Ediths Tagebuch (eBook)

Paul Ingendaay (Herausgeber)

(Autor)

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2013 | 2. Auflage
512 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60395-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ediths Tagebuch -  Patricia Highsmith
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Eine Mutter notiert in ihrem Tagebuch, was sie bewegt: Ihr Ehemann trägt sie auf Händen, Sohn Cliffie brilliert an der Elite-Universität Princeton; die Mädchen und die Firmen reißen sich um ihn. Edith selbst macht Karriere als Journalistin. Das ist die Welt, die sie gerne hätte. Doch was Edith Howland in ihrem Tagebuch notiert, sind Tagträume, ist eine Wunschwelt

Patricia Highsmith, geboren 1921 in Fort Worth/Texas, wuchs in Texas und New York auf und studierte Literatur und Zoologie. Erste Kurzgeschichten schrieb sie an der Highschool, den ersten Lebensunterhalt verdiente sie als Comictexterin, und den ersten Welterfolg erlangte sie 1950 mit ihrem Romanerstling ?Zwei Fremde im Zug?, dessen Verfilmung von Alfred Hitchcock sie über Nacht weltberühmt machte. Patricia Highsmith starb 1995 in Locarno.

Patricia Highsmith, geboren 1921 in Fort Worth/Texas, wuchs in Texas und New York auf und studierte Literatur und Zoologie. Erste Kurzgeschichten schrieb sie an der Highschool, den ersten Lebensunterhalt verdiente sie als Comictexterin, und den ersten Welterfolg erlangte sie 1950 mit ihrem Romanerstling ›Zwei Fremde im Zug‹, dessen Verfilmung von Alfred Hitchcock sie über Nacht weltberühmt machte. Patricia Highsmith starb 1995 in Locarno.

[9] 1

Edith hatte sich beim Packen das Tagebuch bis zuletzt aufgespart, hauptsächlich deshalb, weil sie nicht wußte, wo sie es hintun sollte. In einen Karton zwischen Bettwäsche und Decken? In einen der Koffer mit ihren eigenen Sachen? Nun lag es einsam, dick und dunkelbraun auf dem leer geräumten Couchtisch im Wohnzimmer. Die Möbelpacker kamen erst morgen früh. An den Wänden hingen keine Bilder mehr, die Bücherregale waren leer und die Teppiche zusammengerollt. Edith hatte noch an einigen Stellen gekehrt und sich gewundert, wieviel Staub doch unter den Möbeln liegenblieb, selbst bei einer guten Putzfrau wie Priscilla, die ihr auch heute vormittag geholfen hatte. Mittlerweile war es fast fünf. Brett müßte bald zurück sein. Er hatte vor einer Stunde angerufen und gesagt, er werde wohl doch später kommen als geplant, weil er den richtigen Bohreinsatz für seine Black & Decker nicht bekommen habe und es noch bei Bloomingdale’s versuchen wolle.

Heute ist der letzte Tag, dachte Edith, der letzte Abend, den die Familie Howland in der Grove Street verbringen würde, die letzte Nacht. Morgen früh zogen sie um nach Brunswick Corner in Pennsylvania, in ein zweistöckiges Haus mit Rasen drum herum, zwei Weiden davor und ein paar Ulmen und Apfelbäumen dahinter. Dieses Ereignis [10] verdiente wahrhaftig in ihrem Tagebuch festgehalten zu werden. Dabei fiel ihr ein, daß sie nicht einmal den Tag notiert hatte, an dem sie, Brett und Cliffie das Haus in Brunswick Corner gefunden hatten. Sie hatten schon geraume Zeit gesucht, etwa sechs Monate lang. Brett befürwortete den Umzug, da Cliffie inzwischen zehn war. Eine ländliche Umgebung wäre ein Segen für den Jungen und etwas, worauf er ein Anrecht hatte – Platz zum Radfahren, die Möglichkeit, das wahre Amerika zu erleben oder zumindest ein Umfeld, in dem viele Familien schon seit mehreren Generationen lebten, länger als die meisten Familien in New York. Stimmte das überhaupt? Edith überlegte ein paar Sekunden und kam zu dem Schluß, daß es nicht unbedingt stimmen mußte.

»Cliffie?« rief sie. »Hast du deine Schubladen schon ausgeräumt?« Schweigen, wie üblich, bevor er antwortete.

»Ja.«

Ein tonloses Stimmchen. Edith wußte genau, daß er seine Kommode nicht ausgeräumt hatte, obwohl er es selbst hatte tun wollen. Sie ging in sein Zimmer, dessen Tür offenstand, und machte sich fröhlich an die Arbeit. Sie spürte, daß der Umzug Cliffie schwer zu schaffen machte, obwohl er das neue Haus gesehen hatte, davon begeistert war und sich auch darauf freute.

»Da kannst du ja auch nicht vorwärtskommen, wenn du nur dasitzt und Comics liest«, sagte Edith.

Seinen großen verträumten Augen sah sie an, daß er gar nicht las, sondern nur in die Phantasiewelt sprechender Tiere oder Raumfahrer oder irgendwelcher anderen Wesen einzutauchen versucht hatte.

[11] »Es eilt doch nicht, oder?« fragte Cliffie, während er sich mit Schwung wieder aufs Bett hievte. Er trug Jeans und ein T-Shirt mit der Aufschrift »University of California«.

»Nein, mein Schatz, aber wir sollten heute lieber soviel wie möglich erledigen, denn morgen früh fällt noch allerhand Kleinkram an, und die Möbelpacker kommen schon um acht.«

Cliffie gab weder eine Antwort, noch rührte er sich. Edith fuhr fort, seine Pullover achtlos zusammenzufalten und in einen Umzugskarton zu werfen. Dann folgten die Schlafanzüge, zuletzt die Hemden.

»Du solltest dich wirklich freuen, Cliffie. Freust du dich denn nicht, daß du in einem richtigen Haus wohnen wirst – mit einem Garten ganz für dich allein?«

»Doch, schon.«

»Hat denn keiner deiner Freunde gesagt…« Edith versuchte, ein zerknittertes Hemd aus der untersten Schublade zu ziehen, und stellte fest, daß es hoffnungslos festhing. Anscheinend festgeklebt. Mit hellbraunem Klebstoff, wie es aussah. »Was ist denn damit passiert?«

»Hm, keine Ahnung.« Cliffie schob seine Hände in die Hosentaschen und ging mit hängendem Kopf aus dem Zimmer.

Lächelnd richtete Edith sich auf. »So schlimm ist es auch wieder nicht, Cliffie. Kopf hoch! Wir essen heute abend beim Chinesen!«

Dabei war es ein schönes weißes Hemd gewesen, sonst ganz sauber. Hatte Cliffie das absichtlich getan? Womit bekam man Klebstoff raus? Mit heißem Wasser? Edith warf [12] das Hemd in den halbvollen Umzugskarton und setzte ihre Arbeit fort.

»Cliffie? Ist mit Mildew alles in Ordnung?« Ohne die Teppiche auf dem Boden klang ihre Stimme schneidend.

»Ja«, sagte Cliffie, ebenso tonlos wie zuvor.

Edith hatte die Katze zuletzt auf der Heizkörperverkleidung im Wohnzimmer sitzen und aus dem Fenster schauen sehen, als wollte sie einen letzten Blick aus dem zweiten Stock auf die Grove Street werfen. Um sich zu vergewissern, ging Edith ins Wohnzimmer, wo Mildew mit eingezogenen Pfoten am Boden neben dem Sofa saß. Ein ungewöhnlicher Platz für die Katze.

»Mildew«, sagte Edith leise, »du kommst in ein viel hübscheres Haus.« Sie strich der Katze leicht über den Kopf. Mildew schnurrte halb im Schlaf.

Mildew war ein gutes Jahr alt. Edith und Brett hatten sie vom Lebensmittelhändler bekommen, der kein anderes Zuhause für sie finden konnte. Sie hatten sie Mildred getauft, aber Cliffie hatte Mildew daraus gemacht, und nun wurde sie meist so gerufen. Mit ihrer weißen Brust und den weißen Pfoten, im übrigen scheckig mit ein paar schwarzen Flecken, erinnerte sie Edith an die Katzen auf Hogarths Gemälden. Eine Ofenkatze, die die Wärme liebt, dachte Edith. In Brunswick Corner würde sie einen richtigen Kamin haben.

Zur gleichen Zeit starrte Cliffie aus dem Fenster im Elternschlafzimmer. Er spürte, daß sein Herz schneller schlug. Der Umzug war Wirklichkeit, nicht etwas, was er sich nur eingebildet hatte, sonst wären die Teppiche nicht zusammengerollt und der Kühlschrank nicht fast leer [13] gewesen. Cliffie stellte sich oft viel schlimmere Dinge vor, etwa daß eine Bombe unter ihrem Apartmenthaus oder sogar unter der ganzen Stadt explodierte und daß ganz New York in die Luft fliegen und kein Mensch überleben würde. Doch auf einmal empfand er diesen Umzug in einen anderen Staat fast so, als ginge tatsächlich eine Bombe unter seinen Füßen los. Er sah sich in dem ordentlich ausgeräumten Schlafzimmer um, bemerkte den kleinen Reisewecker im Lederetui auf dem Nachttisch seiner Eltern und dachte sofort daran, ihn aus dem Fenster zu werfen. Er stellte sich vor, wie er auf dem Pflaster aufschlug, dank der Lederhülle vielleicht sogar ohne kaputtzugehen, und er stellte sich vor, wie ein Fremder, hoch erfreut über den wertvollen Fund, ihn aufhob und schnell in die Tasche steckte, ehe jemand es bemerkte. Cliffie verspürte das Bedürfnis, etwas zu zerbrechen, das Bedürfnis, es seinen Eltern heimzuzahlen.

Ediths dickes Tagebuch landete schließlich in einem Umzugskarton zwischen zwei zusammengefalteten Bettlaken. Sie mußte diesen und den morgigen Tag gleich bei ihrer Ankunft in Pennsylvania darin festhalten, auch wenn es in dem neuen Haus noch so viel zu tun gab. Zum Glück hatte sie ihr Tagebuch in all den Jahren nicht mit Banalitäten gefüllt, was bedeutete, daß noch mehr als die Hälfte der Seiten unbeschrieben waren. Sie hatte es mit zwanzig, als sie noch aufs Bryn Mawr College ging, von einem Mann namens Rudolf Mallikin geschenkt bekommen; er war um die Dreißig, in ihren Augen ein älterer Mann, und noch heute war es ihr ein wenig peinlich, daß sie sich eine Bibel gewünscht hatte, als er sie irgendwann vor Weihnachten [14] nach einem Herzenswunsch gefragt hatte. Damals hatte Edith ihre metaphysische Phase gehabt – Jakob Böhme, Swedenborg, Mary Baker Eddy und so weiter. Selbstverständlich gab es bei ihr zu Hause eine Bibel – sie stand im Bücherregal ihrer Eltern –, aber sie hatte sich eine schöne, in Leder gebundene ganz für sich allein gewünscht. Da Rudolf sie jedoch mit seinem Geschenk dazu bringen wollte, mit ihm ins Bett zu gehen, erklärte er ihr lachend, eine Bibel sei so ziemlich das einzige, was er ihr nicht schenken könne. Später verstand Edith auch, weshalb. Statt dessen hatte er ein wunderschönes Buch mit leeren Seiten erstanden, die nicht einmal liniert waren, so daß sie es nach Belieben auch für kleine Skizzen oder Landkarten verwenden konnte. Den Einband aus braunem genarbtem Leder zierte ein in Gold aufgeprägtes florentinisches Muster. Das Gold war weitgehend abgeblättert, doch das Leder hatte Edith regelmäßig eingewachst, und dafür, daß sie das Buch seit fünfzehn Jahren hatte, war es noch wenig abgenutzt. In Ediths Augen sah es jetzt edler aus als am Anfang, als es neu war. Sie bewahrte das Tagebuch stets bei ihren persönlichen Sachen auf – beim Schreibmaschinenpapier, dem Lexikon, dem Weltalmanach –, ob sie nun ein eigenes Zimmer zum Arbeiten hatte wie hier in der Grove Street oder in einer Wohnzimmerecke arbeiten mußte. Aber Brett gehörte nicht zu den Leuten, die herumschnüffeln – eine seiner guten Eigenschaften –, und was Cliffie betraf, konnte sich Edith schlicht nicht vorstellen, daß er sich für ihr Tagebuch interessierte.

Sie selbst – Edith mußte lächeln, während sie noch andere Sachen von Cliffie verstaute – blätterte selten in ihrem [15] Tagebuch zurück. Es begleitete sie einfach, und zuweilen half ihr ein Eintrag, ihr gegenwärtiges Leben zu reflektieren und in den Griff zu bekommen. Sie mußte daran denken, wie sie es vor etwa einem Jahr blind aufgeschlagen hatte und angesichts dessen, was sie mit zweiundzwanzig geschrieben hatte, erschrocken war. Bei den Einträgen jüngeren Datums ging es eher um...

Erscheint lt. Verlag 18.12.2013
Übersetzer Irene Rumler
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bestseller • Greenwich Village • Greenwich Village, New York • Nervenzusammenbruch • New York • Parallelwelt • Persönlichkeitsspaltung • Psychothriller • Sturz auf Treppe • Suburbia • Tagebuch • Traumwelt
ISBN-10 3-257-60395-9 / 3257603959
ISBN-13 978-3-257-60395-8 / 9783257603958
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