Im Lichte der Vergangenheit (eBook)

Roman
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2014 | 1. Auflage
336 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30765-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Lichte der Vergangenheit -  John Banville
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»Billy Gray war mein bester Freund, und seine Mutter war meine erste Liebe.« Ein Roman über eine ungewöhnliche und verbotene erste Liebe, über Freundschaft, Trauer und das Weiterleben. Und eine Geschichte von Erinnerung und Einbildung, Gedächtnis und Wahrheit.Alex Cleave hat seine besten Jahre als Schauspieler hinter sich, er trauert noch immer um seine Tochter Cass, die zehn Jahre zuvor Selbstmord begangen hat, und auch die Beziehung zu seiner Frau Lydia ist nicht mehr von Leidenschaft geprägt. Da bekommt er das Angebot, die Hauptrolle in einem Film über den mysteriösen Kritiker Axel Vander zu spielen - und ahnt nicht, wie viel diese Figur mit ihm selbst zu tun hat. Er versinkt in Erinnerungen an den Sommer, in dem er als 15-Jähriger die Liebe entdeckte - mit der Mutter seines besten Freundes Billy Gray - und an dessen Ende die Familie Gray die Stadt verließ. Bald muss er sich fragen, was Erinnerung ist und was Erfindung - um am Ende eine Entdeckung zu machen, die alles verändert.John Banville, dessen erstrangiges literarisches Werk weltweit von der Kritik gefeiert wird und der international mehrfach ausgezeichnet wurde, zuletzt mit dem Franz-Kafka-Literaturpreis und dem österreichischen Staatspreis, erweist sich in diesem Roman einmal mehr als Meister der poetischen und klugen Reflexionen über Erotik, Freundschaft und Verlust. Ein Roman, der den Leser mitnimmt auf eine Reise durch die Ungewissheit.

John Banville, geboren 1945 in Wexford, Irland, gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen literarischen Autoren. Sein umfangreiches Werk wurde mehrfach, auch international, ausgezeichnet, zuletzt mit dem Franz-Kafka-Literaturpreis, dem Man Booker Prize (für »Die See«) und 2013 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. John Banville lebt und arbeitet in Dublin.

John Banville, geboren 1945 in Wexford, Irland, gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen literarischen Autoren. Sein umfangreiches Werk wurde mehrfach, auch international, ausgezeichnet, zuletzt mit dem Franz-Kafka-Literaturpreis, dem Man Booker Prize (für »Die See«) und 2013 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. John Banville lebt und arbeitet in Dublin. Christa Schuenke, geboren 1948, übersetzt Lyrik und Prosa aus dem Englischen, u. a. Werke von Banville, Melville, Singer, Shakespeare. Sie erhielt u.a. den Wielandpreis und den Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW.

I


 

 

 

 

 

Billy Gray war mein bester Freund, und seine Mutter war meine erste Liebe. Vielleicht ist Liebe ein zu starkes Wort, aber ich weiß kein schwächeres, das passen würde. Die ganze Geschichte ist ein halbes Jahrhundert her. Ich war fünfzehn, und Mrs Gray war fünfunddreißig. Solche Dinge sagen sich so leicht, denn Worte haben keine Scham und sind auch niemals überrascht. Es könnte sogar sein, dass sie noch lebt. Dann wäre sie jetzt etwa dreiundachtzig, vierundachtzig. Kein Alter, heutzutage. Und wenn ich mich nun auf den Weg machen würde, um sie zu suchen? Das wär doch mal was. Ich fände es ganz schön, noch mal verliebt zu sein, mich noch mal zu verlieben, nur einmal noch. Wir könnten uns ein Serum aus dem Sekret von Affendrüsen spritzen lassen, alle beide, und wären wieder wie vor fünfzig Jahren – hilflos hingerissen. Ich wüsste schon ganz gerne, wie es ihr geht, gesetzt den Fall, sie weilt noch unter uns. Damals war sie so unglücklich, so unglücklich, jedenfalls kam sie mir so vor, trotz ihrer tapferen, ungebrochenen Fröhlichkeit, und ich kann nur inständig hoffen, dass sie es nicht geblieben ist.

Woran erinnere ich mich, wenn ich hier heute an sie denke, in diesen leisen, fahlen Tagen, da das Jahr zu Ende geht? In meinem Kopf wimmelt es von Bildern aus einer fernen, längst vergangenen Zeit, und bei der Hälfte davon bin ich mir nicht sicher, ob es Erinnerungen sind oder Erfindungen. Nicht, dass das so ein großer Unterschied wäre. Manche sagen ja, dass wir uns, ohne es zu merken, permanent alles ausdenken, alles ausschmücken, verschönern, und ich bin durchaus geneigt, ihnen zu glauben, denn Madame Erinnerung ist eine große, raffinierte Simulantin. Wenn ich zurückschaue, ist alles im Fluss, ohne Anfang, fließend zu keinem Ende hin, zu keinem jedenfalls, das ich erleben werde, es sei denn, als den letzten, den finalen Punkt. Das Treibgut, das ich aus dem allgemeinen Wrack – und was ist denn das Leben weiter als ein Schiffbruch, der nach und nach vonstattengeht? – zu retten mich entschlossen habe und in verglasten Kästen ausstelle, erweckt vielleicht den Eindruck einer gewissen Unausweichlichkeit, und doch ist alles bloß wahllos herausgegriffen; repräsentativ vielleicht, vielleicht sogar zwangsläufig, aber trotz allem wahllos.

Mrs Gray hatte sich mir zunächst in zwei ganz verschiedenen Manifestationen offenbart, und zwischen beiden lagen Jahre. Mag sein, die erste Frau war gar nicht sie, mag sein, es war nur ihre Verkündigung, gewissermaßen, und dennoch ist mir der Gedanke lieb, dass diese beiden eine waren. April, natürlich. Wissen Sie noch, was April früher, in unserer Jugend, bedeutet hat, jenes Gefühl von strömender Nässe, und wie der Wind sich Schwälle von Blau aus der Luft schöpfte, und die Vögel, wie von Sinnen, in den blühenden Bäumen? Zehn oder elf muss ich gewesen sein. Ich war gerade in den Kirchhof von Mary Our Mother Immaculate eingebogen, wie üblich mit gesenktem Kopf – Lydia sagt immer, ich laufe herum wie ein ewiger Büßer –, und das Erste, was ich von der Frau auf dem Fahrrad wahrnahm, war das Surren der Reifen, ein Geräusch, das ich schon als Knabe erotisierend fand, und das ist bis heute so geblieben, ich weiß auch nicht, warum. Die Kirche stand auf einer Anhöhe, und als ich aufsah und die Frau erblickte, wie sie näher kam, und hinter ihr ragte der Kirchturm auf, da war ich wie elektrisiert, denn sie kam mir so vor, als schwebte sie geradewegs vom Himmel hernieder und als käme das Geräusch, das ich gehört hatte, nicht von den Reifen auf dem Asphalt, sondern von Flügeln, die mit raschem Schlag die Lüfte teilten. Sie war beinah gleichauf mit mir, fuhr im Freilauf, entspannt zurückgelehnt, nur eine Hand am Lenker. Die Schöße ihres Gabardineregenmantels flatterten rechts und links hinter ihr wie, ja, wie Flügel, und einen blauen Pulli hatte sie an, unter dem eine Bluse mit weißem Kragen hervorschaute. Wie deutlich ich sie vor mir sehe! Sie muss meine Erfindung sein, ich meine, diese ganzen Einzelheiten kann ich doch nur erfunden haben. Sie trug einen weiten, wehenden Rock, und plötzlich packte ihn der Frühlingswind und hob ihn hoch und entblößte sie bis rauf zur Taille. Ach, ja.

Heutzutage wird einem ja ständig versichert, es gebe, was die Wahrnehmung der Welt betrifft, gar keine nennenswerten Unterschiede zwischen den Geschlechtern, aber ich wage zu behaupten, dass keine Frau je diesen Andrang dunkler Wonne empfunden hat, die einem Mann, gleich welchen Alters, gleich, ob Dreikäsehoch, ob Tattergreis, durch seine Adern strömt, wenn er die Scham der Frau, wie man es früher eigenartigerweise nannte, versehentlich, also per Zufall, öffentlich zur Schau gestellt sieht. Anders als die Frauen es vielleicht vermuten und, wie ich mir denken könnte, auch durchaus zu ihrer Enttäuschung, ist das, was uns Männer wie gebannt dastehen lässt, was uns den Mund austrocknet und macht, dass uns beinah die Augen aus dem Kopf fallen, gar nicht das Fleisch an sich, sondern vielmehr das kleine bisschen seidenes Drumherum, gleichsam die letzte Barriere zwischen der Nacktheit einer Frau und unserem glotzenden Gebanntsein. Ich weiß, das ergibt keinen Sinn, aber wenn im Sommer an einem überfüllten Strand die Badeanzüge der weiblichen Anwesenden plötzlich wie durch einen dunklen Zauber Unterwäsche wären, dann würden augenblicklich alle männlichen Geschöpfe, die kleinen Nackedeis mit ihrem dicken Bauch und ihrem keck hervorgereckten Pullermann, die träge sich räkelnden, muskelbepackten Rettungsschwimmer, ja selbst die Pantoffelhelden mit ihren hochgekrempelten Hosenbeinen und ihren geknoteten Taschentüchern auf dem Kopf, buchstäblich alle, sich verwandeln in eine Horde puterroter, jiepernder, nach Beute gierender Satyrn.

Ich denke da besonders an die gute alte Zeit, damals, als ich jung war und die Frauen unter ihren Kleidern – und welche Frau, einmal abgesehen von ein paar Spielverderberinnen in Bundfaltenhosen, Golferinnen oder Filmstars, trug damals keine Kleider – mit all den Tauen und Gestängen, den Klüvern, Gaffeln, Decksprüngen und Stagen jeder Art und Form aussahen wie von einem Schiffsausrüster ausgestattet. Meine Fahrraddame nun, mit ihren straffen Strumpfhaltern und ihren perlweißen Schlüpfern aus Satin, die hatte ganz den Schmiss und auch die Grazie eines getrimmten Schoners, der furchtlos mitten in einen steifen Nordwest hineinsteuert. Sie schien genauso erschrocken wie ich über den Windstoß und darüber, was er mit ihrer Sittsamkeit anstellte. Sie schaute an sich hinunter, dann an mir, hob die Brauen, formte den Mund zu einem O, lachte glucksend, strich sich achtlos mit dem Rücken ihrer freien Hand den Rock über den Knien glatt und segelte vergnügt davon. Mir kam sie vor wie eine Vision der Göttin selbst, doch als ich mich umdrehte und ihr nachsah, da war sie einfach eine Frau, die auf einem schwarzen Fahrrad von dannen rumpelte, eine Frau mit solchen Schulterklappen oder Epauletten am Mantel, wie sie damals Mode waren, Nylons dazu mit schiefen Nähten und dieser Pagenkopf – genau wie meine Mutter. Langsam und besonnen bog sie mit eierndem Vorderrad in den Kirchhof ein und ließ die Klingel zirpen, eh sie hinausfuhr auf die Straße und links die Church Road runter.

Ich kannte sie nicht, hatte sie noch nie gesehen, jedenfalls nicht bewusst, obwohl ich eigentlich glaubte, mittlerweile jeden Bewohner unserer engen kleinen Stadt schon mindestens einmal gesehen zu haben. Und habe ich sie dann wirklich noch ein weiteres Mal gesehen? Kann das tatsächlich Mrs Gray gewesen sein, dieselbe Mrs Gray, die vier, fünf Jahre später so folgenreich in mein Leben einbrechen sollte? Es will mir nicht gelingen, mir das Gesicht der Frau auf dem Fahrrad deutlich genug in Erinnerung zu rufen, um mit Bestimmtheit sagen zu können, ob es sich dabei tatsächlich um eine frühe Sichtung meiner Venus Domestica gehandelt hatte; gleichwohl besteht die Möglichkeit, und daran halte ich beharrlich und nicht ohne Wehmut fest.

Was mich an dieser Begegnung auf dem Kirchhof so sehr berührt hat, war – neben der primitiven Erregung – das Gefühl, dass mir ein kurzer Blick in die Welt des Weiblichen schlechthin gewährt worden war, dass ich, und sei’s auch nur ein paar Sekunden lang, Zutritt hatte zu dem großen Geheimnis. Was mich so elektrisiert und so verzaubert hat, war nicht allein der Anblick der wohlgeformten Beine und der faszinierend komplizierten Unterbekleidung einer Frau, der mir da vergönnt gewesen war, sondern diese selbstverständliche, belustigte und zugleich großzügige Art, wie sie an mir hinuntersah, mit diesem heiseren Lachen, und diese lässige, beiläufige Grazie, mit der sie ihren wehenden Rock bändigte. Das muss ein weiterer Grund sein, weshalb sie in meiner Fantasie mit Mrs Gray verschmolzen ist, weshalb sie und Mrs Gray für mich die beiden Seiten ein und derselben kostbaren Medaille sind, denn Grazie und Großzügigkeit, das war es, was ich an jener ersten und, wie ich bisweilen treulos denke – verzeih mir, Lydia –, einzigen wirklichen Leidenschaft meines Lebens geschätzt habe oder hätte schätzen sollen. Gleichsam das Wasserzeichen, das, was Mrs Gray in jeder ihrer Gesten mir gegenüber zu erkennen gab, war Freundlichkeit oder etwas, das man früher Herzensgüte nannte. Ich bin, glaube ich, nicht übermäßig innig veranlagt. Ich hab sie nicht verdient, das weiß ich heute, doch wie konnte ich es damals wissen, ich war ja schließlich noch ein Knabe, unreif und unerprobt. Kaum, dass ich diese Worte hingeschrieben habe, da höre...

Erscheint lt. Verlag 13.2.2014
Übersetzer Christa Schuenke
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Freizeit / Hobby Fotografieren / Filmen
Schlagworte Ancient Light • Erinnerung • Identität • John Banville • Schauspieler • Sinnliche Liebe • Trauer • Vergangenheit
ISBN-10 3-462-30765-7 / 3462307657
ISBN-13 978-3-462-30765-8 / 9783462307658
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