Die Inszenierung (eBook)
176 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-03081-7 (ISBN)
Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen.
Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen.
3
Es klopft, Augustus setzt die Brille auf und ruft laut und hell: Herein. Er weiß, wer um diese Zeit kommt.
Der Pfleger Robert öffnet die Tür, lässt Gerda eintreten, er trägt eine offenbar volle Reisetasche. Gerda nimmt sie ihm ab, sagt: Schon gut, danke. Und Robert, dialektnah: Sie will’s mich net machen lassen. Und Augustus: Danke, lieber Robert, danke. Robert: Wenn man schon nichts tun kann für die Menschheit, dann tut man eben, was sich gehört. Frau Doktor, Herr Professor, ich wünsche einen schönen Tag. Er geht. Darauf hat Augustus gewartet, jetzt legt er los.
Die Sonne wüsste nicht, warum sie scheint, wenn sie nicht dich beschiene!
Aus welchem Stück?
Aus meinem.
Wie heißt das Stück?
Großer Bahnhof für Dr. Gerda! Glaub’s oder glaub’s nicht, die bringen jeden Tag wieder das Frühstück, und ich muss jeden Tag wieder an Eides statt erklären, dass Professor Overath persönlich mir erlaubt hat, das Klinik-Frühstück nicht anzurühren und dafür das Frühstück von Dr. Gerda Baum zu verschlingen, weil Dr. Gerdas Frühstück alles enthält, was ich an diesem Tag brauche. Aber solange du da bist, rühr ich’s nicht an. Ich verzehre dich. Mit den Augen.
Wie geht es den Augen?
Wie geht es der Hüfte? Wo ist der Stock?
Churchill ließ sich nie mit Stock fotografieren. Ich hab ihn beim Pförtner gelassen.
Weil du ihn nicht brauchst?
Weil du ihn furchtbar findest.
Sie hat ihm, was zu seinem Frühstück gehört, hingestellt. Eine Schüssel, in der alles enthalten ist. Kefir, Früchte, Körner und so weiter. Obwohl er gesagt hat, solange sie da sei, rühre er das nicht an, löffelt er jetzt die ganze Schüssel leer.
Guten Appetit muss man dir nicht wünschen.
Dr. Gerdas Feinstkost! Damit könntest du die Welt erobern.
Mir würdest du reichen.
Sie hat aus der Tasche frische Wäsche in seinen Schrank geräumt und Gebrauchtes zum Mitnehmen verstaut. Sie kommt ans Bett, schaut zu, wie er isst.
Das kann ich nur bei dir.
Was?
Mir beim Essen zuschauen lassen. Ich weiß, wie komisch man aussieht mit vollem Mund.
Bei mir ist es dir egal, wie du aussiehst!
Mach doch nicht gleich was Negatives daraus. Ich hab es gemeint als Nähe. Unter allen Umständen.
Trotzdem heißt das, bei mir ist es dir egal.
Und wenn das so wäre?!
Da! Schau!
Sie zieht aus ihrer Handtasche ein Buch.
Das erste Exemplar.
Gibt es ihm. Er liest:
Abhängigkeit, Wahn und Wirklichkeit.
Das erste Exemplar.
Sieht toll aus. Wie eine Gewitterwolke, aus der gleich Blitze kommen.
Wie ein Dunkel, in dem sich das Licht verbirgt.
Das bist du.
Du bist ein Licht, das das Dunkel verleugnet.
Es gibt keinen Satz von mir, aus dem du nicht das Gegenteil herauswirtschaftest.
9900 Exemplare sind vorbestellt. Der Verleger findet’s erstaunlich.
Ich auch.
Ich hab dir eins mitgebracht als Belegexemplar. Du kommst auch vor.
Klar.
Sie nimmt das Buch, blättert, findet die Seite.
Das Kapitel heißt Schweigen und Verschweigen. Und dann noch das Kapitel Verheimlichung und Geheimhaltung. Falls es dich interessiert.
Gerda!
Du weißt, warum ich eine erfolgreiche Ärztin bin.
Weil du alle Krankheiten auf die Ursache zurückführst, die die Ursache aller Krankheiten ist.
Spotte ruhig.
Gerda, ich habe noch nie aufgehört, dich zu bewundern.
Und was ist die Ursache aller Krankheiten?
Abhängigkeit.
Und warum bist du in dieser Klinik?
Stopp! Endlich eine Krankheit, die nicht in dein Fach fällt. Durchblutungsstörung im Gehirn, Sehstörung bis zur Erblindung.
Die erstaunlich schnell verging. Du simulierst. Wie lange noch?
Bis … zum Wochenende. Ich könnte der Nachtschwester die Nina anbieten. Sie weiß noch nichts davon. Die Demski ist für die Nina so ungeeignet wie du für die Lady Macbeth. Aber, Moment, das wäre endlich die Gewalt als liebenswürdige Grausamkeit. Ach, Gerda, warum musst du andauernd Menschen heilen, statt mit mir zu spielen. Gerda, diese Nachtschwester ist, was nach dir keine mehr war.
Das sagst du jedes Mal. Dass dir das nicht selber auffällt. Diese Wiederholungen bis ins Wörtliche.
Sie sieht auf dem Boden ein Taschentuch. Hebt es auf.
Ein Taschentuch!
Natürlich ein Taschentuch. Ich wollte ja immer schon Othello machen. Aus einem Taschentuch von Desdemona produziert Jago die tödliche Intrige.
Für dieses Taschentuch brauchen wir keinen Jago.
Das wär’s überhaupt. Der Othello, von einer Frau gespielt. Die Eifersucht ist eine weibliche Domäne!
Und von wem ist dieses Taschentuch? Es duftet ein bisschen nach … nach, ich weiß nicht, was.
Hauptsache, es duftet.
Es duftet nach Nachtschwester.
Leg’s da hin. Ich werde sie fragen.
Gestern hast du gesagt, sie sei eine reichhaltige Person.
Das ist sie.
Vorgestern hast du gesagt, sie sei wie eine Landschaft, in der man wandern möchte.
Was du dir alles merkst.
Und vor drei Tagen war sie: das Gegenteil von berechenbar.
Gerda, der Klinikalltag droht eintönig zu werden. Man ist dankbar, wenn eine Person auftaucht, die ein bisschen Farbe ins Alltagsgrau bringt.
Wie heißt sie?
Nachtschwester! Ist das nicht ein hinreißendes Wort? Nachtschwester.
Nach zehntägiger Beobachtung heißt die Diagnose: weitgehender, vielleicht vollständiger Verlust der Selbstbestimmungsfähigkeit. Eine Abhängigkeit, die in meiner Gradation die zweithöchste Stufe hat. Nummer neun. Nummer zehn wäre erreicht, wenn du den Verlust der Selbstbestimmungsfähigkeit gar nicht mehr wahrnähmst. Aber du nimmst ihn noch wahr und suchst, ihn zu verbergen. Darin drückt sich noch aus eine Achtung der Rechtmäßigkeit aller Umstände, die das persönliche Glücksverlangen verneinen. Zehn hieße, die Realität mag sein, wie sie will, der Betroffene will davon nichts mehr wissen, ja, er weiß sogar nichts mehr davon. Das Realitätsprinzip ist außer Kraft gesetzt. Die Illusion hat die Herrschaft übernommen und lässt sich durch nichts mehr bremsen. Du bist noch nicht so weit. Du weißt noch, dass du in Gefahr bist, die Illusion allmächtig werden zu lassen. Du weißt noch, dass deine Inszenierung auf dem Spiel steht. Dass du längst wieder auf der Bühne stehen, Regisseur sein solltest. Mit jeder Inszenierung, hast du einmal gesagt, setzt der Regisseur alles, was er je gemacht hat, wieder aufs Spiel. Und das tust du, wenn du dich, obwohl du dich erstaunlich schnell von deinem Schlaganfall erholt hast, mit Lydias Hilfe zum Fernmelderegisseur machst. Und weißt, dass das nicht geht. Der Regisseur ist nicht durch noch so treue Botschaften zu ersetzen. Er ist Teil der Inszenierung nicht durch kluge Botschaften, sondern durch leibhaftige Anwesenheit. Er verändert sich durch jede Sekunde seiner Anwesenheit, wie sich die ganze Inszenierung andauernd verändert. Einfach dadurch, dass alle teilnehmen. Und du drückst dich. Du desertierst. Du riskierst das Scheitern. Die Katastrophe. Die Inszenierung erstickt, weil du ihr deinen Atem versagst.
Donnerwetter, Dr. Gerda, die Instanz. Bevor du zur Hinrichtung schreitest, empfehle ich, was Shakespeare mitteilt: Der Henker bittet den Hinzurichtenden, bevor er ihn hinrichtet, um Vergebung.
Nur zu gern! Und dass ich es ungern tue, dazu! Und nur tue, weil du in Gefahr bist.
Du richtest mich hin, um mich zu retten.
Mach nur ein Theater daraus. Du weißt, dass du in Gefahr bist, du spürst es, aber du glaubst, du könnest durch Tricks und Täuschung davonkommen. Herr des Verfahrens bleiben. Wie immer. Wie schon gehabt. Um nur die drei Letzten zu nennen, wie bei Britta, bei Carla, bei Lavinia. Wart noch. Es gehört zu meiner ärztlichen Pflicht, dir zu sagen, was du, um bei den drei Letzten zu bleiben, Britta, Carla und Lavinia geschrieben hast.
Und was du durch deine unergründlichen Spionagetechniken erobert hast.
Wenigstens diese drei letzten Affären muss ich dir ins Gedächtnis rufen, weil allein dadurch eine Art Hoffnung erscheinen kann, die jetzige Affäre als etwas zu erleben, was, wie alles Vorangehende, seine Zeit haben wird, und dann hat es sich gehabt. Auch wenn du jetzt, das ist klar, nicht im Stande bist, das, was dich jetzt beherrscht, als eine auf Aufflammen und Erlöschen angelegte Affäre zu erleben. Für dich ist es, wie es bei Britta, Carla und Lavinia war, um nur die drei Letzten zu nennen, das Absolute, Endgültige: schlechthin Schicksal. An Britta hast du geschrieben: Ich bin nicht mehr der, der ich vor dir war. Ich bin nur noch der, der ich durch dich bin. Und sein werde!
Was für eine Formulierung!
Und an Carla: Du hast mich reich gemacht. Ich bin jetzt ein Fluss, der über die Ufer tritt und Wüsten zum Blühen bringt.
Auch nicht schlecht!
Lavinia: Vor dir war nichts. Nach dir wird nichts sein. Du bist alles, was sein kann.
O ja, o ja. Gerda, bitte, bedenk, das waren Immunschwächen der Seele. Aber jetzt, Gerda, du weißt nicht, wie glücklich du mich machst durch diese Zitate. Und dass du überhaupt so mit mir sprichst.
Das kann ich nur, weil ich dir … gestatte noch einmal das grauenhafte Wort … weil ich dir das Affärenhafte deines jetzigen Zustands ahnbar machen muss.
Allmählich erinnerst du mich an unseren Sprössling.
An den du nicht mehr erinnert sein willst.
Wenn ich gut geschlafen habe, tut mir seine Verachtung nicht weh.
Und wenn du nicht gut geschlafen hast?
Seh ich ihn, wie er hereinstürmt ins Ganymed, einszweiundneunzig groß, und sieht Lavinia, starrt auf eine...
Erscheint lt. Verlag | 30.8.2013 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Abhängigkeit • Anton Tschechow • doppelter Boden • Ehe • Friedenspreis des Deutschen Buchhandels • Georg-Büchner-Preis • Inszenierung • Kammerspiel • Krankenhaus • Leidenschaft • Liebe • Officier de l'Ordre des Art et des Lettres • Orden Pour le Mérite • Regisseur • Spott • Theater • Theaterroman • Verheimlichung • Wahn |
ISBN-10 | 3-644-03081-2 / 3644030812 |
ISBN-13 | 978-3-644-03081-7 / 9783644030817 |
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