Jahrestage 2 (eBook)
473 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73071-3 (ISBN)
<p>Uwe Johnson wurde am 20. Juli 1934 in Kammin (Pommern), dem heutigen Kamien Pomorski, geboren und starb am 22. oder 23. Februar 1984 in Sheerness-on-Sea. 1945 floh er mit seiner Mutter und seiner Schwester zunächst nach Recknitz, dann nach Güstrow in Mecklenburg. Sein Vater wurde von der Roten Armee interniert und 1948 für tot erklärt. 1953 schrieb er sich an der Universität Leipzig als Germanistikstudent ein und legte sein Diplom über Ernst Barlachs <em>Der gestohlene Mond</em> ab. Bereits während des Studiums begann er mit der Niederschrift des Romans<em> Ingrid Babendererde</em><em>. Reifeprüfung 1953</em>. Er bot ihn 1956 verschiedenen Verlagen der DDR an, die eine Publikation ablehnten. 1957 lehnte auch Peter Suhrkamp die Veröffentlichung ab. Der Roman wurde erst nach dem Tode von Uwe Johnson veröffentlicht. Der erste veröffentlichte Roman von Uwe Johnson ist <em>Mutmassungen über Jakob</em>. Von 1966 - 1968 lebte Uwe Johnson in New York. Das erste Jahr dort arbeitete er als Schulbuch-Lektor, das zweite wurde durch ein Stipendium finanziert. Am 29. Januar 1968 schrieb er in New York die ersten Zeilen der <em>Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl</em> nieder. Deren erste ?Lieferung? erschien 1970. Die Teile zwei und drei schlossen sich 1971 und 1973 an. 1974 zog Uwe Johnson nach Sheerness-on Sea in der englischen Grafschaft Kent an der Themsemündung. Dort begann er unter einer Schreibblockade zu leiden, weshalb der letzte Teil der <em>Jahrestage </em>erst 1983 erscheinen konnte. 1979 war Uwe Johnson Gastdozent für Poetik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt. Ein Jahr später erschienen seine Vorlesungen unter dem Titel <em>Begleitumstände</em>. Sein Nachlass befindet sich im Uwe Johnson-Archiv an der Universität Rostock.</p>
20. Dezember, 1967 Mittwoch
Das Wasser ist tief unter der Straße versteckt, wo sie über einen Felsbuckel muß, chlorgrünes, laues, pralles Wasser in einem Fliesenkasten unter dem Hotel Marseille an der West End Avenue, Manhattan, Obere Westseite, New York, New York. Das Wasser ist laut, platzt und reißt unter den Sprüngen der Schwimmer, schwappt gegen die Wände, klackt in den Überläufen, wirft das Prasseln des eingeengten Echos wild hin und her. Auf die Zehenspitzen. Die Arme vor. Die Knöchel hoch. Den Kopf zwischen die Arme. Die Fußsohlen flach beieinander halten. Jetzt schlägt das Wasser gegen die Schädeldecke. Die rasche Fahrt unter dem Wasser, den Händen hinterher, geht durch halbblindes Zwielicht.
Die Kinder im flachen Teil des Beckens begrüßen schon den Kopf, der zwischen ihnen auftaucht. - Beautiful header, Gesine: sagen sie. Sie sagen aber: Dschi-sain, und womöglich meinen sie, daß sie einen Kopfsprung so nicht gelernt haben. A curious header, Mrs. Cresspahl.
Die Kinder von der West End Avenue, dem Riverside Drive halten den Mediterranean Swimming Club besetzt in dieser Zeit zwischen Ende der Arbeit und letzter Mahlzeit. Sie dulden unter sich die tapfer rudernden Greisinnen in ihren Blumenkappen, sie halten die jugendlichen Athleten im Auge, die mit Gewaltmärschen unter Wasser dem Verfall ihrer Körper vorbeugen wollen, und es ist leiser in der Ecke, in der eine einsame Ehefrau stillsteht, gewissenhaft und geniert mit einem Kriechling auf der Hüfte. Aber die Sprungbahn räumen die Kinder eher für ihresgleichen, die Erwachsenen lassen sie warten oben auf dem Brett, und Jungen wie David Williams machen sich einen Spaß daraus, unverhofft unter den verbissen strampelnden Muskelmännern hindurchzutauchen.
Sie haben den Kopfsprung anders gelernt. Der Ruck, den die vorschnellenden Arme durch den ganzen Körper bis in die Knöchel ziehen, er ist nicht zu sehen. Sieh dir diese Marie Cresspahl an, seit sechs Jahren erst im Lande, sie gleitet in einer einzigen unabgesetzten Bewegung vom Beckenrand ins Wasser, wie ein Fisch auf der Rückreise ins geheurere Element. Es ist, als ließe sie sich fallen; so ohne sichtbaren Abstoß springt sie. Marie übt mit ihren Freundinnen das Tauchen, mit Pamela Blumenroth, mit Rebecca Ferwalter; sie werfen aber nicht Geldstücke auf den Grund des Beckens, sondern die Schrankschlüssel, deren stumpfe Farbe sie tarnt. Ohne Schlüssel kämen sie aus dem Bad nicht mehr hinaus, in ihrem schadenfrohen Geschrei sitzt auch Ängstlichkeit, und wenn Marie aus dem Tiefen aufsteigt, die Hand mit dem geretteten Schlüssel steil voran, ist doch Erleichterung zu merken in ihrem kleinen, nassen, von Freude straffen Gesicht. Nachher, wenn sie sich die stramme Kappe vom Kopf zieht, wird sie inmitten ihrer langen winterblonden Haare älter aussehen als ihre zehneinhalb Jahre. Im weißen Rahmen der Kappe ist der unausgewachsene Bogen ihrer Augenhöhlen unter der gedrungenen Stirn ausgestellt wie allen Schutzes entblößt.
Oberhalb des lärmenden Wassers, in halber Höhe des blaukachligen Raums, läuft um zwei Wände ein Balkon, die Rückseite der Bar Marseille, wo die paarsitzigen Tischchen aufgestellt sind. So alt ist das Hotel. Den Kunden von 1895 genügte es noch, von oben, von ferne hinabzusehen auf die Badenden, die knapp Bekleideten; in einem Bau von heute würden die Trinker die Hocker an den Rand des Beckens wünschen, oder daneben, hinter eine durchsichtige Panoramawand. Dennoch kommt Mr. McIntyre dort oben kaum je zum Stillstand vor seinen neunundneunzig Flaschen Feuerwassers; in diesem Viertel wohnen genug Leute, die sich gern verabreden inmitten der rothölzernen Wände, die jeden Tag ein bißchen wohnen auf dem blankgesessenen Leder und den massigen Wulst der altersglänzenden Mahagonitheke mit ihren Ellenbogen putzen. Dort oben hat vor sechs Jahren eine Gesine Cresspahl zu lange gesessen und an irischen Redensarten einen falschen Eingang in das hiesige Leben gesucht, oft in der Nachbarschaft von Mr. Blumenroth, der damals nicht aussah wie ein Vater von Pamela. Immer noch haben die Juden die Obere Westseite nicht ganz aufgegeben, Juden sind hier erwünscht; aber in sechs Jahren noch nie hat sich an der zierlich durchbrochenen Brüstung der Kopf eines dunkelhäutigen Bürgers gezeigt, und wie es oben nicht die Preise Mr. McIntyres sind, die Neger von einem Besuch des Marseille abhalten, so machen es unten nicht allein die sechzig Dollar Jahresgebühr, daß die Weißen im Wasser unter sich bleiben.
An diesem Abend sind es zwei Gäste des Hotels, die am südlichen Rand des Beckens hin und her ziehen, stur in immer der selben Bahn, zwei junge Fremde, die in einer fast beleidigten Art stoppen vor den alten Damen, die lieber die kürzere Querstrecke schwimmen, und sie schlucken Wasser und Wut auf die Kinder, die dicht vor ihrer Nase sich ins Tiefe versenken. Vielleicht sind es Deutsche, technische Lehrlinge auf Ausbildung in der new yorker Stammfirma, denn sie sprechen deutsch, obwohl nicht nur Gesine Cresspahl sondern auch die jüdischen Schwimmer ihre etwas ratlosen Bemerkungen und Zurufe zur Not verstehen. Sie ahnen nicht, wo sie sind; sie sprechen unbefangen, laut. Es ist ihnen nicht sauber genug hier. Zu Hause haben sie eine neugebaute Schwimmhalle. Ihnen sehen viele Badegäste aus, als müßten sie in europäischen Ländern nicht auffallen. Und endlich kommt Marie an, in glatten weichen Stößen unter Wasser, und berichtet siegesgewiß: Sie reden über dich! Du hättest die richtige Größe! Dein Busen säße zu tief! Du hättest vielleicht noch kein Kind geboren, aber auf die Nasenspitze müßte dich Keiner noch drücken! Dein Haar, deine Wangenknochen, danach solltest du aus Polen stammen! From a Slavian country! sagt sie. Denn das Deutsche sprechen Cresspahls nur noch unter sich, darauf besteht diese Marie, der die grau und grünen Augen ganz fürsorglich geworden sind von dem Glauben, sie habe ihrer Mutter ein Lob angebracht, etwas Verträgliches.
Und wenn ihr Kinder in die Welt setzt, nich mit dein’n Knochn, Cresspahl! Neemtlich, wenn das ein’ Diern wird, soll sie die Beine von Lisbeth haben!
Das Becken des Mediterranean Swimming Club, zwanzig Meter lang, achtbahnig, ist vielleicht geräumiger als das der »Mili« in Jerichow, in dem Gesine Cresspahl schwimmen gelernt hat, das Kind das ich war. Erinnerung baut an: sagen die, die noch einmal zurückgegangen sind. Dahin zurück darf ich nicht. Das ist weit von hier. Das ist mehr als 4500 Meilen entfernt, und mehr, noch nach acht Stunden Flug muß man dahin gehen, bis man in die Nacht gerät, und kommt nicht an. Das ist mehr als 6000 Kilometer. Das ist wendische Gegend, Mecklenburg, an einer anderen Küste. Dort habe ich gelebt, für zwanzig Jahre. Denn sittst vilicht, verraden un verköfft, in son’n amerikanschen Wald …
An der »Mili« von Jerichow Nord stellte mein Vater vor dreißig Jahren Regenschuppen auf, Heinrich Cresspahl, Jahrgang 1888, von den deutschen Kriegen weggegangen in die Niederlande, nach England, und doch mit meiner Mutter zurückgekehrt nach Mecklenburg, damit ich in Deutschland zur Welt käme, wenige Jahre vor dem nächsten Krieg. So elend war meine Mutter damals schon, Lisbeth, geborene Papenbrock. Der Flugplatz auf der hohen Ostseeküste bei Jerichow, den mein Vater mit Holzarbeiten bauen half, war für einen modernen Krieg, und so wurde ein mickriger Grabenfluß auf seinem Weg zum Meer angehalten und umgeleitet und mußte das Wasser der Militärbadeanstalt erneuern. Den Namen »Mili« bekam die Anlage von der Schuljugend, erst nach dem Krieg, als die sowjetische Besatzungsmacht den Komplex Jerichow Nord sprengte und schleifen ließ und das Schwimmbecken vergaß. 1953 waren Cresspahls Regenschuppen längst durch Jerichows Öfen gegangen, nur in verrotteten Stümpfen übriggeblieben. Es war Februar, das Becken abgelassen, von Schneetreiben säuberlich weiß ausgelegt am Boden. Jakob kam mir ohne Zögern nach unten nachgeklettert. Wir sind in dem Becken auf und ab gegangen, bis alle Bahnen ausgefüllt waren mit den Spuren unserer Füße. Von Jakobs Gesicht an diesem Tage bekomme ich kein Bild; ich müßte es denn erfinden. Wir waren unsichtbar, geschützt von den Wänden des Erdlochs, versteckt unter dem wirbelnden Himmel, in der sausenden Stille. Und er konnte mir nur für sich sagen, wie das Leben ist in der Fremde, nicht für mich.
Die Regierung hat der Luftwaffe in Viet Nam nun die Sperrzone an der chinesischen Grenze zum Durchfliegen freigegeben. Vierzehn amerikanische Wissenschaftler versprechen der Nation, ein den Kommunisten überlassener Sieg werde nur zu größeren, aufwendigeren Kriegen führen und nicht zu dauerndem Frieden.
Das ist Mrs. Cresspahl, die vorn auf dem federnden Brett wartet, bis die Sprungbahn frei wird. Wohnt hier um die Ecke, Riverside Drive und 96. Straße. Vierunddreißig Jahre alt. Die hält ihren Hals steif, die zieht einen Bauch ein. Nicht mehr lange, und sie wird ihre Schuhe nicht nach der Eleganz kaufen, eher nach der Gesundheit. Wenn sie sich zum Sprung versammelt, werden ihr die Augen schmal, die Lippen hart. Der harte Schlag des Wassers gegen den Kopf läßt für einen Augenblick Betäubung zu, Blindheit, Abwesenheit; nicht lange.
– Quite a header, Dschi-sain!
21. Dezember, 1967 Donnerstag
Im Senatsausschuß für Auswärtige Beziehungen zweifeln einige Mitglieder, ob Regierung und Generalstab 1964 die Wahrheit sagten mit der Behauptung, am 4. August seien die Zerstörer Maddox und Turner Joy von Schiffen aus Nord-Viet Nam angegriffen worden. Nach Mr. John W. White aus Cheshire, Connecticut, der damals ganz in der Nähe am Unterwasserorter des Tenders Pine Island saß und die Funksprüche der Zerstörer abhörte, waren die unsicher, ob sie nun beschossen wurden...
Erscheint lt. Verlag | 15.7.2013 |
---|---|
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1968 • 20. Jahrhundert • Chronik • cresspahl • DDR • Deutschland • Familie • Geschichte • Gesellschaft • Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln 1983 • Jahrestage • Nationalsozialismus • New York • Ostdeutschland DDR • Panorama • Roman • Sowjetische Besatzungszone • ST 4452 • ST4452 • Studentenproteste • suhrkamp taschenbuch 4452 • Thomas-Mann-Preis der Hansestadt Lübeck 1978 • Uwe Johnson • Vietnamkrieg • Weimarer Republik • Wilhelm-Raabe-Preis der Stadt Braunschweig 1975 |
ISBN-10 | 3-518-73071-1 / 3518730711 |
ISBN-13 | 978-3-518-73071-3 / 9783518730713 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 3,0 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich