Als die junge Regisseurin Jenny Erpenbeck 1999 mit »Geschichte vom alten Kind« ihren ersten Roman vorlegte, ging ein Raunen durch die Feuilletons. Wie schon in diesem furiosen Debüt, ausgezeichnet mit dem aspekte-Literaturpreis, zeigt sich die Autorin auch in ihren Geschichten als Meisterin literarischer Verdichtung. Jenny Erpenbeck erschafft eine verblüffend vielschichtige Prosa, sprachlich präzise und von großer Tiefenschärfe. Ob sie in der Titelgeschichte Szenen aus dem Leben ihrer alternden Großmutter erzählt oder in der preisgekrönten Erzählung »Sibirien« eine aus dem Krieg heimkehrende Frau ihren Mann von der Geliebten zurückerobert - und ihn damit endgültig verliert: Immer sind es die Menschen und ihre komplexen Beziehungen, die im Mittelpunkt stehen.
- »Exzellente Geschichten einer erstaunlichen Autorin.« (Tages-Anzeiger)
- »Wundersam melancholische und sprachlich virtuose Geschichten.« (KulturSpiegel)
Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Ost-Berlin, debütierte 1999 mit der Novelle »Geschichte vom alten Kind«. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Von Publikum und Kritik gleichermaßen gefeiert, wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Thomas-Mann-Preis, dem Uwe-Johnson-Preis, dem Hans-Fallada-Preis und dem Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland. Auch international gilt Erpenbeck als wichtige literarische Gegenwartsautorin. So wurde sie u.a. mit dem britischen Independent Foreign Fiction Prize (inzwischen bekannt als International Booker Prize) und dem italienischen Premio Strega Europeo geehrt. Ihr Roman »Heimsuchung« wird vom Guardian auf der Liste der »100 Best Books of the 21st Century« geführt. Die amerikanische Übersetzung ihres jüngsten Romans »Kairos« war in den USA für den National Book Award nominiert und wurde 2024 mit dem International Booker Prize ausgezeichnet. Erpenbecks Werk erscheint in über 30 Sprachen.
Eisland
Die Gräten kommen weg, dann ist es Filet. Ein halbes Jahr lang hat sie die Freundin nicht gesehen, aber nun sitzt sie endlich wieder in deren Küche und versenkt den Blick, so wie sie es sonst gewohnt war, ins verblichene Hellblau der Windmühlen auf der abwischbaren Tischdecke, während die Freundin spricht. Die Freundin hat um der fremden Fische willen Mann und Sohn zurückgelassen, als erste aus dem Ort hat sie sich dafür entschieden, weit entfernt von ihrem Leben zu leben, um den Unterhalt für das Leben zu verdienen. Das könntest du auch, sagt sie, und stellt einen Teller mit einem Stück Gans, das vom Familienessen übriggeblieben ist, auf den Tisch. Es ist ganz einfach, wiederholt sie, und sagt: Die Gräten kommen weg, dann ist es Filet. Ihre Zuhörerin tunkt ein Stück Brot in die fette Sauce, läßt den Blick über die Windmühlen hinaus schweifen, und fängt an, darüber nachzudenken, wie das wäre, wenn sie mit ihren festen, blaugeäderten, polnischen Beinen auf einer Insel stünde. Sie findet schließlich, daß es keinen Grund gibt, der dagegen spricht – unverheiratet ist sie, und kinderlos, also frei, frei, um jeglichen Fisch auf der Welt, wo auch immer es sein mag, in Filet zu verwandeln, frei, um an jeglichem Ort in der Welt zu leben, um Geld zu verdienen zum Leben.
Auf dem Weg vom Flughafen zu den Fischen hatte sie, aus dem Busfenster blickend, Laute des Entzückens ausgestoßen und dann für kurze Momente kopfschüttelnd den Blick zur Freundin gewandt, um von ihr Bestätigung für die Schönheit dieser Landschaft zu erlangen, einer Landschaft, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte. Ja was: Steine, hatte die Freundin gesagt und sich zu keiner gemeinsamen Begeisterung hinreißen lassen, sie aber hatte weiter den Kopf geschüttelt, in ungläubigem Staunen darüber, daß es eine solche Landschaft überhaupt geben konnte, und ebensowenig glaubend, daß die Freundin nicht in der Lage sein sollte, zu sehen, was sie sah: eine Ebene, die ganz und gar schwarz war und ganz und gar leer war, so schwarz und so leer wie nichts, was sie jemals zuvor gesehen hatte, nur einzelne Felsen standen wie Zähne aus dieser Ebene heraus, alles andere war zu Boden gestürzt, und hatte das Land bis zum Horizont mit Geröll bedeckt, mit schwarzen Brocken, an denen jede Vision menschlichen Ausmaßes offensichtlich gescheitert war, diese Brocken hatten sich, wie man sehen konnte, weder umgraben, noch bebauen, ja nicht einmal beiseite räumen lassen, denn sogar die Straße, auf der der Bus fuhr, war kein freigeräumter Weg, sondern war Asphalt, mit dem man die Brocken solange übergossen hatte, bis sich auf ihnen eine Fläche gebildet hatte, auf der man fahren konnte. Sie dachte daran, wie ihre Eltern sie früher voller Stolz allen Bekannten mit der Bemerkung vorgestellt hatten, sie sei noch Jungfrau, dieser Stolz der Eltern hatte, je älter sie wurde, zugenommen, bis zu dem Moment, als die Eltern starben, erst die Mutter, ein halbes Jahr später der Vater. Die Jungfrau, damals schon über dreißig Jahre alt, hatte es nach dem Tod der Eltern als Vermächtnis aufgefaßt, ihre Jungfräulichkeit Jahr um Jahr weiter zu steigern, indem sie die Zeit vergehen ließ, ohne an ihrem Leben etwas zu ändern, und wenn es ihr dabei um eine Steigerung bis in die Heiligkeit hinein gegangen sein sollte, so war ihr das nicht anzusehen gewesen, denn mit niemandem hatte sie weniger Ähnlichkeit als etwa mit der Jungfrau Maria, deren entblößter, schneeweißer Busen die Madonnenbilder wie ein Vollmond erleuchtete. Ihren eigenen Busen verbarg sie unter einem rosaroten Kittel, dessen Stoff glänzte und immer leicht elektrisch aufgeladen war, billiger Stoff, der knisterte, wenn sie ging, und sich hin und wieder funkenschlagend entlud. Und was sie unter dem Kittel verbarg, waren nicht Vollmonde, sondern nur zwei Hautfalten, die wie ausgepreßt an ihrem Körper hingen, ihr Hinterteil war verschwindend flach, war eigentlich nichts weiter als die Teilung des Körpers in Beine, und mit den Beinen hätte sie, wie ihre Vorfahren, gut Tag für Tag in der Sommerhitze stehen und Heu machen, oder mit ihren Armen Kälber aus Kühen herausziehen können – keineswegs jedoch mit alldem einen himmlischen Bräutigam derart reizen, daß er einem irdischen Ehemann hätte zuvorkommen und auf diese Weise ewige Jungfernschaft stiften mögen. Draußen fegte ein Schneesturm über die Steinwüste und bestäubte die schwarzen Brocken von einer Seite mit Weiß, so daß ihr Volumen noch plastischer erschien als zuvor, und die Staffelung der Steine, von ganz nah bis hin zum Horizont, noch eindrücklicher hervortrat. Die Polin wendete für einen kurzen Moment das Gesicht von der Landschaft ab, ihrer Freundin zu, und schüttelte abermals, fassungslos vor Entzücken, den Kopf. Ja was, sagte die Freundin und zuckte mit den Schultern: Schnee.
Endlich ist sie den Sommer losgeworden, und mit ihm die Hitze, und mit der Hitze den Schweißgeruch, der sich im rosaroten glänzenden Stoff ihres Kittels festgebissen hatte. Auf dieser Insel wachsen nicht einmal Bäume, weil es zu kalt ist für Bäume, und weil es keine Bäume gibt, gibt es nichts, worin sich der Wind fangen könnte, und so fährt er schneidend über die Insel. Immer schon hat sie gedacht, daß die Leute, die sterben, sich in Wind verwandeln, und so mangelt es ihr hier nie an Gesellschaft, die Toten fliegen um sie herum, während sie spazierengeht, und wenn ihr kalt wird, legt sie die Kleider ab, beschwert sie mit einem Brocken, und steigt in eines der unzähligen, mit brodelndem Wasser gefüllten Löcher, durch die man hierzulande wie durch Augen direkt in das Innere der Erde hineinsehen, und in manche eben sogar hineinsteigen kann, wenn man ein heißes Bad nehmen möchte. Sie fädelt ihre Füße in das Gehirn der Erde, streckt die Beine aus in Richtung Magma, und erholt sich so, den Kopf im Schnee, von der Arbeit im Schlachthaus der Fische.
Im billigen Wohnheim der Fischfabrik, in dem ihre Freundin lebte, war kein Zimmer mehr frei gewesen. Deshalb hatte sie ihr Gepäck, darunter auch die Stehlampe, die sie von zu Hause mitgebracht hatte, bei der Freundin untergestellt und war zum Hotel hinübergegangen. In der Vorhalle hatte sie den Schnee von sich abgeschüttelt, und war, als sie einen Mann hinter dem Tresen entdeckte, nähergetreten. Auf ihre in brüchigem Englisch gestellte Frage, wie teuer ein Zimmer sei, ein Zimmer for one, war der Mann aber nicht eingegangen, sondern hatte nur mehrfach gesagt: Dies ist das billigste Hotel! Dies ist das billigste Hotel! Erst als er nach jeder der Wiederholungen die Zähne breiter fletschte, war sie auf die Idee gekommen, die Frage, die er von ihr erwarte, sei womöglich: Warum? Also fragte sie: Warum?, und tatsächlich quoll jetzt ein Lachen aus ihm hervor: Weil es das einzige ist! Die Polin drehte sich um, um zu schauen, ob der Schnee, den sie sich vom Mantel geschüttelt hatte, schon geschmolzen war. Den Preis, den der Mann nun nannte, konnte sie nicht zahlen, nicht einmal für eine Nacht. Der Schnee war geschmolzen. Dann sah sie den langen Gang hinunter, der aus der Vorhalle zu den Zimmern führte, aus den Zimmern war kein Laut zu hören, kein Fernsehgeräusch, kein Duschen, kein Reden. Die Sitzgruppe in der Vorhalle war mit Tüchern verhängt, der Boden inmitten der Sessel staubig, der Aschenbecher unbenutzt. Es roch nicht nach Kaffee. Die Polin wußte, wie es in einem Hotel zugeht, das Gäste hat, jahrelang hatte sie als Zimmermädchen gearbeitet, und sie wußte, daß dieses Hotel keine Gäste hatte, keinen einzigen. Sie dachte bei sich, daß also der Inhaber ein Interesse daran haben sollte, sie für irgendeinen Preis unterzubringen, und wartete deshalb schweigend, weil sie auf Englisch nicht sagen konnte, was sie dachte. Und nachdem der Inhaber des Hotels sich ein wenig gewunden hatte, und sein Winden hatte zu dem vorausgegangenen Fletschen und auch zu dem Lachen gepaßt, hatte er ihr tatsächlich ein Zimmer zu einem Viertel des normalen Preises angeboten, allerdings außerhalb des Hotels, in einem Haus am Hafen. Er hatte auf mehrdeutige Weise den Kopf bewegt, von weiteren Erklärungen dieser Frau gegenüber, die nur ein Viertel des normalen Preises zahlen wollte, aber abgesehen. Dann war er, nunmehr weder zähnefletschend noch lachend, hinter dem Tresen hervorgekommen, hatte einen Bogen um den nassen Fleck am Eingang gemacht, und war kurz vor die Tür getreten, um der Frau das Dach des Hauses zu weisen, er hatte ihr den Schlüssel in die Hand gegeben, und war eilends wieder in seinem unbezahlbaren Hotel verschwunden, denn es wehte ein eisiger Wind.
Die Polin muß das Schlüsselloch anhauchen, damit der Schlüssel sich überhaupt hineinstecken läßt, dann schließt sie, und drückt und hebelt an der Klinke, bis die Tür den Weg freigibt, in ihrem Rücken weht Schnee ins Haus. Sie bleibt auf der Schwelle stehen, als sie bemerkt, daß sich im Innern des Hauses etwas bewegt, dann aber sieht sie: Es sind nur die Türen zu den Zimmern im Erdgeschoß, die leise aufgehen, zugehen, aufgehen, zugehen. Der Luftzug, den sie selbst mitgebracht hat, ruft diese Bewegung hervor, es ist eine tote Bewegung, die Bewegung von etwas, aus dem das Leben gewichen ist, bezeichnet durch die Nachlässigkeit in der Unterscheidung zwischen innen und außen: Kieferknochen von Ertrunkenen hängen auf diese Weise in den Angeln, klappen auf, klappen zu, bis der Unterkiefer endlich davongetrieben wird, auf diese Weise blättert das Wasser in Büchern, die in den Bach gefallen sind, fährt der Wind durch die Fischköpfe, die hier auf der Insel zu Tausenden aufgeknüpft werden, bis das Geräusch, das sie beim Aneinanderschlagen machen, ein hohles Rascheln geworden ist. Die Polin erkennt an dieser Bewegung der Türen, daß das Haus unbewohnt ist, und schließt daraus, daß sie sich das schönste Zimmer...
Erscheint lt. Verlag | 25.11.2013 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aller Tage Abend • Deutsche Gegenwartsliteratur • eBooks • Erzählungen • Frauenschicksal • Gehen, ging, gegangen • spiegel-bestseller Autorin |
ISBN-10 | 3-641-13476-5 / 3641134765 |
ISBN-13 | 978-3-641-13476-1 / 9783641134761 |
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