Abschied vom Himmel (eBook)

Mein Leben zwischen Gewalt und Freiheit
eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
336 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-42624-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Abschied vom Himmel -  Hamed Abdel-Samad
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Streng religiös erzogen, schließt sich Hamed Abdel-Samad als Student der radikalen Muslimbruderschaft an. Doch dort findet er keine Antworten auf seine Fragen. Da beschließt er, nach Deutschland zu gehen, in der Hoffnung, sich endlich kritisch mit dem Islam auseinandersetzen zu können.

Hamed Abdel-Samad, geboren 1972 bei Kairo, studierte Englisch, Französisch, Japanisch und Politik. Er arbeitete für die UNESCO, am Lehrstuhl für Islamwissenschaft der Universität Erfurt und am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München. Abdel-Samad ist Mitglied der Deutschen Islam Konferenz und zählt zu den profiliertesten islamischen Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.Seine Autobiographie 'Mein Abschied vom Himmel' sorgte für Aufsehen: 'Was er von seinen Landsleuten erwartet, hat er selbst vorgemacht: Aufklärung durch Tabubruch.' ZDF-Aspekte

Hamed Abdel-Samad, geboren 1972 bei Kairo, studierte Englisch, Französisch, Japanisch und Politik. Er arbeitete für die UNESCO, am Lehrstuhl für Islamwissenschaft der Universität Erfurt und am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München. Abdel-Samad ist Mitglied der Deutschen Islam Konferenz und zählt zu den profiliertesten islamischen Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Seine Autobiographie "Mein Abschied vom Himmel" sorgte für Aufsehen: "Was er von seinen Landsleuten erwartet, hat er selbst vorgemacht: Aufklärung durch Tabubruch." ZDF-Aspekte

Erster Teil


Grüß Gott, Deutschland


Am Tag, als ich das Visum für Deutschland erhielt, lief ich ziellos durch die Straßen von Kairo, sah Häuser an, beobachtete Menschen, roch die Menge, die frittierten Falafeln und die Abgase.

Kairo lächelt müde. Wie ausgestreckte Finger richten sich die Minarette klagend gegen den Himmel und brüllen unaufhörlich den Namen Gottes. Gott selbst aber schweigt und überlässt Kairo seinem Schicksal. Stillstand, Konfusion, Lärm und Smog. Man nennt unsere Hauptstadt »die Siegreiche«, ich finde »die Besiegte« passender. Nur in einem blieb Kairo siegreich: Es besiegte seine Einwohner und begrub sie unter sich.

Es wurde Nacht, und ich lief noch immer wie benommen durch das Zentrum der Stadt, den Reisepass in der Hand, und nahm die westlichen Verheißungen auf: Die Verkehrslawine, die kalten Leuchtreklamen, die engen Touristenbasare und der bestialische Gestank der Industrieabgase machten mir Angst vor der Fremde. Plötzlich stand ich an einer Straße, die zu betreten ich mich 19 Jahre lang geweigert hatte. Aber dieses Mal wagte ich den Gang zum Haus meines Großvaters. Jenem Ort, wo ich die schönsten und schrecklichsten Momente meiner Kindheit erlebt hatte. Ich weiß nicht, warum ich mir das antat.

Vielleicht erinnerte mich der alte Mann, der die ganze Nacht vor der deutschen Botschaft wartete, an meinen Großvater. Vielleicht wollte ich eine Wunde als Andenken mitnehmen, bevor ich Ägypten für immer verließ. Oder ich suchte den Schmerz als Rechtfertigung für meine Flucht aus dem Land. Alles schien unverändert. Das Restaurant, die Cafés und die Bäckerei. Das Hochhaus, wo mein Großvater früher wohnte, stand nicht mehr. An seiner Stelle klaffte eine Baugrube. Die Fundamente versprachen ein großes, modernes Gebäude, aber sie versprachen auch ein Haus ohne Seele. Die Eisenstangen, die aus dem Fundament wuchsen, erinnerten an die Stacheln eines vertrockneten Kaktusbaums.

Die Dachgeschosswohnung meines Großvaters und die Werkstatt des Automechanikers im Erdgeschoss waren verschwunden. Zwischen ihnen lag die längste Treppe der Welt. Von dort oben beobachtete ich als Kind jeden Tag mit Begeisterung die Welt unter mir. Und dort unten zerbrach mein Leben.

Ich habe nicht geweint und spürte keinen Schmerz. Die schönen und schrecklichen Erinnerungen wechselten sich ab. Schließlich winkte ich der Baulücke, wo einmal mein Zuhause gewesen war, ging weg und glaubte, es sei ein Abschied für immer. Ich ahnte noch nicht, dass nicht nur die letzten 19 Jahre, sondern auch die folgenden eine Flucht vor diesem Ort waren.

Botschaft der Erlösung


Bevor ich nach Deutschland kam, war für mich »Deutschland« mit Namen, Bildern und Ereignissen verbunden: Rilke und Goethe, Hitler und Göring. Die Ruinen und der Wiederaufbau. Das geteilte Deutschland und das der friedlichen Wiedervereinigung. Disziplin und Zielstrebigkeit, »Made in Germany« und natürlich die deutsche Fußballnationalmannschaft, die fast jedes Spiel gewann, obwohl sie nicht besonders attraktiv spielte. Deutschland war für mich das Land von Martin Luther und das Land der Freizügigkeit; das Land von Marx und Mercedes, der Dichter, Philosophen und Helden, das aber keine Helden mehr haben darf. Das Land der Kreuzritter, die mit mir verwandt sein sollen. Im ägyptischen Fernsehen hatte ich Bilder vom Fall der Berliner Mauer, marschierende Neonazis und brennende Asylantenheime gesehen. Außerdem hatte ich vage Vorstellungen von freizügigen, gutgebauten Blondinen, die halbnackt auf der Straße laufen. Ein ägyptischer Film aus den achtziger Jahren vermittelte mir das Bild eines reichen Deutschland, in das ein ungebildeter junger Ägypter auswandert, binnen kurzer Zeit Millionär wird und eine bildhübsche Deutsche heiratet.

Ich wusste einiges über die deutsche Literatur, aber wenig über die politische und soziale Realität. Mein Deutschlandbild war, wie das der Mehrheit der Ägypter, vorwiegend positiv, auch weil Deutschland keine koloniale Vergangenheit in der arabischen Welt hatte. Das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte wird von Arabern ausgeblendet oder bagatellisiert. Da Ägypten jahrelang mit Israel in Konflikt stand, lernten wir in der Schule weder etwas über das jüdische Volk noch über den Holocaust. Manche Ägypter leugnen den Holocaust, andere versuchen ihn zu rationalisieren, wieder andere heißen ihn gut.

Meine erste direkte Erfahrung mit Deutschland machte ich vor meiner Abreise. Es war eine Begegnung voller Verbitterung und Schamgefühle. Im Frühjahr 1995 ging ich zur deutschen Botschaft im vornehmen Kairoer Stadtteil Zamalek, um ein Visum zu beantragen. Ich nahm ein Taxi, um meine eigens dafür gekaufte Kleidung nicht in den überfüllten Bussen zerknittern zu lassen. Mich überraschten die Massen von jungen Ägyptern, die in der Aprilhitze vor der Botschaft standen, als umrundeten sie die Kaaba. Doch von den Tausenden, die ins gelobte Land der »Ungläubigen« wollten, durften pro Tag nur 50 Pilger in den deutschen Palast, und diese hatten ihre Plätze bereits in der vorigen Nacht ergattert. Die arroganten Sicherheitsangestellten der Botschaft versuchten vergeblich, die Massen zu verscheuchen. Wohin sollten sie gehen? Seit Jahren bestand ihr Leben aus einem nie endenden Warten: Warten auf eine Chance, Warten vor einer eisernen Tür, mit der blassen Hoffnung, dass sie sich irgendwann öffnet.

Was für eine Schizophrenie. Wie oft haben wir den Westen verflucht und ihn für unser Elend verantwortlich gemacht. Und am Ende bleibt uns nichts übrig, als an den Türen seiner Botschaften zu warten, um Einlass zu finden? Ich ging weg und kam am frühen Abend zurück. Zwanzig Wartende standen bereits da. Einer wollte seinen Bruder besuchen und dann untertauchen. Vier wollten, wie ich, studieren, einer wollte eine alte deutsche Touristin heiraten, die er als Kellner in einem Hotel kennengelernt hatte. Der Rest wusste nicht recht, was er in Deutschland suchte. Sie wollten weg. Einige warteten, weil die Schlange vor der deutschen Botschaft kürzer war als die vor der amerikanischen. Fast alle waren junge gebildete Männer, die Ägypten gut gebrauchen könnte, die aber keine Perspektive mehr hatten. Sie waren zwar gut ausgebildet, verfügten aber nicht über die nötigen Beziehungen, die ihnen einen guten Job verschaffen würden. Auch ein siebzig Jahre alter Mann stellte sich an. Vielleicht wollte er einen Familienangehörigen besuchen, dachte ich. Er lehnte sich gegen die Mauer und schwieg. Im Gegensatz zu uns beiden waren alle auf die Nacht vorbereitet. Ein junger Mann bot dem Alten ein Kissen an, aber der lehnte ab. Mir fiel auf, dass er keine Bewerbungsmappe bei sich hatte. Irgendwann wurde ein mobiler Kiosk aufgebaut, wo die wachsende Menge vor der Botschaft Tee und Snacks kaufen konnte. Die Chancenlosigkeit vieler gab zumindest einem Teeverkäufer die Gelegenheit, sein Brot zu verdienen. Ich bewundere die Flexibilität der Ägypter, wenn es um die Schaffung von Arbeitsplätzen geht. Wer keinen Job findet, nimmt eine Handvoll Taschentücher, verkauft sie in den Bussen oder an Ampeln und nennt sich Geschäftsmann.

Schon vor Mitternacht waren die begehrten ersten fünfzig Plätze besetzt, trotzdem blieben auch diejenigen, die später kamen, in der Hoffnung, dass einer aufgeben oder dass die Botschaft vielleicht mehr Bewerber einlassen würde. Man redete und lachte und phantasierte, wie das Leben in Deutschland wohl ausschauen könnte, auch wenn der Mehrheit bewusst war, dass ihre Chance auf ein Visum so groß war wie auf einen Sechser im Lotto.

Das Gelächter der jungen Männer weckte den Alten. Verbittert musterte er uns. Später lehnte er sich erneut gegen die Mauer der Botschaft und schlief wieder ein. Irgendwann waren wir alle eingenickt. Von der Morgensonne wurde ich geweckt. Der erste Mann in der Schlange klammerte sich auch noch im Schlaf an die Tür der Botschaft. Der illegale Teeverkäufer packte ein und verschwand. Der Alte saß nach wie vor gegen die Wand gelehnt und starrte ins Nichts. Bald richtete sich jeder auf, und wir standen in der Schlange, um unsere Plätze gegen die Neuankommenden zu verteidigen. Kurz bevor die Botschaft öffnete, drängte sich ein junger Geschäftsmann durch und stand vor dem alten Mann. Gerade als ich ihm zu Hilfe eilen wollte, sah ich, wie er dem Alten fünf Pfund gab: »Jetzt können Sie nach Hause gehen!« Ein wohlhabender Geschäftsmann, der es sich leisten konnte, andere für sich stundenlang warten zu lassen, hatte sich einen Platz in der Schlange reservieren lassen. Ich schämte mich dafür. Hat der Geschäftsmann den Alten ausgenutzt oder ihm einen Verdienst ermöglicht? Als ich an der Reihe war und eingelassen wurde, stand ich vor einem ägyptischen Botschaftsangestellten, der Deutsch sprach.

Ich musste einräumen, noch kein Deutsch zu sprechen, enttäuscht, dass meine Zukunft immer noch in den Händen eines Ägypters lag. Nachdem ich seine unendlichen Fragen über mein Leben in Deutschland, die Finanzierung meines Aufenthalts und die Krankenversicherung beantwortet hatte, nahm er meine Papiere an und sagte, dass ich erst mein Visum bekommen könne, wenn die Ausländerbehörde in Deutschland zustimmen würde. Ich verließ die Botschaft, rezitierte aus dem Koran: »Oh, Allah, führe uns aus diesem Lande heraus, dessen Menschen ungerecht sind.«

Auf in das Land ohne Helden


Ich hörte nicht die Laute des an den grünen Ufern des Nils erwachenden Tages. Über der großen Wüste standen letzte Sandwolken. Seit einer Woche hatte ein ungewöhnlich starker Wind geblasen. Nächtliche Stürme hatten Sand auf unserem Dorf abgeladen, alles schien verschüttet, entrückt,...

Erscheint lt. Verlag 10.12.2013
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abdel-Samad • Ägypten • Autobiografie • Autobiografie Bestseller • Autobiografie Politik • Autobiographie • Autobiographie Prominente • Biografie Islam • Biografie Politik • Biografie Religion • Deutschland • Deutschland Politik Kultur Gesellschaft • Erfahrungen und Schicksale • Erfahrungen und wahre Geschichten • Erfahrungsberichte • Erinnerungen • Gesellschaftskritische Bücher • Hamed Abdel-Samad • Islam Aufklärung • Islam Bücher • Islam Gesellschaft • Islam Gewalt • Islamismus • Islamkritik • Islam Kritik • Islam Politik • Islam verstehen • Kultur • Lebensgeschichten Bestseller • Lebensgeschichten Schicksal Bücher • Moslem • Muslim • Muslimbruderschaft • Politik • Religion • Religion und Gesellschaft • Sachbuch Gesellschaft • Schicksale und Erfahrungen • Wahre GEschichte • wahre geschichten bücher
ISBN-10 3-426-42624-2 / 3426426242
ISBN-13 978-3-426-42624-1 / 9783426426241
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