Dichtung für alle: Mnemosyne und Mnemotechnik. Eine Wiener Poetik (eBook)

Wiener Ernst-Jandl-Vorlesungen zur Poetik
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2013 | 1. Auflage
60 Seiten
Haymon (Verlag)
978-3-7099-7688-3 (ISBN)

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Dichtung für alle: Mnemosyne und Mnemotechnik. Eine Wiener Poetik -  Alexander Nitzberg
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Brigitte Kronauer, Alexander Nitzberg und Ferdinand Schmatz sprechen über Dichtung: Im Rahmen der Ernst-Jandl-Dozentur für Poetik gewährten die deutsche Autorin Brigitte Kronauer, der russisch-deutsche Dichter und Übersetzer Alexander Nitzberg und der österreichische Dichter Ferdinand Schmatz Einblicke in Positionen poetischen Schaffens. In diesem Band sind ihre erhellenden Bemerkungen zu Grundlagen und modellhaften Beispielen für zeitgenössisches Dichten versammelt, herausgegeben und mit einem Vorwort von Thomas Eder und Kurt Neumann.

Alexander Nitzberg, geboren 1969 in Moskau, lebt in Wien. Dichter, Publizist, Librettist, Rezitator, Übersetzer. Zuletzt erschien seine Neuübersetzung des Romans Meister und Margarita von Michail Bulgakow (2012).

Alexander Nitzberg, geboren 1969 in Moskau, lebt in Wien. Dichter, Publizist, Librettist, Rezitator, Übersetzer. Zuletzt erschien seine Neuübersetzung des Romans Meister und Margarita von Michail Bulgakow (2012).

Erste Vorlesung


Mnemosyne


Wohl nur noch spaßeshalber werden Dichter als „Musensöhne“ bezeichnet. Die Muse ist längst museal geworden: Ein Marmorbild mit zerbrochenen Armen aus einem entgötterten Pantheon. „Seine Muse“ meint heute höchstens: „Geliebte“, und selbst das mit ironischem Unterton. „Ein Gedicht ist an die Muse gerichtet [...], um die Tatsache zu verschleiern, daß Gedichte an niemanden gerichtet sind“, zitiert Gottfried Benn in „Problemen der Lyrik“ den Amerikaner Richard Wilbur. Somit wird die Muse – einstmals Göttin – zu einer Leerstelle, zu einem Hohlraum, zu einer nihilistischen Maske.

Diese Vorstellung ist heute ganz selbstverständlich, und niemand käme darauf zu behaupten, er glaube an so etwas wie die Realexistenz der Muse, es sei denn aus purer Koketterie. Und doch will ich gleich am Beginn meines Vortrags mich zu einem solchen Glauben bekennen: Ja, ich glaube ganz fest daran, daß die Muse real existiert! Und mehr noch: Ich glaube, daß von ihr allein auch die Existenz der gesamten Dichtung abhängt.

Bitte halten Sie es nicht für bizarre Launen oder reine Extravaganz. Denn innerhalb der russischen Lyrik – die auch meine poetischen Wurzeln nährte – wirkt der Satz sehr viel weniger provokant. Wer Gedichte von Alexander Puschkin liest, wird schon sehr bald das Gefühl nicht los, hier sei mit „Muse“ doch mehr gemeint als nur eine literarische Floskel. Auch im Briefwechsel seines Freundeskreises klingt dieses Wort durchaus ernst gemeint, auch wenn es nicht weiter kommentiert wird, so als wüßten die Adressaten Bescheid ... Ja, selbst noch im 20. Jahrhundert, beispielsweise bei Anna Achmatowa, erscheint der Begriff mit soviel innerer Spannung geladen, daß durchwegs der Eindruck von größter Wahrhaftigkeit und persönlichem Durchleiden entsteht.

(Vergessen wir in dem Zusammenhang nicht, daß auch die russische Philosophie ähnliche Phänomene kennt: So behauptet Wladimir Solowjow – ein Titan des russischen Geisteslebens –, er sei der Sophia, dem Prinzip metaphysischer Erkenntnis, eines Tages leibhaftig begegnet ...)

In der Muse und dem Glauben an sie verbirgt sich für mich der Zugang zur Kunst – zu ihrem Kern, zu ihrem Geheimnis. Denn es gibt ein Geheimnis der Kunst, ganz gleich, wie sehr dies von mancher Seite auch bestritten werden mag. Und Stéphane Mallarmé fragt sich zu Recht, „warum einer einzigen unter den Künsten [...] dieser notwendige Geheimnischarakter verweigert wird. Der Poesie“. Nicht jeder Künstler kann es benennen, doch jeder fühlt es intuitiv. Auch kennen wir viele Bezeichnungen dafür, je nachdem, welche Terminologie zum Beschreiben der eigenen Arbeit verwendet wird. Jahrhundertelang hieß es „die Muse“, weshalb auch ich es so nennen will.

Nun, wenn die Muse real existiert, wie haben wir sie uns vorzustellen? Eine schöne Frau, die Rohrflöte spielt? – Ein Bild, das – weil positiv – sicherlich besser ist als jenes Nichts, von dem Benn und Wilbur reden. Doch wären auch andere Definitionen denkbar: So vergleicht Plato in seinem „Ion“ die Muse mit einem starken Magneten – den Dichter mit einem Eisenring. Die Kraft der Muse packt den Poeten, während er dichtet. Soweit scheint das Gleichnis noch einigermaßen gewöhnlich zu sein, doch Plato entfaltet es folgerichtig: Ist es nicht so, daß Eisenringe, solange sie nur am Magneten haften, in der Lage sind, selbst magnetisch zu wirken? Das heißt: Wenn hinter dem Dichter und dem Gedicht die Muse steht, ziehen sie weitere Elemente an sich – zum Beispiel den Rezitator. Wenn dieser das Gedicht „ergriffen“ vorträgt (was in dem Fall keineswegs „sentimental“ meint, sondern vielmehr „an der Muse orientiert“), wird der Hörer ebenfalls gefesselt.

Hieraus ergibt sich eine Struktur, nämlich: Anfang, Mitte und Ende. Der Anfang ist die Muse. Das Ende ist der Mensch. Die Mitte bilden verschiedene Schichten: der Dichter, das verfaßte Gedicht, vielleicht das Buch, worin es fixiert ist, der Rezitator und dessen Stimme und schließlich sogar die Sinne des Menschen, welcher das Gedicht in sich aufnimmt – das Auge beim Lesen, das Ohr beim Hören. Sie alle dienen als Intermediär – mit dem Zweck, den Menschen an die Muse zu binden. Gemäß dieser Aufgabe ließe sich nun auch deren Qualität überprüfen und beurteilen: Fehlt es dem Dichter zum Beispiel an Kunst, wird er nicht fähig sein, die Impulse zu verarbeiten, ohne sie bereits stark zu dämpfen. Ist der Rezitator etwa mit anderen Dingen mehr beschäftigt als mit den Versen, die er gerade deklamiert, gelingt es ihm nicht, jener hinter ihnen schwingenden Kraft den nötigen Raum zu geben. Ist der Mensch – in der letzten Phase – schwerhörig oder gar taub, wird er auch das vollendetste Gedicht, vom besten Sprecher vorgetragen, nur rudimentär erfassen können.

Im gesamten Prozeß erweist sich die Muse als die alles bestimmende Instanz, denn sie ist der Ursprung des Magnetismus, der all diese Teile zusammenhält. Man stelle sich vor, ein Ring in der Kette wäre nicht aus Eisen, sondern aus Holz. – Schon würde der Strom unterbrochen sein, und die nachfolgenden Elemente brächen auseinander. Hier sehen wir schon ein erstes Merkmal der Muse: die innere Kohärenz des Kunstwerks.

Die genannte Wirkung ist vielfach bezeugt, und zwar gerade in der Moderne. Mit folgenden Worten beschreibt zum Beispiel Wladimir Majakowski den inneren Sog, aus welchem seine Verse entstehen: „Man kann ihn nicht erklären, man kann von ihm nur so sprechen, wie man von [...] elektrischem Strom spricht.“ Er, der für Dichtung in der Regel nur industrielle Metaphern gebraucht, benennt sie seiner Sprache gemäß. Wie anders redet vom lyrischen Vorgang Gottfried Benn. Was die Alten die Muse heißen, bezeichnet er als „einen dumpfen schöpferischen Keim“. Das Intermediär sind für ihn „Worte, die in seiner [des Dichters] Hand liegen, zu seiner Verfügung stehen, mit denen er umgehen kann, die er bewegen kann ...“. Und den durch die Schichten pulsierenden Strom vergleicht er mit einem „Ariadnefaden, der ihn“, wie er sagt, „aus dieser bipolaren Spannung herausführt, mit absoluter Sicherheit herausführt, denn – und nun kommt das Rätselhafte: das Gedicht ist schon fertig, ehe es begonnen hat, er weiß nur seinen Text noch nicht“. Diese zwei so unterschiedlichen Dichter sind gezwungen, auf eigene Gleichnisse und Mythen zurückzugreifen, um von ihrem Geheimnis zu sprechen.

Und selbst bei Ernst Jandl, der in seinen theoretischen Texten allenthalben eine rein technische Terminologie benutzt und dadurch, daß er immer und alles gleich zu erläutern bereit ist, den Eindruck erweckt, es gebe am Dichterischen nichts Transzendentes – nur Material und dessen Verarbeitung –, finde ich folgende Sätze. Auf Englisch. So als könnte er es nicht übers Herz bringen, sie seinem geliebten Deutsch anzuvertrauen: „Poetry, like art and music, has its own secret. This secret is part of the secret that we all share. The secret of poetry is part of the secret of human existence, which itself is embedded in the secret of the universe“. Und etwas später das Zugeständnis: „But there is something else, something that makes people continue, year after year, all through their lives, and generation after generation, all through human history, something that is perhaps more than an answer, a source of strength, that gives them the will to continue, something that may perhaps be called faith“.

Es ist bedeutsam, noch eine Besonderheit der soeben betrachteten Struktur (nämlich: Muse – Vermittlung – Rezipient) festzustellen: Der geschilderte Verlauf mit seinen Stufen ist nicht linear, sondern zyklisch zu sehen: Das Ende fließt in den Anfang ein. Denn wenn der Zweck aller Zwischenstationen die Anknüpfung des Menschen an den Ausgangspunkt ist, dann schließt sich, wenn die Verbindung gelingt, der Kreis! Ich will darauf später zurückkommen und mich fragen, was das für Folgen hat. Zuvor aber gilt es, die Muse näher zu umreißen. Der bloße Vergleich mit einer magnetischen Kraft reicht dazu nicht aus, zeigt nur die Funktionsweise. Was fehlt, ist ihr eigentlicher Gehalt.

Was nun ist dieser Magnetismus seinem Wesen nach? Eine „blinde“ Naturgewalt, frei von jeglicher Sinngebung? – Wenn ich es schon wagte, sie mit dem traditionellen mythischen Namen „Muse“ zu bezeichnen, will ich auch ihre überlieferte Genealogie nicht außer Acht lassen: Musen sind Kinder der Mnemosyne, der Göttin der Erinnerung. Mnemosyne selbst ist eine Tochter von Uranos und Gaia, von Himmel und Erde. Es ist also das Prinzip der Erinnerung, das in sich den gesuchten Schlüssel birgt. Doch wieder stehen wir vor einem Rätsel: Erinnerung welcher Art? – Sind doch, wenn heute von „Erinnerung“...

Erscheint lt. Verlag 24.7.2013
Verlagsort Innsbruck
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Brigitte • Brigitte Kronauer • Gedichte • Jandl, Ernst • Kronauer • Kronauer, Brigitte • Literaturtheorie • Literaturwissenschaft • Lyrik • Poesie • Poetik • Rhetorik • Zeitgenössische Dichtung
ISBN-10 3-7099-7688-X / 370997688X
ISBN-13 978-3-7099-7688-3 / 9783709976883
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