Die Schopenhauer-Kur (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2013
640 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-11978-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Schopenhauer-Kur - Irvin D. Yalom
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Vom Autor des Bestsellers 'Die rote Couch'.
Julius Hertzfeldt ist 65 und ein renommierter Psychoanalytiker, als er ernsthaft erkrankt. Zeit, sich wichtigen Fragen zu stellen. War sein Wirken wirklich bedeutungsvoll? Er erinnert sich an einen Fall, bei dem er kläglich versagt hat: An Philip Slate, den er einst wegen dessen Sexsucht in Behandlung hatte. Dieser ist immer noch so arrogant und ichbezogen wie früher, dennoch behauptet er, sich mittlerweile selbst geheilt zu haben - und zwar mit Hilfe der Lektüre von Arthur Schopenhauer ...

Irvin D. Yalom wurde 1931 als Sohn russischer Einwanderer in Washington, D.C. geboren. Er gilt als einer der einflussreichsten Psychoanalytiker in den USA und ist vielfach ausgezeichnet. Seine Fachbücher gelten als Klassiker. Seine Romane wurden international zu Bestsellern und zeigen, dass die Psychoanalyse Stoff für die schönsten und aufregendsten Geschichten bietet, wenn man sie nur zu erzählen weiß.

»Jeder Atemzug wehrt den beständig eindringenden Tod ab . . . Ref 1

Zuletzt muß er siegen: denn ihm sind wir schon von Geburt anheimgefallen, und er spielt nur eine Weile mit seiner Beute, bevor er sie verschlingt. Wir setzen indessen unser Leben mit großem Anteil und vieler Sorgfalt fort, so lange als möglich, wie man eine Seifenblase so lange und groß als möglich aufbläst, wiewohl mit der festen Gewissheit, daß sie platzen wird.«

1


Julius kannte die Betrachtungen über Leben und Tod so gut wie jeder andere. Er stimmte mit den Stoikern überein, die da sagten: »Sobald wir geboren werden, fangen wir an zu sterben«, und mit Epikur, der zu dem Schluss kam: »Wo ich bin, ist der Tod nicht, und wo der Tod ist, bin ich nicht. Warum also den Tod fürchten?« Als Arzt und Psychiater hatte er Sterbenden genau diese Trostworte ins Ohr geflüstert.

Obgleich er solch düstere Erwägungen im Falle seiner Patienten für sinnvoll hielt, hatte er nie angenommen, dass sie etwas mit ihm zu tun haben könnten. Das heißt, bis zu jenem schrecklichen Moment vor vier Wochen, an dem sich sein Leben für immer verändert hatte.

Es kam zu diesem Moment im Verlauf einer alljährlichen Routineuntersuchung beim Arzt. Sein Internist – ein alter Freund und Kommilitone aus Studientagen – hatte die Untersuchung gerade beendet und Julius wie immer aufgefordert, sich anzukleiden und zum abschließenden Gespräch in sein Büro zu kommen.

Herb saß an seinem Schreibtisch und blätterte Julius’ Krankenakte durch. »Insgesamt siehst du für einen hässlichen Fünfundsechzigjährigen recht gut aus. Die Prostata ist ein bisschen geschwollen, aber das ist meine auch. Blutwerte, Cholesterin und Fettstoffwechsel sind in Ordnung – dafür sorgen die Medikamente und deine Diät. Hier hast du das Rezept für dein Lipitor, das deinen Cholesterinspiegel im Zusammenspiel mit dem Joggen ausreichend senkt. Du kannst dir also ruhig mal was gönnen: Iss ab und zu ein Ei. Ich verdrücke jeden Sonntag zwei zum Frühstück. Und hier ist das Rezept für dein Synthroid. Ich habe die Dosis ein wenig erhöht. Deine Schilddrüse stellt langsam den Betrieb ein – die gesunden Zellen sterben ab und werden durch fibröses Gewebe ersetzt. Absolut gutartig, wie du weißt. Passiert uns allen; ich nehme selbst Schilddrüsenhormone.

Ja, Julius, keiner unserer Körperteile entgeht dem Schicksal des Alterns. Neben deiner Schilddrüse baut die Knorpelmasse in deinen Knien ab, deine Haarbälge gehen ein, und deine oberen Lendenwirbel sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Außerdem verschlechtert sich offenbar der Zustand deiner Haut: deine Epithelzellen verschleißen eben einfach – schau dir die Altersflecken auf deinen Wangen an, diese flachen braunen Erhebungen.« Er hielt einen kleinen Spiegel hoch, damit Julius sich inspizieren konnte. »Das sind bestimmt ein Dutzend mehr als bei der letzten Untersuchung. Wie viel Zeit verbringst du in der Sonne? Trägst du einen breitkrempigen Hut, wie ich es dir empfohlen habe? Ich möchte, dass du deswegen einen Dermatologen aufsuchst. Bob King ist gut. Er hat seine Praxis gleich im Gebäude nebenan. Kennst du ihn?«

Julius nickte.

»Die unansehnlichen kann er mit einem Tropfen flüssigen Stickstoffs abbrennen. Bei mir hat er letzten Monat etliche entfernt. Keine große Sache – dauert fünf, zehn Minuten. Eine Menge Internisten machen das inzwischen selbst. Außerdem sitzt da einer auf deinem Rücken, den er sich mal anschauen soll. Du kannst ihn nicht sehen; er ist direkt unter dem lateralen Teil deines rechten Schulterblatts. Er sieht anders aus als die anderen – ungleichmäßig pigmentiert und nicht scharf begrenzt. Wahrscheinlich nichts, aber wir sollten ihn checken lassen. Okay, Alter?«

»Wahrscheinlich nichts, aber wir sollten ihn checken lassen.« Julius hörte die Anspannung und gezwungene Beiläufigkeit in Herbs Stimme. Doch er ließ sich nicht täuschen; die Worte »ungleichmäßig pigmentiert und nicht scharf begrenzt«, gesprochen von einem Arzt zum anderen, gaben Grund zur Besorgnis. Sie waren der Code für ein potenzielles Melanom, und jetzt, im Rückblick, identifizierte Julius diese Worte, diesen einmaligen Moment, als den Zeitpunkt, an dem sein sorgenfreies Leben endete und der Tod sich in seiner ganzen grässlichen Wirklichkeit materialisierte. Der Tod war gekommen, um zu bleiben, er wich ihm nicht mehr von der Seite, und all die Schrecken, die folgten, waren vorhersehbare Nachwehen.

Bob King war vor Jahren Julius’ Patient gewesen, wie eine beträchtliche Anzahl von Ärzten in San Francisco. Julius herrschte seit dreißig Jahren über die psychiatrische Gemeinde der Stadt. In seiner Position als Professor für Psychiatrie an der University of California hatte er massenweise Studenten ausgebildet und war vor fünf Jahren Präsident der American Psychiatric Association geworden.

Sein Ruf? Ein Arzt für Ärzte, ohne Wenn und Aber. Ein Retter in letzter Minute, ein gerissener Hexenmeister, der willens war, alles zu tun, um seinen Patienten zu helfen. Das war auch der Grund gewesen, weswegen Bob King Julius vor zehn Jahren aufgesucht hatte, um seine seit langem bestehende Abhängigkeit von Vicodin (die von süchtigen Ärzten bevorzugte Droge, weil sie so leicht zugänglich ist) behandeln zu lassen. King steckte damals in ernsthaften Schwierigkeiten. Sein Vicodin-Bedarf hatte sich drastisch erhöht, seine Ehe war in Gefahr, seine Arbeit litt darunter, und er musste sich jeden Abend betäuben, um einschlafen zu können.

Bob hatte es mit einer Therapie versuchen wollen, doch ihm waren alle Türen verschlossen. Jeder Therapeut, den er konsultierte, bestand darauf, er solle an einem Entzugsprogramm für suchtkranke Ärzte teilnehmen, ein Plan, dem Bob sich widersetzte, weil ihm der Gedanke verhasst war, sich in Therapiegruppen vor anderen Ärzten bloßzustellen. Die Therapeuten insistierten. Wenn sie einen praktizierenden Süchtigen ohne das offizielle Entzugsprogramm behandelten, gingen sie das Risiko einer Strafverfolgung durch die Gesundheitsbehörde oder das eines persönlichen Rechtsstreits ein (falls der Patient beispielsweise bei seiner klinischen Arbeit ein falsches Urteil fällte).

Julius war damals die letzte Zuflucht gewesen. Sonst hätte er seine Praxis schließen und Urlaub nehmen müssen, um sich in einer anderen Stadt anonym behandeln zu lassen. Julius ging das Risiko ein und vertraute darauf, dass Bob King den Vicodin-Entzug auch so schaffte. Und obgleich die Therapie schwierig war, wie sie es bei Suchtkranken immer ist, behandelte Julius Bob für die nächsten drei Jahre ohne die Hilfe eines Entzugsprogramms. Es blieb eines der Geheimnisse, die jeder Psychiater hat – ein therapeutischer Erfolg, der auf keinen Fall erörtert oder publiziert werden durfte.

Julius saß in seinem Wagen, nachdem er die Praxis seines Internisten verlassen hatte. Sein Herz hämmerte so heftig, dass das Auto zu erzittern schien. Er holte tief Luft, um seine wachsende Panik in den Griff zu bekommen, dann noch einmal und noch einmal und klappte sein Handy auf, um mit flatternden Händen einen umgehenden Termin bei Bob King zu vereinbaren.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Bob am nächsten Vormittag, als er Julius’ Rücken mit einem großen, runden Vergrößerungsglas studierte. »Hier, schauen Sie selbst; mit zwei Spiegeln geht das.«

Bob ließ ihn vor dem Wandspiegel Aufstellung nehmen und hielt einen großen Handspiegel an das Mal. Julius sah den Dermatologen an: blond, rötliches Gesicht, dicke Brillengläser, die auf einer langen, imposanten Nase thronten – er erinnerte sich daran, wie Bob ihm erzählt hatte, dass die anderen Kinder ihn gehänselt und »Gurkennase« gerufen hatten. Er hatte sich in den zehn Jahren nicht sehr verändert. Er wirkte gehetzt, ebenso wie er es in seiner Zeit als Julius’ Patient gewesen war, als er schnaufend und pustend immer ein paar Minuten zu spät gekommen war. Oft war ihm damals der Spruch des weißen Kaninchens aus Alice im Wunderland in den Sinn gekommen: »Jemine! Jemine! Ich komme bestimmt zu spät!«, wenn Bob in sein Sprechzimmer stürzte. Er hatte zugenommen, war aber so klein wie eh und je. Er sah aus wie ein Dermatologe. Wer hat jemals einen hochgewachsenen Dermatologen erblickt? Dann schaute Julius ihm in die Augen – oh, oh, sie schienen besorgt  –, die Pupillen waren riesig.

»Hier ist das Viech.« Julius sah im Spiegel, dass Bob mit dem Radiergummi-Ende eines Stifts darauf zeigte. »Dieses flache Mal unter Ihrem rechten Schulterblatt. Sehen Sie es?«

Julius nickte.

Bob hielt ein kleines Lineal daran und fuhr fort: »Es misst fast einen Zentimeter. Sicher erinnern Sie sich an die ABCD-Regel aus Ihrem Dermatologiekurs an der Uni –«

Julius unterbrach ihn. »Ich erinnere mich an nichts aus dem Dermatologiekurs. Betrachten Sie mich als Idioten.«

»Okay. ABCD. A wie Asymmetrie – schauen Sie hier.« Er schob den Stift auf Teile des Flecks. »Er ist nicht vollkommen rund wie die anderen auf Ihrem Rücken – sehen Sie diesen und den hier?« Er deutete auf zwei Pigmentmale, die dicht daneben lagen.

Julius versuchte, seine Spannung abzubauen, indem er tief Luft holte.

»B wie Begrenzung – schauen Sie: Ich weiß, es ist schwer zu erkennen.« Bob zeigte erneut auf den Fleck unter dem Schulterblatt. »Sie sehen in diesem oberen Bereich, wie scharf die Grenze gezogen ist, hier dagegen, zur Mitte hin, ist sie verschwommen, verläuft einfach in die umliegende Haut. C wie Color, Färbung. Hier, auf dieser Seite, wirkt das Mal hellbraun. Wenn ich es vergrößere, sehe ich einen Spritzer Rot, ein bisschen Schwarz, vielleicht sogar Grau. D wie Durchmesser; wie ich schon sagte, ungefähr ein Zentimeter. Das ist nicht ungewöhnlich,...

Erscheint lt. Verlag 30.5.2013
Übersetzer Almuth Carstens
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Schopenhauer Cure
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Arroganz • Behandlung • eBooks • Erinnerung • Erkrankung • Krankheit • Patient • Philosophie • Philosophie, Psychoanalyse • Psychoanalyse • Psychoanalytiker • Psychologie • Roman • Romane
ISBN-10 3-641-11978-2 / 3641119782
ISBN-13 978-3-641-11978-2 / 9783641119782
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