Karlmann (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2014
480 Seiten
DVA (Verlag)
978-3-641-13642-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Karlmann - Michael Kleeberg
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Die Betriebsgeheimnisse eines ganz normalen Mannes
An seinem Hochzeitstag fühlt sich Karlmann »Charly« Renn als Sieger. Er hat seine Traumfrau geheiratet, und Boris Becker gewinnt Wimbledon. Alles scheint möglich. Michael Kleebergs Roman durchleuchtet Familie und Freunde, das Lieben und Arbeiten seines Helden mit so unerbittlicher Präzision, dass die Banalität des Alltäglichen seine verborgene Faszinationskraft enthüllt. Ein Buch über die Zeit und was sie mit den Menschen macht. Kleeberg betreibt mit literarischen Mitteln nicht weniger als eine Anthropologie des Männlichen. Charlie Renn nämlich ist ein Jedermann, ein Mann, den man zu kennen glaubt. Einer, der begehrt, sucht, funktioniert, sich fügt und vom Ausbruch träumt. Aber so wie der Autor ihn beobachtet und seziert, hat man ihn noch nie gesehen.

Der erste Band der großen Karlmann-Trilogie, gefolgt von den Romanen »Vaterjahre« und »Dämmerung«, eröffnet die literarische Epochenbesichtigung, die von den 1980er-Jahren bis in unsere Gegenwart reicht.

Michael Kleeberg, 1959 in Stuttgart geboren, studierte Politische Wissenschaften und Geschichte. Nach Aufenthalten in Rom und Amsterdam lebte er von 1986 bis 1999 in Paris. Heute arbeitet er als freier Schriftsteller und Übersetzer in Berlin. Für sein literarisches Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. 2008 als Mainzer Stadtschreiber. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen: 'Ein Garten im Norden' (1998), 'Der König von Korsika' (2001) und 'Karlmann' (2007). 2010 erschien der Roman 'Das amerikanische Hospital', der für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde und für den Michael Kleeberg 2011 den Evangelischen Buchpreis erhielt. Sein Roman 'Vaterjahre' wurde u.a. mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg ausgezeichnet. 2016 erhielt Michael Kleeberg für sein Gesamtwerk den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Oktober 86


Du kennst die unterschiedlichsten Arten zu erwachen, sanfte und sinnliche, abrupte und erschreckende, aber was sie, sofern dich nicht einfach am Ende des natürlichen Schlafzyklus die Schläge der inneren Uhr wecken, alle gemeinsam haben, ist ein Reiz von außen, den die gegen Morgen schwächer werdende Schlaflogik nicht mehr dauerhaft umspinnen kann und der die in der Unterwasserwelt des Schlafs wie Plankton verstreuten Elemente und Komponenten deines Bewußtseins anlockt und hinauf zur Oberfläche zieht, auf welchem Wege sie sich wieder zusammenfügen, so daß mit dem ersten Luftschnappen über dem Wasserspiegel des Wachzustandes oder kurz darauf dein Ich erneut zum gewohnten Ich aneinandergewachsen ist.

Der sanfteste all dieser Reize ist wahrscheinlich das langsam hochdimmende Tageslicht. Beim Hinaufgleiten zur Helligkeit hat das Bewußtsein fast unendliche Muße, vom aufgelösten Zustand, die Häute des Traums sukzessive abstreifend, in die wache Form zu finden, da das Licht es als der einzige Weckreiz, der an keine individuelle Empfindung geknüpft ist, gleich, ob positiv oder negativ, nicht in eine Identität zwingt. Gerade einmal werden die Sensoren des Schlafschwarms, der noch kein Ich ist, unterscheiden können zwischen sonnigem und trübem Tageslicht und den Weg hinauf daher vielleicht in einer Dur- oder einer Mollstimmung zurücklegen, denn ebenso wie unter Wasser die Schallwellen stärker wirken, verstärkt auch der Halbschlaf jeden Außenreiz, ohne ihn vorderhand noch an seiner Gattung und Form zu erkennen.

Ein ähnlich wohliges Erwachen kann auch ein Klang hervorrufen, beispielsweise senkt vom Wind herbeigetragenes städtisches Glockenläuten eine Erinnerung an die Ostermorgen deiner Kindheit in die Unterwasserlandschaft, und du schwebst der Helligkeit in der Erwartung auf profane und heilige Wunder des Festtages entgegen, selbst wenn nur ein normaler Montag bevorsteht. Auch eine geliebte Stimme kann es sein, die leise deinen Namen nennt, zu dem du nun emportauchst, ein wenig hastiger die Zelte des Schlafes abbrechend und ein wenig pflichtschuldiger, denn deine Bewußtseine haben alle Hände voll zu tun, dem Ruf, der ja die Aufforderung ist, »zu dir zu kommen«, zu folgen und sich im Zeichen dieses Namens und in der Erinnerung daran, was er bedeutet, zu finden und zu ordnen. Daß die Stimme vertraut ist, wird die Zumutung gering halten, die das Geschäft der Integration für den Erwachenden immer bedeutet, wobei die Sensoren auch hier einen dringlichen von einem gelassenen Ton zu unterscheiden wissen und je nachdem mit mehr oder weniger Unruhe das Puzzle der Identität zusammenfügen. Deren Grundgestimmtheit wird sich, abhängig von der Beschaffenheit des Reizes, von dem der Halbschlafende – in dessen Zustand das bewußte Zeitgefühl noch nicht existiert – nicht sagen kann, ob Erwartungen oder Erinnerungen mit ihm verbunden sind, irgendwo auf der fließenden Skala zwischen Furcht und Verheißung einpendeln.

Während von allen Weckreizen Gerüche die schwächsten sind, die schon in geballter Konzentration vor deiner Nase auftauchen müssen, um anderes als bizarre Traumverrenkungen hervorzurufen, ist jede Berührung eine komplexe Herausforderung an deine Bewußtseinspartikel, da du sie zwar spürst, aber aufgrund deines aufgelösten Zustandes zunächst nicht zu lokalisieren vermagst. Die auf deiner Schulter liegende Hand hältst du vielleicht für ein eigenes, neues Glied, das aus dir herauswächst, dem Licht entgegen wie ein Ast an der Krone einer Koralle. Die Schlaflogik potenziert Berührungen stärker als jeden anderen Reiz und versucht zugleich, sie einzubinden. Beispielsweise bist du vor einiger Zeit mit leichter Hand an der Schulter wachgerüttelt worden und hast dabei geträumt, eine aufgebrachte Menschenmenge versuche in einer engen Gasse, den Fiat 500 umzustürzen, in dem du gesessen hast, und erst die Erschütterung des aufs Dach kippenden Autos weckte dich endgültig, wobei du völlig verdutzt zu dir kamst, weil du um zu erwachen kopfüber aus dem verbeulten Fiat kriechen mußtest.

Ein Wachrütteln wirkt, als drücke man mit Gewalt einen Zylinder in einen Behälter mit Flüssigkeit: Der Druck erhöht sich überall, und die Puzzleteile des Ichs wirbeln so panisch durcheinander wie der Schnee in den Glaskugeln der Kinder. Dagegen kann dieselbe Unwissenheit des Schlafbewußtseins darüber, wo genau die fremde Hand wirkt, die leider seltene Variante einer sexuellen Stimulation zum Zweck des Aufweckens, da die physischen Reaktionen sich zwar sehr wohl am Ort des Geschehens einstellen, der Schlafende diesen Ort aber keinem Ich zuordnen kann, zu einer Erfahrung im wahrsten Wortsinne ozeanischer Seligkeit werden.

Jeder Weckreiz aber, ganz gleich, wie sanft oder unsanft, wie zart oder durchdringend er sein mag, ist, sofern er nicht zum allerersten Mal auftritt, an eine Empfindung gekoppelt, die, bevor Charly noch Ich zu sagen oder auch nur den Reiz selbst zu identifizieren vermag, die Qualität seines Erwachens bestimmt, eine Erinnerung, die zur Vorahnung wird. Denn ebensosehr wie das prekäre Gebilde des sich zusammensetzenden Bewußtseins in diesen Sekunden oder Sekundenbruchteilen des Erwachens von seiten des Schlafs beeinflußt wird (dergestalt, daß er nach einem intensiven Traum, in dem er von seiner Frau betrogen und verlassen wurde, der richtigen »zurückgekehrten« und unschuldigen Christine am Frühstückstisch noch immer mit revanchistischen Gelüsten gegenübersitzt und womöglich sogar einen Streit vom Zaun bricht, um sie für das zu bestrafen, was sie, wie er im Grunde doch wissen sollte und ja auch weiß, gar nicht wirklich getan hat), genauso wird es auch von seiten des Tags mit Erinnerungen beeinflußt und braucht hinterher minuten-, manchmal stundenlang, um die tatsächliche neue Realität gegenüber dieser Voreingenommenheit anzuerkennen.

Das schrille, grelle, rhythmische Piepen, nach vier Tönen aussetzend, dann sich lauter, insistierender wiederholend, wieder fortwandernd, erneut zurückkommend, noch gellender, das seit einem Jahr zu Charly in die Tiefe dringt, löst einen plötzlichen Schmerz aus, der sich wie ein Angelhaken in seinem Gaumen verfängt und ihn unbarmherzig, abrupt nach oben reißt. Die Zeit bis zum Wachwerden, in Wirklichkeit nur Sekundenbruchteile, ist ein qualvoller Weg, auf dem er merkt, daß das Gefühl, das er für einen Schmerz hielt, in Wahrheit die Angst ist, die der vermeintliche Schmerz ihm eingejagt hat. Als er endlich wach ist und auf dem mattschwarzen Braunwecker herumtastet, um das Klingeln zu beenden, ist er von diesem Schmerz, dieser Angst, was immer es ist, so ausgehöhlt, ausgezehrt, so müde und erschöpft und hoffnungslos, als hätte er kein Auge zugetan, weiß aber noch nicht, wovor er eigentlich Angst hat. In dem Moment, in dem er sich daran erinnert: Es ist sechs Uhr, ich muß aufstehen und um sieben im Autohaus sein, ist er der Schuljunge von einst, der mit dem Gedanken erwachte: Es ist sechs Uhr, ich muß aufstehen und um sieben zur Schule fahren. Denn nicht nur beherrscht die an das Weckergepiepe gekoppelte Angst den Erwachenden, sie kann ihn auch mittels fehlgeleiteter Assoziationen des sich zusammenfügenden Bewußtseinspuzzles als einen anderen erwachen lassen, keinen ganz fremden Menschen zwar, aber als ein Selbst aus einer anderen Zeit oder einem anderen Lebenszusammenhang.

Es ist der gleiche Kloß im Magen, und wenn ihm auch klar wird, daß er nicht mehr der Schuljunge von damals sein kann, so begegnet er der Angst vor dem Tag doch mit nichts als der begrenzten Abstrahierungskraft und der engen Perspektive dieses Jungen.

Ist es die frühmorgendliche Dunkelheit um diese Jahreszeit, die diese Verwandlung hervorruft, oder die Ähnlichkeit des unerfüllbaren Wunsches, nicht zur Arbeit zu gehen, mit dem damals ebenso unerfüllbaren, zu schwänzen, obwohl man nicht krank war? Jedenfalls erlebt der erwachende Erwachsene diesen Moment und die gesamte nächste halbe Stunde in der emotionalen Welt des Kindes: die Aussicht, in Kürze unbekannten Herausforderungen gegenüberzustehen, die du nicht überblickst und die dich überfordern. Nie dich sicher fühlen können und gewappnet, immer voller Furcht davor, was sie wieder in petto haben werden für dich und daß du ihm nicht gewachsen sein wirst. Jeden Morgen wie in einem Käfig zu sich kommen.

Unwillkürlich wartest du auf Mama, und da du zugleich weißt, daß keine Mama kommt, musterst du die neben dir weiterschlafende Christine mit einer völlig unangemessenen Verbitterung, weil sie dir nicht wie oder als deine Mutter hilft, in den bedrohlichen Tag zu finden. Welch ein zärtlich liebevoller Charon sie damals gewesen ist auf der Überfahrt vom Schlaf übers Badezimmer, den Kleiderschrank, die Schulranzenkontrolle, das Frühstück bis zur Haustür und dem Blick auf die feucht glitzernde Lichttraube um den Laternengalgen in der Morgenfinsternis eines Oktober- oder Novembertages. Warme, helfende, leitende Hände, die, auch wenn du dich nicht an ihnen festklammern konntest, dich doch immer nur mit dem Versprechen aus der Tür stießen, dich auch wieder zurückzunehmen.

Von Christine ist nur der blonde Schopf zu sehen auf dem schneeweißen, leicht gemaserten Baumwollbezug des Kopfkissens. Tief schläft sie, oder tut doch so, und es stimmt schon, man ist nie so allein wie neben einem Schlafenden. Du kannst ihr nicht zumuten, mit dir zusammen schon um sechs Uhr aufzustehen, und ihr selbst fällt es leider nicht ein, es von sich aus zu tun, wenigstens von Zeit zu Zeit.

Unter welch gänzlich anderem Stern der Tag begänne, wenn sie einmal um diese Stunde, verschlafen, bettwarm, die Füße eiskalt, dir den Kaffee ans Bett brächte, den ihren fast wortlos schlürfen würde, den Kopf an deiner Schulter, das Haar nach Schlaf duftend, beide Hände um ihre Tasse...

Erscheint lt. Verlag 14.1.2014
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Dämmerung • Deutschland • eBooks • Familie • Freunde • Hochzeitstag • karlmann 1 • karlmann 2 • karlmann 3 • Mann • Männlichkeit • Roman • Romane • Vaterjahre • Zeit
ISBN-10 3-641-13642-3 / 3641136423
ISBN-13 978-3-641-13642-0 / 9783641136420
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