Andorra (eBook)

Stück in zwölf Bildern

(Autor)

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2013 | 1. Auflage
144 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73480-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Andorra -  Max Frisch
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Die Kernzelle von Andorra findet sich in Max Frischs Tagebuch als Eintragung des Jahres 1946. Andorra ist der Name für ein Modell: Es zeigt den Prozess einer Bewusstseinsveränderung, abgehandelt an der Figur des jungen Andri, den die Umwelt so lange zum Anderssein zwingt, bis er es als sein Schicksal annimmt. Dieses Schicksal heißt in Max Frischs Stück »Judsein«. Das Schauspiel erschien als Buchausgabe zuerst 1961.



Max Frisch, geboren am 15. Mai 1911 in Z&uuml;rich, arbeitete zun&auml;chst als Journalist, sp&auml;ter als Architekt, bis ihm mit seinem Roman <em>Stiller</em> (1954) der Durchbruch als Schriftsteller gelang. Es folgten die Romane <em>Homo faber</em> (1957) und <em>Mein Name sei Gantenbein</em> (1964) sowie Erz&auml;hlungen, Tageb&uuml;cher, Theaterst&uuml;cke, H&ouml;rspiele und Essays. Frisch starb am 4. April 1991 in Z&uuml;rich.

Max Frisch wurde am 15. Mai 1911 in Zürich geboren und starb am 4. April 1991 an den Folgen eines Krebsleidens in seiner Wohnung in Zürich. 1930 begann er sein Germanistik-Studium an der Universität Zürich, das er jedoch 1933 nach dem Tod seines Vaters (1932) aus finanziellen Gründen abbrechen musste. Er arbeitete als Korrespondent für die Neue Zürcher Zeitung. Seine erste Buchveröffentlichung Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt erschien 1934 in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart. 1950 erscheint Das Tagebuch 1946-1949 als erstes Werk Frischs im neugegründeten Suhrkamp Verlag. Zahlreiche weitere Publikationen folgten.

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Vor einem andorranischen Haus. Barblin weißelt die schmale und hohe Mauer mit einem Pinsel an langem Stecken. Ein andorranischer Soldat, olivgrau, lehnt an der Mauer.

BARBLIN  Wenn du nicht die ganze Zeit auf meine Waden gaffst, dann kannst du ja sehn, was ich mache. Ich weißle. Weil morgen Sanktgeorgstag ist, falls du das vergessen hast. Ich weißle das Haus meines Vaters. Und was macht ihr Soldaten? Ihr lungert in allen Gassen herum, eure Daumen im Gurt, und schielt uns in die Bluse, wenn eine sich bückt.

Der Soldat lacht.

Ich bin verlobt.

SOLDAT  Verlobt!

BARBLIN  Lach nicht immer wie ein Michelin-Männchen.

SOLDAT  Hat er eine Hühnerbrust?

BARBLIN  Wieso?

SOLDAT  Daß du ihn nicht zeigen kannst.

BARBLIN  Laß mich in Ruh!

SOLDAT  Oder Plattfüße?

BARBLIN  Wieso soll er Plattfüße haben?

SOLDAT  Jedenfalls tanzt er nicht mit dir.

Barblin weißelt.

Vielleicht ein Engel!

Der Soldat lacht.

Daß ich ihn noch nie gesehen hab.

BARBLIN  Ich bin verlobt!

SOLDAT  Von Ringlein seh ich aber nichts.

BARBLIN  Ich bin verlobt,

Barblin taucht den Pinsel in den Eimer.

und überhaupt – dich mag ich nicht.

Im Vordergrund, rechts, steht ein Orchestrion. Hier erscheinen – während Barblin weißelt – der Tischler, ein behäbiger Mann, und hinter ihm Andri als Küchenjunge.

TISCHLER  Wo ist mein Stock?

ANDRI  Hier, Herr Tischlermeister.

TISCHLER  Eine Plage, immer diese Trinkgelder, kaum hat man den Beutel eingesteckt –

Andri gibt den Stock und bekommt ein Trinkgeld, das er ins Orchestrion wirft, so daß Musik ertönt, während der Tischler vorn über die Szene spaziert, wo Barblin, da der Tischler nicht auszuweichen gedenkt, ihren Eimer wegnehmen muß. Andri trocknet einen Teller, indem er sich zur Musik bewegt, und verschwindet dann, die Musik mit ihm.

BARBLIN  Jetzt stehst du noch immer da?

SOLDAT  Ich hab Urlaub.

BARBLIN  Was willst du noch wissen?

SOLDAT  Wer dein Bräutigam sein soll.

Barblin weißelt.

Alle weißeln das Haus ihrer Väter, weil morgen Sanktgeorgstag ist, und der Kohlensack rennt in allen Gassen herum, weil morgen Sanktgeorgstag ist:

Weißelt, ihr Jungfraun, weißelt das Haus eurer Väter, auf daß wir ein weißes Andorra haben, ihr Jungfraun, ein schneeweißes Andorra!

BARBLIN  Der Kohlensack – wer ist denn das wieder?

SOLDAT  Bist du eine Jungfrau?

Der Soldat lacht.

Also du magst mich nicht.

BARBLIN  Nein.

SOLDAT  Das hat schon manch eine gesagt, aber bekommen hab ich sie doch, wenn mir ihre Waden gefallen und ihr Haar.

Barblin streckt ihm die Zunge heraus.

Und ihre rote Zunge dazu!

Der Soldat nimmt sich eine Zigarette und blickt am Haus hinauf.

Wo hast du deine Kammer?

Auftritt ein Pater, der ein Fahrrad schiebt.

PATER  So gefällt es mir, Barblin, so gefällt es mir aber. Wir werden ein weißes Andorra haben, ihr Jungfraun, ein schneeweißes Andorra, wenn bloß kein Platzregen kommt über Nacht.

Der Soldat lacht.

Ist Vater nicht zu Hause?

SOLDAT  Wenn bloß kein Platzregen kommt über Nacht! Nämlich seine Kirche ist nicht so weiß, wie sie tut, das hat sich herausgestellt, nämlich seine Kirche ist auch nur aus Erde gemacht, und die Erde ist rot, und wenn ein Platzregen kommt, das saut euch jedesmal die Tünche herab, als hätte man eine Sau drauf geschlachtet, eure schneeweiße Tünche von eurer schneeweißen Kirche.

Der Soldat streckt die Hand nach Regen aus.

Wenn bloß kein Platzregen kommt über Nacht!

Der Soldat lacht und verzieht sich.

PATER  Was hat der hier zu suchen?

BARBLIN  Ist’s wahr, Hochwürden, was die Leut sagen? Sie werden uns überfallen, die Schwarzen da drüben, weil sie neidisch sind auf unsre weißen Häuser. Eines Morgens, früh um vier, werden sie kommen mit tausend schwarzen Panzern, die kreuz und quer durch unsre Äcker rollen, und mit Fallschirmen wie graue Heuschrecken vom Himmel herab.

PATER  Wer sagt das?

BARBLIN  Peider, der Soldat.

Barblin taucht den Pinsel in den Eimer.

Vater ist nicht zu Haus.

PATER  Ich hätt es mir denken können.

Pause

Warum trinkt er soviel in letzter Zeit? Und dann beschimpft er alle Welt. Er vergißt, wer er ist. Warum redet er immer solches Zeug?

BARBLIN  Ich weiß nicht, was Vater in der Pinte redet.

PATER  Er sieht Gespenster. Haben sich hierzuland nicht alle entrüstet über die Schwarzen da drüben, als sie es trieben wie beim Kindermord zu Bethlehem, und Kleider gesammelt für die Flüchtlinge damals? Er sagt, wir sind nicht besser als die Schwarzen da drüben. Warum sagt er das die ganze Zeit? Die Leute nehmen es ihm übel, das wundert mich nicht. Ein Lehrer sollte nicht so reden. Und warum glaubt er jedes Gerücht, das in die Pinte kommt?

Pause

Kein Mensch verfolgt euren Andri –

Barblin hält inne und horcht

– noch hat man eurem Andri kein Haar gekrümmt.

Barblin weißelt weiter.

Ich sehe, du nimmst es genau, du bist kein Kind mehr, du arbeitest wie ein erwachsenes Mädchen.

BARBLIN  Ich bin ja neunzehn.

PATER  Und noch nicht verlobt?

Barblin schweigt.

Ich hoffe, dieser Peider hat kein Glück bei dir.

BARBLIN  Nein.

PATER  Der hat schmutzige Augen.

Pause

Hat er dir Angst gemacht? Um wichtig zu tun. Warum sollen sie uns überfallen? Unsre Täler sind eng, unsre Äcker sind steinig und steil, unsere Oliven werden auch nicht saftiger als anderswo. Was sollen die wollen von uns? Wer unsern Roggen will, der muß ihn mit der Sichel holen und muß sich bücken Schritt vor Schritt. Andorra ist ein schönes Land, aber ein armes Land. Ein friedliches Land, ein schwaches Land – ein frommes Land, so wir Gott fürchten, und das tun wir, mein Kind, nicht wahr?

Barblin weißelt.

Nicht wahr?

BARBLIN  Und wenn sie trotzdem kommen?

Eine Vesperglocke, kurz und monoton.

PATER  Wir sehn uns morgen, Barblin, sag deinem Vater, Sankt Georg möchte ihn nicht betrunken sehn.

Der Pater steigt auf sein Rad.

Oder sag lieber nichts, sonst tobt er nur, aber hab acht auf ihn.

Der Pater fährt lautlos davon.

BARBLIN  Und wenn sie trotzdem kommen, Hochwürden?

Im Vordergrund rechts, beim Orchestrion, erscheint der Jemand, hinter ihm Andri als Küchenjunge.

JEMAND  Wo ist mein Hut?

ANDRI  Hier, mein Herr.

JEMAND  Ein schwüler Abend, ich glaub, es hängt ein Gewitter in der Luft ...

Andri gibt den Hut und bekommt ein Trinkgeld, das er ins Orchestrion wirft, aber er drückt noch nicht auf den Knopf, sondern pfeift nur und sucht auf dem Plattenwähler, während der Jemand vorn über die Szene geht, wo er stehenbleibt vor Barblin, die weißelt und nicht bemerkt hat, daß der Pater weggefahren ist.

BARBLIN  Ist’s wahr, Hochwürden, was die Leut sagen? Sie sagen: Wenn einmal die Schwarzen kommen, dann wird jeder, der Jud ist, auf der Stelle geholt. Man bindet ihn an einen Pfahl, sagen sie, man schießt ihn ins Genick. Ist das wahr oder ist das ein Gerücht? Und wenn er eine Braut hat, die wird geschoren, sagen sie, wie ein räudiger Hund.

JEMAND  Was hältst denn du für Reden?

Barblin wendet sich und erschrickt.

JEMAND  Guten Abend.

BARBLIN  Guten Abend.

JEMAND  Ein schöner Abend heut.

Barblin nimmt den Eimer.

Aber schwül.

BARBLIN  Ja.

JEMAND  Es hängt etwas in der Luft.

BARBLIN  Was meinen Sie damit?

JEMAND  Ein Gewitter. Wie alles wartet auf Wind, das Laub und die Stores und der Staub. Dabei seh ich keine Wolke am Himmel, aber man spürt’s. So eine heiße Stille. Die Mücken spüren’s auch. So eine trockene und faule Stille. Ich glaub, es hängt ein Gewitter in der Luft, ein schweres Gewitter, dem Land tät’s gut ...

Barblin geht ins Haus, der Jemand spaziert weiter, Andri läßt das Orchestrion tönen, die gleiche Platte wie zuvor, und verschwindet, einen Teller trocknend.

Man sieht den Platz von Andorra. Der Tischler und der Lehrer sitzen vor der Pinte. Die Musik ist aus.

LEHRER  Nämlich es handelt...

Erscheint lt. Verlag 9.12.2013
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
Schlagworte Schullektüre • Schweiz • Schweizer Literatur • ST 277 • ST277 • suhrkamp taschenbuch 277 • Theaterstück • Vorurteil
ISBN-10 3-518-73480-6 / 3518734806
ISBN-13 978-3-518-73480-3 / 9783518734803
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