleier. Können Sätze wie Schleier fallen? Warum nicht. Sätze sind Alleskönner. Sie können ver- und entschleiern, sie können auch leiern, eiern, abschweifen und verloren gehen.Verloren im Orient, in diesem Fall, denn es war ein tür­kisches Märchen. Es führte mich in einen Basar, in ein Kaffeehaus und in den Harem des Sultans. Und dann brachte es mich in die Wüste hinaus. Das Märchen hieß »Die Perlenkarawane« und handelte von einem Mann, der vor seiner streitsüchtigen Frau erst in die Schwer­hörigkeit und dann in die Welt der Träume flüchtete. Ich sollte spätestens an dieser Stelle meine Beziehung zu Volksmärchen thematisieren. Sie war denkbar schlecht. Ich war dreißig, ich war Profi, ich war zum Mann gereift, und wann immer mir ein beseeltes Hippiekind indianische, vietnamesische, chinesische, bolivianische, afrikanische und indische Märchen schenkte, landeten sie in der Tonne. Man muss Völkerkundler sein, um sie spannend zu finden, oder man nimmt vor der Lektüre psychedelische Pilze ein. Aber wer macht das, wer will das, wer braucht Geschichten, die erst durch Drogengenuss unterhaltend werden? Es sollte sich umgekehrt verhalten: Ein Satz, der nicht wie eine Pille wirkt, ist kein guter Satz, und ein Märchen, das dich nicht wie eine Droge an sich reißt, ist keine gute Geschichte. Es gibt sanfte und harte Drogen. Eine Geschichte, die das Gemüt eines Abends umdreht, gehört zu den sanften, eine Geschichte, die dein Leben verändert, zu den harten, und ein Märchen, das zu meinem Leben wird, zu den superharten. Dreißig Jahre später öffnet das na­türlich alle Türen, Tore, Balkon- und Fensterläden zu den wildesten Spekulationen. War die »Perlenkarawane« ­eines dieser Vampirmärchen, die sich den Leser wie frisches Blut reinziehen? Gehörte sie zu den Zaubergeschichten, die dich mitnehmen und nie wieder zurückbringen, weil du eine Rolle, vielleicht sogar der Held in ihnen geworden bist? Wurde mein Leben von einem Märchen verschluckt? Das wäre dann Voodoo. Oder war es vielleicht gar kein Märchen, das in dem Stapel loser DIN-A4-Blätter neben Endi Effendis Gästebett lauerte, sondern einer jener uralten türkischen Geister, die die Form eines Märchens angenommen haben? Soll alles vorkommen. Und zuzutrauen wäre es ihnen. Die bösen heißen Dschinn und sind männlich, die guten heißen Peri und sind weiblich, und tatsächlich glaubte ich einer Frau zuzuhören, als ich das Märchen las. Endi Effendi bestätigte beim Frühstück meine Vermutung. Er sagte, eine alte Schachtel habe »Die Perlen­karawane« aufgeschrieben, wobei er das »auf-« betonte, denn wenn es mir um die wahre Autorenschaft ginge, müssten wir bei den zentralasiatischen Schamanen suchen, und das vor etwa 1300 Jahren. Weil ich das ablehnte, blieben wir bei der alten Schachtel. Sie kam in Hameln zur Welt, sie wuchs in Istanbul auf, sie ritt als Mann verkleidet jahrelang durch das Weltreich der Sultane, um an den Feuern der Karawansereien so lange den Märchenerzählern zu lauschen, bis sie selbst einer geworden war, und später, viel später, hatte sie an den Fronten des Zweiten Weltkrieges deutschen Landsern türkische Märchen erzählt, damit ihnen das Sterben leichter fiel. Ihr Name: Baronin Elsa Sophia von Kamphoevener. Die Landser nannten sie »Kamerad Märchen«. Wer Endi Effendi kannte, weiß, dass seine Frühstücke lang waren und ich hier nur die absolute Kurzfassung seines Vortrages wiedergebe. Wer Endi Effendi kannte, weiß, dass er bei etwa tausend Bechern Tee und etwa tausend Pall Mall in etwa tausend Unter-, Neben- und Parallelgeschichten schwelgte, und wer das für arg übertrieben hält, kannte Endi Effendi eben nicht. Er war ein fleischgewordenes Lexikon, durch das hin und wieder der Kosmos gepfiffen ist. Er wusste nicht nur alles, er wusste mehr. Allgemeinwissen, Geheimwissen, mein Wissen, dein Wissen, sein Gehirn saugte es wie ein Schwamm auf. Wäre sein barocker Bauch nicht gewesen, würde ich sagen, sein Gehirn war der größte Körperteil an ihm. Ich nutzte es gern, egal, zu welcher Geschichte. Endi Effendis goldene Worte ließen jeden Text glänzen. Dass es sich dabei immer auch um Blattgold oder um ein Goldimitat handeln konnte, erwies sich nie als Problem. Die Redaktionen schluckten alles; selbst den Schlussredakteuren, intern auch »Korinthenkacker« genannt, fiel nicht ein einziges Mal auf, wenn sich Wissen mit Wahnsinn verband oder Journalismus mit Science-Fiction. Der nahtlose Übergang war seine Königsdisziplin. Es brauchte Vorstopper-Qualitäten, um nicht immer wieder bei den zentralasiatischen Schamanen zu landen oder bei den Architekten von Samarkand. Ich hatte sie. Ich konnte ihn stoppen. Ich arbeitete daran, seitdem wir Freunde waren, und wir waren das nun schon zehn Jahre lang. Das ideale Team. Dick und Doof. So sah er es, wenn er ehrlich war, aber das erfuhr ich erst nach seinem Tod. Es wird Zeit, ihm zu vergeben, darum schreibe ich über ihn, aber auch, weil ich ohne Endi Effendi nicht beschreiben kann, wie alles begann. Und auch nicht, wie es weiterging. Drei Brüder Es ist schön, durch den Schnee zu fahren, wenn man gerade eine Idee hat, die fürs Leben reicht. Obwohl der ich weiß nicht wie viele Jahre alte Peugeot 204 aus der ich weiß nicht wie vielten Hand brav mit mir nach Hause eilte, schien alles stillzustehen. Fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn, vor allem nachts, wenn sich meine Gedanken synchron mit den Scheinwerferkegeln in die Dunkelheit fraßen, der Motor sein Mantra brummte und eine Bluesgitarre aus dem Radio perlte, war immer große Meditation für mich, auch ohne eine große Idee. Aber jetzt standen die Uhr, der Planet und das Weltall still, nur der Peugeot und die Schneeflocken nicht. Für eine Idee ist dieses allgemeine Innehalten wie ein Nest, in dem sie brüten, ausschlüpfen und erste Flugversuche proben kann, um dann den Flattermann durch Zeit und Raum zu machen. Zum Beispiel nach L.A. Diesem Stoff kann sich Hollywood nicht entziehen. Vor der Märchenerzählerin müssen sie sich verbeugen, anders geht es nicht. Sie ist die Mutter aller Filme, und der Orient ist der Vater aller Träume, und wir erwischen ihn mit ihr gerade noch zwanzig Jahre vor dem Untergang des Osmanischen Reichs. Noch hatte der Sultan das Sagen, und es gab Eunuchen und Haremsdamen, noch zogen die Karawanen von Persien bis Marokko, von Bagdad bis Belgrad, von Turkmenistan bis Jerusalem ungehindert durch den 37-Völker-Staat, noch war die Türkei, wie die Baronin im Alter traurig sagte, »ein Märchenland«. In diesem Märchen wuchs sie auf, durch dieses Märchen ist sie geritten, als Mann verkleidet und scharf auf Geschichten. Und als die vereinigten Staaten des märchenhaften Orients an der Übermacht des Ok­zidents zugrunde gingen, kehrte sie nach Deutschland ­zurück und erzählte keine Märchen mehr, denn sie versuchte zu vergessen. Und wovon lebte sie? Sie heiratete einen Arzt. Aber der wurde irgendwann schwer krank, und als er wieder einmal in der Nacht vor Schmerzen nicht schlafen konnte, bat er, ohne von ihrer Vergangenheit zu wissen, sie darum, ihm eine Geschichte zu erzählen, irgendeine - was sie tat. Das Ergebnis war die klassische Win-win-Situation. Er vergaß seine Schmerzen, und sie verstand, dass sie den Untergang des alten Orients mit dessen Märchen jederzeit wieder rückgängig machen konnte, und verbrachte von nun an ihr Leben damit, überall, wo man es wünschte, den Himmel über der Wüste aufzuspannen, damit ihre Märchenkarawanen ein artgerechtes Umfeld bekamen. Auch ich konnte sie mittlerweile sehen. Zwischen den Schneeflocken, die der Himmel über Norddeutschland entlud, wogte die prächtigste Karawane, die jemals durch den Orient zog, und jeder, der sich ihr anschloss, wurde zum reichsten Mann der Welt. Dabei ging es mir nicht um Geld, oder besser, nicht nur um Geld, oder noch besser, es ging mir um mehr als Geld, denn Geld beweist nur die Kommunizierbarkeit einer Idee. Natürlich war das ein Irrtum. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, müsste ich sagen, es war keine Idee, weder eine große noch eine kleine, die auf der Heimfahrt durch den Schnee in mir wallte, sondern etwas ungleich Wertvolleres, aber auch ungleich Fragileres. Ein Traum ward geboren in dieser Nacht. Ein Traum, der sich wie eine Idee verkleidete und bereits zu einem Plan zu transformieren schien, und sobald mich der Schrott-Peugeot nach Haus geklappert hatte, rief ich Endi Effendi an und sagte ihm, dass ich aus dem Leben der Märchenerzählerin ein Drehbuch machen und ihre Märchen als zweite Ebene mit in den Film einfließen ­lassen wolle, und schlug ihm vor, mit ins Boot zu kommen. Er lachte und sagte, er sei schon drin, aber er nehme mich gern mit, außerdem sollten wir noch Chris mit ins Boot holen, aber es ihm gegenüber anders formulieren, sonst würde auch er sagen, es sei seins und er hole uns mit hi­nein. Und Chris habe in jedem Fall die besseren Argumente, denn er sei kürzlich in ein Dorf am Chiemsee ­gezogen, und in dem Haus, das er dort gemietet habe, habe er in einem alten Schreibtisch verblichene Schwarz-Weiß-Fotografien eines kleinen Mädchens vor dem Hintergrund von Istanbul gefunden sowie verblichene Schwarz-Weiß-Fotografien derselben Person als alte Dame mit Stock am Chiemsee, auch Fotos von ihrem Vater und dem Sultan und ein paar handgeschriebene Briefe und Aufzeichnungen. Die »Perlenkarawane« allerdings sei mit der Maschine geschrieben worden. Nee, ohne Chris gehe es nicht, und ich sah das ein. Am Abend rief Endi Effendi zurück. »Ich habe mit Chris gesprochen. Er schlägt vor, dass wir uns Silvester an ihrem Grab treffen.« Der Ort, in dem die Märchenerzählerin für immer ruht und Chris seit Kurzem wohnte, heißt Marquartstein und liegt im Chiemgau, zehn Kilometer entfernt vom See. Man kommt auf der Autobahn A8 München - Salzburg hin, dann Abfahrt Bernau und weiter auf der B?305 Richtung Reit im Winkl, und schon ist man im Friedhof der Pfarrkirche Zum kostbaren Blut. Ihr Grab ist ­unscheinbar, aber gut gepflegt, ein gusseisernes Kreuz mit orientalischen Ausschmückungen bewacht es. »Selig sind, die in dem Herrn sterben«, steht dran, ansonsten scheint das Grab ein namenloses zu sein, erst wenn man eine kleine Klappe an dem Kreuz öffnet, weiß man, wen man unter sich hat. Hier ruht die Märchenerzählerin Elsa Sophia von Kamphoevener. 1878?-1963 Mehr nicht. Kein Mausoleum, kein Denkmal, keine Tafel mit den Eckdaten ihrer Abenteuer. Am Grab von Lawrence von Arabien ist mit Sicherheit mehr los. Aber Lawrence machte Geschichte, und Elsa erzählte nur welche. Ihr Ruhm überdauerte ihr Leben nicht. Das ist ungerecht, und wir beschlossen, das zu ändern. Drei Brüder, ein dicker, ein dünner und ein noch dünnerer, ließen deshalb in der letzten Nacht des Jahres 1981 drei Raketen über das Grab der Baronin in den Winterhimmel zischen und verabredeten bei schneegekühltem Champagner, das Drehbuch in den nächsten zwei Wochen gemeinsam zu schreiben. Der Zeitrahmen kam vom dünnsten, denn Chris war unter uns der einzige aus der Branche. Er drehte Dokumentarfilme, solche Leute schreiben Drehbücher auch in einer Woche, außerdem arbeiteten wir bei ihm, also in dem Haus, in dem unsere Heldin die letzten zwanzig Jahre ihres Lebens verbracht hatte, was sollte da schiefgehen? Wir konnten es sogar in drei Tagen schaffen, oder noch schneller. Die Kamphoevener hätte für die Geschichte ihres Lebens auch nur eine Nacht gebraucht. Das war kein Größenwahn, das war der Zeitgeist. Wir standen am Rande eines legendären Jahrzehnts, und die Achtzigerjahre lagen wie eine Goldgrube vor uns. Zurück in Chris' Küche, legte er die Schwarz-Weiß-Fotos aus den Schubladen der Märchenerzählerin auf den Tisch, und wir begannen mit der Arbeit. Wer spielte wen? Bei ihrem Vater war es einfach. Er wurde von Kaiser Wilhelm II. nach Istanbul geschickt, um dem Sultan bei dessen Kampf gegen den Rest der Welt als Militärberater beizustehen. Der deutsche Kaiser war der einzige Freund, den der Sultan noch hatte, und der Vater der Märchenerzählerin war ein Teil des Freundschaftsvertrags. Sein Foto zeigte einen orientalisierten preußischen Offizier in der Paradeuniform eines Marschalls der osmanischen Armee. Den Bart gezwirbelt nach wilhelminischer Art, auf dem Kopf den Türkenhut, einen Teppich voller Orden an der Brust und zwei Seelen innen drin, die okzidentale und die orientalische, die sich aber prächtig miteinander verstanden, weil der Marschall Louis von Kamphoevener Pascha sich von jeder Welt das Beste nahm, und dafür kam natürlich nur Sean Connery infrage. Für Sultan Abdülhamid II. aber brauchten wir mehr als einen charismatischen Weltstar im richtigen Alter, für den musste ein schauspielerisches Kaliber aus der Shakespeare-Liga her, denn wir sahen auf seiner Fotografie das verblichene Antlitz eines Mannes, von dem man nicht auf Anhieb weiß, wie er drauf ist. Seine Gesichtszüge wirken grausam, aber in seinen Augen liegt eine Schwermut, die man mögen kann. Elsa Sophia sprach zwar immer gut von ihm, aber das würden die 300 000 während seiner Regentschaft massakrierten Armenier so nicht unterschreiben. Die englische Regierung auch nicht. Sie hatte ihn »den fürchterlichen Türken« genannt, doch das konnte auch britische Propaganda gewesen sein. Vielleicht hatte der Sultan, wie er selbst verlauten ließ, mit den Pogromen wirklich nichts zu tun, aber er hätte sie verhindern können. Oder nicht? Wenn seine Wesire und Generäle ohne sein Wissen, aber in seinem Namen ein Volk abgeschlachtet hätten, dann würde man seinen schwermütigen Blick verstehen. Außerdem war er der Letzte seiner Art, und er wusste es. Das letzte Glied einer Herrscherkette, die 600 Jahre lang nicht gerissen war, sah das größte Weltreich des Orients untergehen. Der Krieg mit dem Zaren hatte das Schwarze Meer und die östlichen Provinzen gekostet, die Engländer nahmen Ägypten, die Franzosen Marokko und den Libanon, und dass die Europäer und Russen nicht gleich das ganze Reich unter sich aufteilten, hatte Abdülhamid ausschließlich seinem diplomatischen Talent zu verdanken, mit dem er seine Feinde gegeneinander ausspielte, um Zeit zu gewinnen. Aber auch die Balkanvölker standen auf und wollten Freiheit, die Griechen sowieso, das Imperium der Sultane brannte an allen Ecken und Enden, und Abdülhamid II. wusste, dass er es sein würde, der das Licht ausmacht, und als ob das alles noch nicht reichen würde, um seinen Gesichtsausdruck zu verstehen, war der Sultan privat und persönlich auch noch ein bisschen paranoid. Er traute keiner Frau und keinem Diener. Er fürchtete, alle wollten ihn vergiften. Wer konnte so einen Typen spielen? Und wer hatte eine so große Hakennase? Und wer war als Grieche wie auch als Türke vorstellbar? Natürlich nur Anthony Quinn. Nun zu den Problemfällen. Wer spielte Fehim Bey? Wer war Fehim Bey? Und wie sah Fehim Bey aus? Es gab keine Fotos von ihm. Auch keine Zeichnung. Der Mann, von dem unsere Heldin an den Feuern der Karawansereien das Erzählen lernte und der ihr all seine Märchen schenkte, als er in Rente ging, blieb im Großen und Ganzen unserer Phantasie überlassen. Endi Effendi nutzte die Chance, um endlich sein Wissen über die zentralasiatischen Schamanen auszupacken, denn ohne die Wurzeln von Fehim Beys Erzählkunst zu kennen, könnten wir uns unmöglich ein vollständiges Bild von ihm machen. Folgendes kam bei Endi Effendis Vortrag heraus: Die frühen Turkstämme lebten im heutigen Staatsgebiet der Mongolei. Ihre Religion war der Schamanismus, ihre Priester waren die Schamanen. Im Gegensatz zu den Gottesmännern anderer Religionen ging es ihnen nicht so sehr darum, die Gläubigen auf das Jenseits vorzubereiten, sondern sie im Diesseits gesund und munter zu halten. Ihre spirituelle Mission war das Heilen, ihre Methode die Zauberei. Sie rieten, zum Beispiel, einem chronisch Kranken dazu, andere Kleidung zu tragen. Andere Farben, andere Muster. Grün statt Blau und Karos statt Streifen, und ein paar Wochen später war er gesund. Oder sie schnappten sich sein Herz mit Trommeln. Schlugen sie zunächst, wie sein Herz schlug, und wenn Herz und Trommeln eins geworden waren, veränderten sie langsam, ganz langsam den Rhythmus. Damit brachten sie die hyperaktiven Zentralorgane runter, die phlegmatischen hoch und die stockenden in Fluss. Und eine dritte Lieblingsmedizin der zentralasiatischen Schamanen waren Geschichten, deren Zauberei darin bestand, den Kranken auf andere Gedanken zu bringen oder gewohnte Gedanken auf andere Bahnen. Ganze Gedankenkarawanen wurden umgeleitet und zu neuen Ufern gebracht. Erkenntnis befreit, und Befreiung heilt. Und wer Endi Effendi kannte, weiß, dass er jetzt nicht mehr so einfach zu stoppen war, denn mit der Völkerwanderung der Turkstämme wanderten auch die schamanischen Geschichten von Zentral- nach Vorderasien, wo sich die Mystiker des Islam ihrer annahmen. Sie nannten sich Sufis, und die Schamanen hießen jetzt Derwische, und weil viele von ihnen hauptberuflich auch Märchenerzähler waren, schien Endi Effendi der Gedanke nicht abwegig, dass es sich auch bei Fehim Bey nicht um einen verlausten Märchenonkel handelte, sondern um einen Heiler, der seine Geschichten wie Gedankenschrittmacher in die Gehirnwindungen seiner Zuhörer einpflanzte, oder sollte man sagen, wie Traumschrittmacher? Darüber hinaus erfüllte er natürlich auch alle anderen Aufgaben, die der Beruf eines türkischen Geschichtenerzählers verlangte: 1. wachhalten 2. unterhalten 3. unterrichten 4. berichten Zu 1.: Die Wächter der Karawanen durften nicht einschlafen. Für diese Klientel gab es extralange Geschichten, zum Beispiel die »Perlenkarawane«. Zu 2.: Erklärt sich eigentlich aus 1. Zu 3.: Kinder wie Erwachsene bedurften hin und wieder des Unterrichts in der Schule des Lebens. Religionsunterricht, Sozialkunde, Eheberatung, Orientknigge - die Märchen deckten alles ab. Zu 4.: Die Märchen der Osmanen stammten aus allen Teilen ihres Reichs, und das war zwar nicht ganz so groß wie die Welt, aber seine Grenzen verliefen immerhin durch drei Kontinente. So erfuhr das Publikum im Kaukasus und in Kleinasien, wie es in Nordafrika aussah, und an den milden Gestaden der Levante hörte man Geschichten aus Südosteuropa. Man könne all das auch kürzer sagen, meinte ausgerechnet Endi Effendi: Die alten türkischen Märchen waren das Kino der Nomaden, und aufgeführt wurde es jeden Abend in den Karawansereien. Die Herbergen des osmanischen Fernverkehrs hatten Mauern wie Burgen und hohe Tore für die Kamele, und drinnen fand der müde Nomade alles, was er begehrte: Ställe für die Tiere, Schlafräume, Gastronomie. Es gab Schuster, Ärzte und Barbiere, und es gab keinen Streit. Das war Punkt 1 der Hausordnung: Feinde müssen nicht Freunde werden, aber sie dürfen nicht aufeinander losgehen, solange sie den Schutz der Karawanserei genießen, und tun sie es doch, fliegen beide raus. Die Märchenerzähler hatten in den Karawansereien ihre eigenen Feuer und eigenen Gesetze, aber ihre Strafen fielen ähnlich aus. Wer die Geschichten eines anderen erzählte, machte sich des Märchendiebstahls schuldig. Das führte zum Ausschluss aus der Gilde und beinhaltete das Erzählverbot in der Karawanserei. De facto kam das einem Berufsverbot gleich, denn die Karawansereien waren nun mal ihr traditioneller Arbeitsplatz. Außerdem war es verboten, die Geschichten aufzuschreiben, und ein drittes Gesetz der alttürkischen Märchenerzählergilde lautete, dass Anfang, Mitte und Ende der Geschichten niemals verändert werden durften, aber dazwischen konnte jeder so viel spinnen, wie er wollte. Die ersten beiden Gesetze schützten die Rechte und das Überleben der Erzähler, das dritte schützte die Märchen, und nun müsse man, frohlockte Endi Effendi, doch noch mal auf das erste Gebot zurückkommen. Jeder erzählte nur seine Geschichten, und dass es seine waren, bewies ein Ring, der den Träger für sein Repertoire autorisierte. In der Regel wurde er von Vater zu Sohn weitergegeben. Aber Fehim Bey hatte keine Söhne, darum gab er den Ring an seinen besten Schüler weiter, der eine als Mann verkleidete deutsche Baronin war, aber wenn ihr mich fragt, so Endi Effendi, hat er ihre Verkleidung durchschaut. Sie begleitete Fehim Bey jahrelang, und große Erzähler sind große Menschenkenner. Wollte Endi Effendi damit andeuten, dass die beiden gepoppt haben? Natürlich nicht. Wir saßen in Chris' Küche, und das war die Küche, in der auch unsere Märchenerzählerin lange Jahre gesessen hatte, deshalb behandelte der Vortragende das Thema weiter mit Respekt. Endi Effendi vermutete eher eine versteckte platonische Liebesgeschichte, denn Fehim Bey war zwar in dem richtigen Alter für junge Mädchen, aber nicht in der richtigen gesellschaftlichen Position. Ihm wurde die Verkleidete als Spross einer mächtigen Familie aus Istanbul vorgestellt, und davon lässt man die Finger, im Märchen wie in der Realität, und was Elsas Potenzial für romantische Gefühle zu älteren Herren anging, wies Endi Effendi darauf hin, dass ein Altersunterschied von schätzungsweise dreißig Jahren keine Rolle für eine unter Zwanzigjährige spielt, wenn der Mann gut erzählen kann. Endi Effendi schlug deshalb vor, dass Omar Sharif die Rolle von Fehim Bey kriegte, und wir nickten das ab, denn Omar Sharif machte an allen Feuern eine gute Figur, und Omar Sharif würde auch wissen, wie man mit einem Blick und einem Lächeln von der unerfüllten Liebe zu einer verkleideten Frau erzählen konnte. Die Nebenrollen waren also flugs besetzt, die Arbeit ging voran, nur für die Hauptrolle fiel uns nicht sofort jemand ein, denn sie führte durch sämtliche Jahreszeiten eines Lebens und musste vierfach besetzt sein, als Kind, Mädchen, Frau und alte Schachtel, und weil das jetzt einfach zu viel verlangt war, verschoben wir die Besetzung der Hauptrolle auf den nächsten Tag, und am nächsten Tag vergaßen wir sie oder stuften ihre Priorität anders ein, denn Endi Effendi wollte nun über orientalische Ornamentik referieren, weil die Türken bekanntlich ihre Märchen wie ihre Teppiche weben, und Chris wollte bis zum Mittagessen die erste Szene geschrieben haben, und weil ich seinen Vorschlag entspannender fand, als Professor Endi Effendi Paschas Strickanleitung für fliegende Teppiche zu lauschen, stimmte ich Chris zu, und der Ärger begann. Jeder der drei Brüder sah einen anderen Anfang. Auf den auch leider jeder der drei Brüder bestand. (...) Mira Wann immer es ein Mensch geschafft, dass er in Mädchen Wahrheit sah, wurde Wahrheit für ihn mädchenhaft, und Mädchen wurden wahr. Eigentlich ist das Gedicht von mir. Endi Effendi hatte es nur um ein Wort verändert. Bei mir ging es um einen Menschen, der in »Märchen« die Wahrheit sah, er machte »Mädchen« daraus. Er verarschte mich. Oder hielt mir den Spiegel vor, denn ich verarschte mich selbst. Wir alle verarschten uns selbst. Dabei wäre es so einfach gewesen. Mit meinem Anfang fing der Film an, mit Endi Effendis Anfang ging er weiter, und mit Chris' Anfang hörte er auf. Aber keiner ließ von seinem Anfang los. Damit endete der erste Tag unserer Zusammenarbeit, und damit begann auch der zweite, und am dritten Tag verschoben wir die Fertigstellung des Drehbuchs auf Ostern. Das größte Fest der Christenheit brachte uns jedoch auch nicht voran, der Film rutschte auf die lange Bank. Für meine journalistische Karriere erwies sich das durchaus als vorteilhaft. Wer weit zielt, verkrampft sich nicht im Nahbereich, und ohne Angst gewinnst du immer. Der Glückspilz, der ich war, hatte keine Angst, sondern einen Traum, und ich bezog meinen Mut und mein Selbstbewusstsein aus der Gewissheit, dass er sich erfüllen würde. Irgendwann und zur rechten Zeit würde die Karawane kommen, und ein Mann, der an seinen Traum glaubt, wird leicht verwechselt mit einem, der an sich selbst glaubt. Solche Leute kommen überall rein und können es sich aussuchen. Ich schrieb für den »Playboy«, weil er so gut wie »Geo« zahlte, aber mir seine Themen besser lagen. Geh in den Puff, amüsier dich und schreib, wie es war. 5000 Mark. Geh nach Goa und kiff dir die Birne weg. 6000 Mark. Verlieb dich auf Kreta. 5000 Mark. Besser geht's nicht. Meine Zukunft war ein Märchen, meine Gegenwart entwickelte sich märchenhaft, und das Märchen selbst gab es ja auch noch. Ich meine nicht den Film über die Märchenerzählerin, der machte auch weiterhin auf der langen Bank keinen Mucks. Ich meine das Märchen an und für sich, die Geschichte, die ich in der Berliner Winternacht zum ersten Mal gelesen hatte. Sie hüpfte immer mal wieder aus mir heraus und übernahm den Raum, und jede Frau, die mir zuhörte, verliebte sich in mich. Das war die gute Nachricht. Die schlechte: Es lag nicht in meiner Macht. Es war nicht zu planen oder zu fokussieren. Ich konnte nicht sagen, ich erzähle jetzt mal ein Märchen, und du gehörst mir. So funktionierte das nicht. Auch nicht mit Kerzen, Räucherstäbchen und fetten Joints. Das Setting spielte keine Rolle, der Mond spielte keine Rolle, mein Wille spielte keine Rolle. Nur das Märchen entschied, wann es sich erzählen ließ. Versuchte ich, es zu zwingen, verweigerte mir die Geschichte ihre Magie. Es ging dabei nicht um Worte, Bilder, Rhythmus, Sound und die Farben der Stimme. Das konnte man alles perfekt und synchron vortragen, aber ohne die Magie kam es nicht rüber. Es kam nicht mal raus. Es war eine leere Geschichtenhülle, ein Schlauch ohne Wein. Frustrierend für den Zuhörer, und für den Erzähler zerstörerisch. Dieses Märchen hatte nicht nur ein Eigenleben, sondern auch einen eigenen Willen, aber immerhin teilten wir denselben Frauengeschmack. Mira hatte eine weiße Haut auf einem schwarzen Körper. Deshalb meinte Endi Effendi, ihre Figur sei nicht von Gott, sondern von einem schwulen nubischen Bildhauer geschaffen. Sie brauchte nur in Jeans und T-Shirt über die Straße zu gehen, und die halbe Stadt wollte mit ihr ficken. Selbst die Hochhäuser bogen sich zu ihr hinunter. Sie hatte Katzenaugen und einen Kleopatra-Mund, und wenn sie Lippenstift auftrug, war da sofort mal die Hölle los. Wir trafen uns zum ersten Date in einem Eissalon, und ich hatte keine schlechten Karten. Draußen stand mein neuer Wagen, delfingrau, schnell wie die Sau, orchestrierte Stereoanlage, und für das Gespräch zu Tisch hatte ich die Märchen. Ich erzählte ihr die »Karawane« bei Erdbeereis mit Sahne, danach bat ich sie in meinen Jaguar für Arme und machte mit ihr eine Spritztour durch den Freihafen. Mit »Purple Rain« von Prince und solchen Sachen schnurrten wir an den Docks entlang, bis wir auf der Köhlbrandbrücke waren und die Schiffe und schlafenden Kräne unter uns sahen. Es gibt kein besseres Panoramaerlebnis von Hamburg als eine Fahrt über die Köhlbrandbrücke während einer sternenklaren Nacht, und als wir aus dem Hafen wieder raus waren, ging es erst schnurgerade über den Straßenstrich und die Reeperbahn zu einem kurzen Champagnerumtrunk in eine Bar namens »Schwarze Wiege« und dann in meine Wohnung, in der ich den Orgasmus hinauszögerte, indem ich die Zehen streckte, mich aufs dritte Auge konzentrierte und bis tief in die Hoden atmete sowie die Neunmal-kurz-und-einmal-lang-Stoßtechnik der Chinesen praktizierte, die in der Vagina ein explosives Vakuum erzeugt, und als wir damit fertig waren und kiffend in den Laken lagen, sagte sie, dass ich mir das alles hätte sparen können, denn verliebt habe sie sich bereits bei dem Märchen. Ihr Vater war Schriftsteller und das Klappern der Schreibmaschine die Musik ihrer Kindheit. Wenn ich schrieb, hielt sie die Klappe und fühlte sich zu Haus. Und in den Pausen machte sie, was ich wollte. Was will ein Schreiber mehr? Endi Effendi warnte mich. »Du glaubst doch nicht, dass du so viel Sex haben kannst, wie du willst, ohne irgendwann dafür bezahlen zu müssen.« Ich hielt das für Neid und hatte recht damit, aber sein Neid machte die Wahrheit nicht weniger wahr. Mira war gefährlich für mich. Und ich war eine Gefahr für sie. Es war die klassische Schicksalsglockenbeziehung, und sie läuteten nicht nur im Bett. Wir gingen auch ins Kino und tanzen und fuhren mit dem Auto von Miami nach L.A. auf der Südroute durch Florida, Alabama, Georgia, Texas, Arizona und Nevada sowie mit dem Bus durch Mexiko und mit dem Zug durch Thailand und Malaysia, und »Tempo« finanzierte diesen Ritt auf der Wurzel-Chakra-Energie. Ich warf mit Reisegeschichten und Porträts quasi um mich. Es war kinderleicht. Mit Mira bekam ich jeden Interviewpartner. Selbst Leute, die sonst Journalisten verprügeln oder auf sie schießen, knickten vor ihr ein. Wir bekamen nicht nur Hunter S. Thompson und Mickey Rourke, wir wurden auch beide fast nicht wieder los. Dasselbe galt für die Interviewpartnerinnen. Mira kitzelte deren lesbisches Potenzial heraus, ohne dafür irgendetwas zu tun. Ihre Präsenz reichte, und für den Rest der Welt reichte unsere Traumpaarkonstellation. Die Königsklasse des Yin und Yang wird selten mit Neid befleckt, weil jeder weiß, dass sie ein Wunder ist und maximal einmal im Leben vorkommt. Die Strahlkraft unseres Glücks strahlte von allen Tankwarten, Nachtportiers, Polizisten und Dealern unserer Roadmovies auf uns zurück, sowie von allen Nachbarn, Bäckern und Eisverkäuferinnen zu Hause, und als 1988 nach zwei großen Jahren, drei großen Reisen und einem großen Fehler der Tag anbrach, den Endi Effendi vorausgesehen hatte, war halt der Ofen aus. Der Fehler war groß genug für die Trennung, und mehr mag ich darüber nicht schreiben, weil er a) noch immer für mich unbeschreibbar ist, und b) ist er hier auch nicht das Thema. Männer verlieren Frauen hin und wieder, so what. Und Männer verlieren auch Frauen, die sie verlieren wollten, weil ihnen ihre Freiheit wichtiger ist. Außerdem verlieren Männer Frauen, weil der Teufel sie ritt. Unterm Strich geht ihnen der Arsch auf Grundeis. Und wieder schien mich das Märchen zu retten. Es hüpfte in einem Restaurant aus mir heraus, in dem ich mit Endi Effendi und dem Manager einer privaten Handelsschule zu Tisch saß. Wir hatten für seine PR-Seminare eine Broschüre erstellt und wollten das feiern, aber leider musste ich immer weinen, weil mir Mira so fehlte. Der Manager akzeptierte das, weil er zu den Leuten gehörte, die jeden überhöhen, der sich für die Liebe und gegen den Kommerz entschieden hat, aber plötzlich hörte ich auf zu weinen und sagte: »Wissen Sie was, ich erzähle Ihnen jetzt mal eine Geschichte von geradezu märchenhaftem Kommerz«, und rums, kam die Karawane daher. Auch Endi Effendi, der grundsätzlich eifersüchtig reagierte, wenn ich die Geschichte vortrug, kam irgendwann damit klar, dass ich der bessere Erzähler war, und als ich das Märchen beendet hatte, schob ich den Lebenslauf der Kamphoevener hinterher, plus meinen Anfang für den Film, und noch bevor Endi Effendi seinen Anfang erzählen konnte, schenkte uns der Manager 9000 Mark. Dafür wollte er das Drehbuch sehen. Ich hatte darauf nicht spekuliert. Es war nicht mein Plan. Das ist einfach so passiert, aber Endi Effendi sah mich trotzdem komisch an, und als wir wieder unter uns waren, stellte er klar, wie es diesmal laufen würde. Wir machten es zu zweit, wir machten es richtig, und wir machten es in Kairo. Das war eine gute Idee. Sonne, Shisha, Turbane und kein Bett, in dem sie unsichtbar noch immer auf ihrer Seite lag, kein Kissen, das man statt ihrer streicheln mochte, weil ihr Duft noch an ihm klebte. Darum nahm ich Endi Effendis Vorschlag sofort begeistert an, obwohl mir seine Beweggründe nicht ganz koscher vorkamen. Um Derwischgeschichten zu erzählen, sollte man erst mal Derwische verstehen, und um sie zu verstehen, müsse man nach Kairo, wo heutzutage die stärksten Derwische seien. In der Türkei habe sich seit Atatürk nicht nur der Islam, sondern auch der mystische Islam zurückentwickelt, am Nil aber stehe er in seiner Blüte. Weil Endi Effendi ein paar Tage brauchte, um reisefähig zu werden, und ich mich wie eine durchgeknallte Hornisse fühlte, flog ich vor. Das war keine gute Idee. Liebeskummer macht schwach, und selbst in einer Stadt mit der weltweit höchsten Derwischdichte gibt es noch ein paar Millionen Nichtderwische, und dann kommst du als Fremder und gehst als Feind, weil du den hungrigen Raubtieren die Schuld daran gibst, dass du dich ihnen zum Fraß vorgeworfen hast. Lässt du dich am Flughafen wie ein welkes Blatt ins Taxi fallen, ist es egal, ob du bereits ein Hotel reserviert hast oder nicht. Der Fahrer bringt dich auf jeden Fall in die Absteige seiner Wahl, weil er nur dort eine Provision kassiert. Du erträgst das Zimmer kaum und gehst auf die Straße, um dich wie ein Stück Treibholz dem Menschenfluss zu übergeben, und wenn du irgendwo strandest und das Stehen bleiben nennst, nützt dir auch das so viel wie ein Vogelschiss, es ist einfach erbärmlich, wenn da kein anderer Wille mehr in dir ist als der, auf der Stelle tot umzufallen. Ein netter junger Ägypter legte seine Hand auf meine Schulter und wollte wissen, warum ich Tränen vergoss, und ich sagte es ihm. Bei Liebeskummer ist drüber reden die einzige mildernde Medizin. Jussuf brachte mich in eines der ganz wenigen Lokale, in denen es Alkohol gab. Er war wie ein Bruder zu mir, er verstand und war bis in die Haarspitzen mit Mitgefühl erfüllt, er nannte mich verrückt, aber er sagte es mit dem Respekt, den jeder Märtyrer der Liebe verdient. Und erst nach Stunden gab er sich als Leidensgenosse zu erkennen. Es fing in seinen Augen an. Sie begannen meinen zu ähneln. Keine Tränen, nur ein tränenfeuchter Vorhang zog sich über sie. Es ging um eine Maria, und sie war Italienerin. Jussuf liebte sie, und sie liebte ihn, aber sie konnten nicht zusammenkommen, weil Maria mit einem reichen Ägypter verheiratet war, der sie im Übrigen schlug. Jussuf wollte sie gern entführen, aber er wohnte bei seinen Eltern und hatte kein Geld. Er konnte sich ja nicht mal ein Hotelzimmer leisten. Die Solidarität unter Liebeskranken führte dazu, dass ich für ihn in meiner Absteige ein Zimmer anmietete. Maria kam ein paar Stunden später, lange Haare, große Augen, schlank und schön, aber auch ein bisschen, wie soll man sagen, vom Drama verlebt. So sehen Frauen aus, die geschlagen werden oder Drogen nehmen. Jussuf verschwand mit ihr im Zimmer und kam später allein wieder raus. Maria blieb. Sie wollte nicht zurück zu ihrem Mann, was ja wohl jeder versteht. Ich sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, ich würde das Zimmer gern auch 'ne Woche lang zahlen, dafür hörte sie sich gerne meine Mira-Geschichte an, bis ein Freund von Jussuf kam, um ihr Gesellschaft zu leisten. Später kam einer ihrer Freunde, und so ging es auch den nächsten Tag, der Freundeskreis der beiden kümmerte sich rührend um sie, und Endi Effendi fiel aus allen Wolken, als er vier Tage später in Kairo eintraf. »Wieso bezahlst du eigentlich von unserem gemeinsamen Drehbuchvorschuss einem ägyptischen Zuhälter das Zimmer, in dem seine Hure anschaffen geht?« Keine Antwort. »Und wieso weißt du nicht, dass Jussuf der arabische Name für Josef ist? Du erzählst ihnen deinen Herzschmerzscheiß, und sie heißen plötzlich wie das bekannteste Liebespaar der Christenheit.« Auf der Stelle war Schluss mit der Kostenübernahme für Maria und Josef in unserem Hotel und Schluss mit dem täglichen Taschengeld, das ich dem Zuhälter zugesteckt hatte, damit er mit seiner italienischen Hure was essen gehen konnte, und es dauerte dann auch nur noch einen Tag länger, bis mit Kairo ebenfalls Schluss war. Endi Effendi hatte die Stadt als Drehbuchherstellungsort wegen der Derwische und der Wärme gewählt, darüber hinaus gehörte sie mal zum Osmanischen Reich, war also thematisch nicht verfehlt, aber Anfang Januar ist es selbst in Nordafrika draußen zwar nicht so kalt wie in Nordeuropa, aber doch recht kühl, und drinnen ist es kälter als bei uns, weil die Heizungen nicht funktionieren oder, wenn sie doch funktionieren, dann zu schwach. In Südägypten war es wärmer, und Derwische gab es da auch, ja, wenn er es recht bedenke, sagte Endi Effendi, seien die Mystiker des Islam an der Grenze zum Sudan sogar geeigneter für unsere Zwecke, denn sie seien magischer eingestimmt als ihre Kollegen in Kairo, außerdem sei dort jeden Freitag der größte Kamelmarkt Ägyptens. Tausend Karawanen kämen pro Jahr aus dem Sudan. KARAWANEN! Mit dem Wort war es gesagt und getan. Wir nahmen den Nachtzug nach Assuan.

Erscheint lt. Verlag 14.4.2014
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber
Reisen Reiseberichte Welt / Arktis / Antarktis
Schlagworte Abenteuer • Autobiografie • Reise
ISBN-10 3-492-96609-8 / 3492966098
ISBN-13 978-3-492-96609-2 / 9783492966092
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