Dichtung für alle: Mit Rücken und Gesicht zur Gesellschaft (eBook)

Wiener Ernst-Jandl-Vorlesungen zur Poetik
eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
60 Seiten
Haymon (Verlag)
978-3-7099-7689-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dichtung für alle: Mit Rücken und Gesicht zur Gesellschaft -  Brigitte Kronauer
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Brigitte Kronauer, Alexander Nitzberg und Ferdinand Schmatz sprechen über Dichtung: Im Rahmen der Ernst-Jandl-Dozentur für Poetik gewährten die deutsche Autorin Brigitte Kronauer, der russisch-deutsche Dichter und Übersetzer Alexander Nitzberg und der österreichische Dichter Ferdinand Schmatz Einblicke in Positionen poetischen Schaffens. In diesem Band sind ihre erhellenden Bemerkungen zu Grundlagen und modellhaften Beispielen für zeitgenössisches Dichten versammelt, herausgegeben und mit einem Vorwort von Thomas Eder und Kurt Neumann.

Brigitte Kronauer, geboren 1940 in Essen, lebt in Hamburg. 2005 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Erzählungen und Romane, u.a. Berittener Bogenschütze (1986), Teufelsbrück (2000) und zuletzt Zwei schwarze Jäger (2009).

Brigitte Kronauer, geboren 1940 in Essen, lebt in Hamburg. 2005 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Erzählungen und Romane, u.a. Berittener Bogenschütze (1986), Teufelsbrück (2000) und zuletzt Zwei schwarze Jäger (2009).

Erste Vorlesung


Über Avantgardismus


Vor zwei Monaten, am 2. April 2011, nach einem ungewohnt langen nördlichen Winter, sah ich beim Frühstück kurz von meiner Zeitungslektüre auf und, zunächst ohne zu stutzen, durch das Küchenfenster. Dann vertiefte ich mich wieder in die Hauptnachrichten zum damals akuten Weltzustand, also zu den Bemühungen, die japanische Atomkatastrophe zu begrenzen, zum Waffenstillstandsangebot der libyschen Aufständischen und dessen Ablehnung durch Gaddafi, und, lediglich eine innerdeutsche Affäre, zum Rückzug des Außenministers Westerwelle vom Parteivorsitz der FDP. Erst dann, nach Kenntnisnahme einer Anzeige des Bayerischen Rundfunks zur Übertragung der Oper Anna Bolena aus der Wiener Staatsoper, wurde mir plötzlich bewusst, dass ich eben etwas Außergewöhnliches aufgenommen, allerdings nicht im Geringsten begriffen hatte.

Wie gesagt, diesem Augenblick waren viele stumme, geruchlose, unbewegte Wochen vorausgegangen. Als ich zum zweiten Mal nach draußen zur leicht frostigen, in blendender Helligkeit daliegenden Wiese sah, mit den wegen Unbelaubtheit scharfen Schlagschatten der Obstbäume darauf, kurzum die allererste optische Frühlingssensation konstatierte, die mir mit Verzögerung nun aber doch kurzfristig samt „Ah“ und „Oh“ den Atem verschlug, packte mich umgehend eine mir im Prinzip wohlvertraute Unruhe. Es war der energische, geradezu verbissene Wunsch, zu formulieren, was ich wahrnahm, die Färbung und neuartige Beleuchtung, die komplette, nervös vibrierende Erscheinung in Wörtern festzuhalten und mich gleichzeitig ihres starken Appells zu entledigen.

Es hätte im Prinzip auch die bequeme Möglichkeit bestanden, meine Beobachtung in schon bestehende, von anderen geschriebene Zeilen einmünden zu lassen. Allerdings fiel mir so schnell nur Goethes „Mailied“ ein. Von dessen genialisch drängendem Dreischritt „Es dringen Blüten aus jedem Zweig / Und tausend Stimmen aus dem Gesträuch / Und Freud und Wonne aus jeder Brust“ konnte an diesem spröden Aprilmorgen nicht die Rede sein. Etwas anderes aber hatte mein Gedächtnis gerade nicht zu Hand.

Und war es in Wirklichkeit nicht auch so, dass sich im Hintergrund meines Kopfes, aktualisiert durch die japanischen Vorgänge, bereits eine ganz andere Empfindung einstellte? Es handelte sich um die Erinnerung an ein nach den Wahlen 2005 von den großen Energiekonzernen vorgelegtes Positionspapier zur unbefristeten Erzeugung von Atomstrom, selbstermächtigt unterschrieben vom Vorsitzenden der Gewerkschaft Verdi, was mich, nach über 25-jähriger Mitgliedschaft, zum Austritt aus dem assoziierten deutschen Schriftstellerverband bewogen hatte. Eine Prozedur, die übrigens mit mehr lästiger Korrespondenz verbunden ist, als man vermuten sollte.

Wäre es demnach, um den Eindruck der paar Sekunden oder Minuten des Überwältigtseins korrekt festzuhalten, nicht eine ästhetische Notwendigkeit gewesen, auch die gesellschaftskritische Folie mitzuerwähnen? Oder würde ich damit lediglich jener literarischen Etikette gehorchen, die jede epiphanische Naturwahrnehmung tabuisiert, grundsätzlich für verlogen, unangenehm idyllisch und so weiter hält und stattdessen in automatischem Moral- oder Feinschmeckerreflex längst gefällig gewordene Brechungen als unerlässlichen Zitronenspritzer in der süßen Suppe fordert, damit aber die flüchtige Eigentümlichkeit des Kerngeschmacks bis hin zu dessen Entschwinden konventionalisiert? Gerade auf dem Gebiet der Natur werden Abweichungen von solcher Art Wohlverhalten streng geahndet.

Und da haben Sie nun schon das Dreieck vor sich, in dem die Hersteller von Literatur balancieren:

Position 1: das durchaus ungesicherte Erkennen nicht der ursprünglichen Wirklichkeit, aber des umweglos persönlich treffenden Eindrucks.

Position 2: das verführerische Angebot schon bestehender, bewunderter künstlerischer Lösungen.

Position 3: Einebnung des Wahrgenommenen, in Gestalt unbewusster Selbstzensur, durch die alles verschlingenden Muster, Klischees einer Instanz, die sich gegenüber jedem Einzelnen zur Gesellschaft zusammenrottet.

Niemand halte sich frei von den Anfechtungen unter Punkt 2 und 3. Das wäre auch nicht gut. Sie bilden ja ein, nein das Reibungspotenzial, das die stets zur Verflüchtigung bereite Nr. 1 erst funkeln lässt! Ich komme darauf zurück.

Ich bin keine Gedichteschreiberin, benötige aber in meiner Prosa unbedingt Naturmomente wie den eingangs geschilderten, trotz der Pragmatik einschüchternder Vorhaben wie es die des so genannten Geo-Engineerings sind, die das terrestrische Klima und die Oberfläche der Ozeane zum Wohle der Menschheit verändert wollen. Ich benutze diese Naturaugenblicke, wie ich hoffe, mit kritischer Unerschrockenheit und gedenke das getrost weiterhin zu tun.

Also notierte ich, mich auf nachträgliche Evokationsfähigkeiten verlassend, im vorliegenden Fall: ‚Aprilmorgenfrost, scharfes Schlagschattennetz, Grün gebremst anschwellend‘. Wahrscheinlich wird das zu nichts führen, allenfalls zu einem inständigen Partikelchen in ganz anderem Zusammenhang. Es hat jedoch für mich zumindest eine temporäre verbale Entlastung bewirkt.

Merkwörter wie die eben genannten sind natürlich erprobte Stenogramme, das heißt in der Regel etwas anderes als unser fast säuglingshaftes und wohl besser geheim gehaltenes Lallen des ersten Eindrucks, wie es ein Wickelkind, im Wunsch nach Expression und nur dem Baby selbst und der Mutter verständlich, hervorstößt, bevor manierliche, ausgeleierte Adjektive daraus werden. Sie, die Notizen, dienen indessen der Rekonstruktion der Initialzündung, die eventuell eine irgendwann auf den Leser überspringende werden soll.

Worauf will ich hinaus?

Zunächst auf den alten Adalbert Stifter, erst etwas später auch auf den alten Avantgardisten Ernst Jandl.

„… und wenn sich dann die Großmutter in die Begeisterung geredet … und wenn sie nun anfing, … zärtlich und schwärmerisch zu reden, mit einem Wesen, das er nicht sah, und in Worten, die er nicht verstand, aber tiefergriffen instinktmäßig nachfühlte … und nun alles durcheinander reden ließ: da grauete er sich innerlich entsetzlich ab, und um so mehr, wenn er sie gar nicht mehr verstand – allein er schloß alle Thore seiner Seele weit auf, und ließ den fantastischen Zug eingehen, und nahm des andern Tags das ganze Getümmel mit auf die Haide, wo er alles wieder nachspielte.“

So Stifter über einen kleinen Hirtenjungen in einfältig dörflicher Welt, der schließlich, ganz am Ende der Erzählung „Das Haidedorf“ von 1840, zum großen Dichter geworden ist. Maßgeblich, so heißt es, durch eben diese ewig allein in sich gekehrte Großmutter und ihre Schöpfungen, in denen sie glühend und verwegen Propheten, Helden, Wunder und Verstorbene bruchstückhaft mischt und ihm auf diese Weise den Boden seines gewöhnlichen Lebens unter den Füßen wegzieht.

Was ist damit gesagt? In der ein Vierteljahrhundert später geschriebenen Geschichte „Der Waldbrunnen“ wird es durch Parallelität unabweisbar: Hier ist es ein bei Stifter nicht zum ersten Mal auftauchendes ‚wildes Mädchen‘, das einen ebenfalls kleinen, allerdings sehr wohlerzogenen Stadtjungen auf zutiefst verwirrende Weise fasziniert und aus seinen bisher üblichen Gedankengeleisen entführt. Es tut das vor allem durch seine Angewohnheit, im Wald auf einem hohen Stein zu stehen und, die Arme abwechselnd reckend, der Welt folgende Predigten zu halten: „Schöne Frau, alte Frau, … weißes Haar, Augenpaar, Sonnenschein, Hütte dein, Märchenfrau, Flachs so grau, Worte dein, Herz hinein, Mädchen, Mädchen, Mädchen, bleib bei ihr, … nähre sie, schlafe da, immer nah, alle fort, himmelhoch, Sonne noch, Jana, Jana, Jana!“ Einige Zeit darauf ahmt der immer stärker hingerissene Junge, wenn er sich unbemerkt fühlt, in der Waldeinsamkeit ihre Anrufungen gestisch und verbal nach. Zwischen den beiden entsteht eine heftige erotische Anziehung, und Jana, das so attraktiv wilde Mädchen, wird eines Tages nicht allein die Frau des Jungen, sondern Verfasserin mirakulösester Gedichte sein.

Was fällt nun sofort als Gemeinsamkeit ins Auge?

In beiden Fällen ist ein gewisses Stammeln, ein fragmentarisches Erzählen, ein verstörendes und bezauberndes Negieren der erwarteten Zusammenhänge durch Einsame in einer normalen, die erwachende Begabung dieser Außenseiter verkennenden Umgebung unübersehbar. Beide Male führt es geradezu zwangsläufig zum wirklichen, also in keiner Weise epigonalen Künstlertum.

Die Entwicklung muss selbstverständlich nicht immer so radikal verlaufen. Was für den Dichter, das sei hier vorweg bereits unterstellt, unerlässlich ist, nämlich der segensreiche Kollaps des üblichen Verständigungsnetzes, kann auch, etwa per Kunstwerk in der...

Erscheint lt. Verlag 24.7.2013
Verlagsort Innsbruck
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Brigitte • Brigitte Kronauer • Gedichte • Jandl, Ernst • Kronauer • Kronauer, Brigitte • Literaturtheorie • Literaturwissenschaft • Lyrik • Poesie • Poetik • Rhetorik • Zeitgenössische Dichtung
ISBN-10 3-7099-7689-8 / 3709976898
ISBN-13 978-3-7099-7689-0 / 9783709976890
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