Menschen am Fluss (eBook)

(Autor)

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2014 | 1. Auflage
336 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-0667-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Menschen am Fluss -  Joan Didion
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Alles beginnt mit einem Schuss. Als Everett McClelland den heimlichen Liebhaber seiner Frau Lily erschießt, ist das nicht nur der hilflose Versuch, seine Ehe vor dem endgültigen Zerfall zu retten. Es ist auch der Höhepunkt einer seit Jahrzehnten schwelenden Rivalität zwischen mächtigen Farmerdynastien im fruchtbaren Sacramento Valley. Joan Didion erzählt in ihrem ersten Roman eine Familiengeschichte, so archaisch und voll rauer Schönheit wie die Landschaft Kaliforniens, die Didions Heimat ist.

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war Mitherausgeberin der Vogue. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA im 20. Jahrhundert entscheidend prägte. Joan Didion starb im Dezember 2021 in New York.

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, zählt zu den bedeutendsten Intellektuellen der USA. Sie arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war u. a. Redakteurin der Vogue. Ihr Debütroman Menschen am Fluss erschien erstmals 1963. Sie hat seitdem vier weitere Romane und zahlreiche Sachbücher veröffentlicht, zuletzt Das Jahr magischen Denkens und Blaue Stunden. Joan Didion lebt in New York City.

1


Als Lily den Schuss hörte, war es siebzehn Minuten vor eins. Sie wusste es so genau, weil sie, ohne aus dem Fenster in die Dunkelheit hinauszublicken, in der der Schuss widerhallte, die Spange der Diamantarmbanduhr schloss, die Everett ihr vor zwei Jahren zu ihrem siebzehnten Hochzeitstag geschenkt hatte. Sie betrachtete die Uhr lange an ihrem Handgelenk, dann setzte sie sich auf die Bettkante und zog sie auf.

Als sich die Uhr nicht weiter aufziehen ließ, stand sie, nach dem Duschen noch barfuß, auf, nahm eine Flasche Joy, schüttete sich einen Schwall davon in die Hand und griff in den Ausschnitt ihres Kleides, um das Nass wie ein schützendes Zaubermittel über ihre kleinen nackten Brüste zu verteilen: Auf den sorgenfreien Seiten der Zeitschriften, in denen Joy regelmäßig zum kostbarsten Parfüm der Welt erklärt wurde, saß nie eine Frau im Schlafzimmer und hörte Schüsse auf ihrem Bootssteg.

Ihr Blick war nicht auf die Fenster gerichtet, sondern auf die gerahmten Fotografien von den Kindern, die über ihrer Frisierkommode hingen (Knight mit acht, der in seiner Pfadfinderuniform strammstand; Julie mit sieben, in demselben Sommer). Lily verweilte mit der Hand unter ihrem Kleid, bis das Joy verdunstet war, bis nichts mehr zu tun war, als die Schublade aufzuziehen, in der sich der .38er befand, seit Everett damals die Klapperschlange auf dem Rasen getötet hatte: die Schublade, wo der .38er immer noch hätte liegen müssen, und wo er nicht mehr lag. Sie hatte gewusst, dass er nicht da sein würde.

Neun Stunden zuvor, um vier Uhr, hatte Lily beschlossen, dass sie nun doch nicht zu der Party der Templetons gehen würde. Es war einfach zu heiß. Den ganzen Nachmittag hatte sie oben verbracht und bei geschlossenen Fensterläden und mit angestelltem Ventilator im Slip auf dem Bett gelegen. Everett war draußen auf den Hopfenfeldern und zeigte einem Farmer, der weiter unten am Fluss lebte, das neue Bewässerungssystem; Knight war in die Stadt gefahren; Julie war vermutlich irgendwo mit einem der Templeton-Zwillinge unterwegs. Sie wusste es nicht genau.

Die Nachmittage verliefen eigentlich immer so. Ende Juni, nach all den Scherereien, hatte sie angefangen darauf zu bestehen, dass sich alle nach dem Lunch hinlegten. An drei Nachmittagen waren auch alle nach oben gegangen, aber am vierten hatte sie Julie unten am Telefon sprechen hören. (»Das kann nicht dein Ernst sein. Er hat geschworen, dass sie vor Monaten Schluss gemacht haben.«) Und am fünften war sie, wie gewöhnlich, allein im Haus. Everett und die Kinder hatten ihren Vorschlag dennoch außerordentlich liebenswürdig aufgenommen: Wenn es ein Wort gab, das beschrieb, wie sich seit Juni jeder zu jedem verhielt, dann war es das Wort liebenswürdig. So war es den Sommer über gewesen, als ob eine einzige Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen alles wieder zerreißen, als ob ein einziges unbedachtes Wort das Gebäude, das sie umgab, endgültig zum Einsturz bringen könnte.

Sie stand auf und öffnete einen Fensterladen. Noch immer flimmerte die Hitze in der Luft, so konzentriert, als könnte sie sich jeden Moment wie eine Brandbombe entzünden. Nach dem Abendessen würde sie noch einmal unter die Dusche gehen, die Fenster aufreißen und eins von Knights Büchern lesen. Der Fußboden seines Zimmers war vollgestapelt mit Büchern. Es kam ihr so vor, als ob Knight den ganzen Sommer damit zugebracht hätte, die Sachen, die er nach Princeton mitnehmen wollte, einzupacken, auszupacken, zu ordnen und neu zu ordnen. Er hatte bereits so viele Bücher eingepackt, die an die Ostküste geschickt werden sollten, dass Everett ihn schließlich fragte, ob er glaube, dass die Bibliothek von Princeton für Erstsemester verboten sei. »Warum soll ich sie hier lassen«, hatte Knight mit einem Achselzucken erwidert, und einen Moment lang hatte Lily ihn dafür gehasst; sie hatte Boshaftigkeit in seine sanfte Stimme hineingehört, während sie beobachtete, wie Everetts Gesicht den Ausdruck betonter Sorglosigkeit annahm.

Wie auch immer, sie wollte versuchen, heute Abend zu lesen, obwohl sie es immer schwieriger fand, sich zu konzentrieren; in letzter Zeit hatte sie nur Bücher über Chicagoer Gangster oder Schriften von Meereskundlern lesen können. Das Massaker am Valentinstag und die Abgrundtiefe des Mindanao-Meeres waren gleich weit weg und interessierten sie brennend. Als Knight letzte Woche nach Berkeley fuhr, hatte sie ihn gebeten, ihr aus einem der Taschenbuchläden in der Telegraph Avenue ein paar Neuerscheinungen mitzubringen. Die Bücher, hatte Knight sie daraufhin belehrt, würden sich mit Sicherheit auch in Sacramento auftreiben lassen. Offenbar habe sie noch nicht registriert, dass es in Sacramento inzwischen Taschenbuchläden gebe. Sie und sein Vater bekämen wohl nie mehr in ihre Köpfe, dass sich in Sacramento alles verändert habe, dass Aerojet General und Douglas Aircraft und sogar das State College eine völlig neue Klasse von Menschen in die Gegend gebracht hätten, Menschen von der Ostküste, Menschen, die Bücher läsen. Sie und sein Vater würden überrascht sein – vorausgesetzt, dass sie überhaupt mal aufwachten –, feststellen zu müssen, dass in Sacramento niemand mehr die McClellans kannte. Oder die Knights. Obwohl er nicht glaube, dass sie jemals aufwachen würden. Sie würden einfach fortfahren, ihre gottverdammten verwahrlosten Kamelienbäume im Capitol Park nach ihren gottverdammten Pionieren zu nennen.

Zwar hatte sie wenig Hoffnung, dass Knight ihr überhaupt neue Bücher über Columbus Iselin oder Mad Dog Coll mitbringen würde, doch war es immer noch besser, einfach im Dunkeln zu sitzen und die Scheinwerfer auf der Uferstraße zu verfolgen, als zu Francie Templeton zu gehen, wo alle schwitzten und jemand zu viel trinken und zu vertraulich werden würde. Der Besuch der Partys am Fluss war inzwischen genauso unerfreulich wie das Betrachten unscharfer Amateurfilme, die, Rolle für Rolle, durch zu häufiges Vorführen ein bisschen zerschrammt waren. Das ist die Küche, und das da ist Joe Templeton, der versucht, Francies Glas in den Ausguss zu schütten; da, Francie, sie stampft mit dem Fuß auf, dabei ist es noch nicht einmal Mitternacht; pass auf, jetzt kommt die kleine Jennie Mason, sie sucht im Garten nach Bud Mason; diese Szene muss man sich merken; denn gleich kann man sehen, wie Jennie Mason (die in einer Sequenz, die aus dieser Rolle herausgeschnitten worden ist, bedauerlicherweise, aber nachvollziehbar, Bud Masons Aufenthalt im Garten mit Lily McClellan falsch auffasst) von Everett McClellan getröstet wird; das da ist Everett, der da, der mit der Leidensmiene. Das verstand man sogar ohne Ton. Auf die kleinen Jennies Soundso war Verlass, auf die immer gleichen Gesichter, die immer gleichen Spiele; im vergangenen Jahr, als Ryder Channing auf einer von Francies Partys provozierend feststellte, dass er fünf von den zehn anwesenden Männern Geld schuldete, musste Lily daran denken, dass sie mit sieben von den zehn im Bett gewesen war und dass sie sich bei vier von ihnen nicht mehr genau an das Wann und Wo erinnern konnte. Und jeden empfand sie jetzt als Geschmacksverirrung. Obwohl sie seit Juni keine Party am Fluss mehr besucht hatte, konnte sie sich mit derselben entstellenden Klarheit, die über dem ganzen Juni hing, daran erinnern, was nach der Party geschehen war: Es war zwar nicht die erste Party, die sie verließ, um in ein Hotelzimmer zu gehen, doch zum ersten Mal ging sie ins Senator-Hotel, das für sie immer noch das Hotel ihres Vaters war. Ihr Vater hatte die Bar im Senator geliebt, und als sie klein war, hatte er sie öfter mitgenommen und ihr eine Limonade mit Grenadine spendiert. (Am Morgen nach der Party presste sie sich Everetts Kopfkissen auf den Bauch und grub die Fingernägel tief in ihre Arme, bis sie blaue Flecken bekam, aber mittags, als sie ganz allein zum See fuhr, war sie so weit, Everett die Schuld an allem zu geben. Es wäre nicht passiert, wenn Everett auf der Party gewesen wäre, statt zu Hause zu bleiben und über seine Schwester nachzugrübeln, nichts von alledem wäre jemals passiert, wenn Everett da gewesen wäre.)

Besser, du lässt es sein, hatte Ryder Channing an jenem Junitag am See, der Teil der Scherereien war, gesagt, und obwohl Ryder der Letzte war, der ihr diesen Rat geben durfte, hatte er recht. Auf einer Party konnte alles wieder losgehen – zwei Drinks, jemand, der nicht aus der Stadt war, Everett, der sich nicht um sie kümmerte, mehr brauchte sie nicht – und als Everett um halb fünf nach oben gekommen war, hatte sie ihm gesagt, dass sie nicht zu Francie Templeton gehen würde.

»Es ist zu heiß. Geh du, wenn du willst.«

Sie bürstete ihr Haar, zog es vor ihr Gesicht und versuchte, die grauen Haare zu finden, die Julie im Dunkelblond entdeckt haben wollte. Lily konnte sich nicht vorstellen, graues Haar zu haben: Erstens war sie noch nicht siebenunddreißig, und außerdem gehörte zu ihrem Stil eine verführerische Zerbrechlichkeit. Mit grauen Haaren würde sie nicht mehr verführerisch zerbrechlich aussehen, sondern nur noch zerbrechlich.

»Knight und Julie gehen auch hin«, fügte sie hinzu.

Everett setzte sich ans Fenster. Sein Gesicht und sein Khakihemd waren fleckig vor Staub und Schweiß. »Ich finde, du solltest hingehen. Sie rechnen mit dir.«

»Ich habe Kopfschmerzen«, sagte sie sanft. »Dafür kann ich nichts, nicht wahr? Das würde jeder als höhere Gewalt akzeptieren. Sogar Francie Templeton. Ich erkälte mich, wenn ich mit nassem Hemd neben einem Ventilator sitze.«

»Du und deine Mutter.«

»Das ist angeboren. Das habe ich in...

Erscheint lt. Verlag 11.7.2014
Übersetzer Gesine Strempel
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Annabelle Dunne • Céline • Dokumentation • Ehe • Familie • Familiensaga • Farmer • Griffin Dunne • Kalifornien • Mord • Netflix • Rivalität • Roman • Sacramento Valley • The Center Will Not Hold • Wiederentdeckung
ISBN-10 3-8437-0667-0 / 3843706670
ISBN-13 978-3-8437-0667-4 / 9783843706674
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