Kanalratten (eBook)
192 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-401017-5 (ISBN)
Maxim Biller, geboren 1960 in Prag, lebt seit 1970 in Deutschland. Er ist Autor der Romane »Esra« und »Die Tochter«, der Erzählbände »Liebe heute«, »Bernsteintage«, »Land der Väter und Verräter« und »Wenn ich einmal reich und tot bin«, der Essaybände »Die Tempojahre« und »Deutschbuch« sowie des autobiographischen Bands »Der gebrauchte Jude«; darüber hinaus schreibt er Theaterstücke (»Kanalratten«) und Kolumnen. Zuletzt erschienen seine Novelle »Im Kopf von Bruno Schulz«, sein monumentaler Roman »Biografie«, der Roman »Sechs Koffer«, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, der Erzählband »Sieben Versuche zu lieben. Familiengeschichten« sowie der Roman »Der falsche Gruß«.
Maxim Biller, geboren 1960 in Prag, lebt seit 1970 in Deutschland. Er ist Autor der Romane »Esra« und »Die Tochter«, der Erzählbände »Liebe heute«, »Bernsteintage«, »Land der Väter und Verräter« und »Wenn ich einmal reich und tot bin«, der Essaybände »Die Tempojahre« und »Deutschbuch« sowie des autobiographischen Bands »Der gebrauchte Jude«; darüber hinaus schreibt er Theaterstücke (»Kanalratten«) und Kolumnen. Zuletzt erschienen seine Novelle »Im Kopf von Bruno Schulz«, sein monumentaler Roman »Biografie«, der Roman »Sechs Koffer«, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, der Erzählband »Sieben Versuche zu lieben. Familiengeschichten« sowie der Roman »Der falsche Gruß«.
ein urbanes, ein lässig hingetupftes Szenario.
Billers Protagonisten sind Feingeister, die sich gegenseitig für ›Psychos‹ halten, entsprechend klug und scharf […] sind die Sätze, mit denen sie sich beharken.
eine kluge, böse, irgendwie auch liebevolle Innen-Außen-Ansicht jüdisch-deutschen Geisteslebens und -hassens in den Nullerjahren.
Wenn das tolle, böse, wuchtige neue Theaterstück von Maxim Biller […] auf deutschen Theaterbühnen nicht gespielt wird, dann muss es eben jeder selber lesen.
1.
Ein Schlafzimmer. Ein großer Spiegelschrank. Ein Doppelbett, auf dem Mäntel und Jacken liegen. An den Wänden deutsche Expressionisten. Genau über dem Bett – wie in einem Kinderzimmer – das Modell eines Kampfflugzeugs, wohl aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. In einem modernen, orangefarbenen Sessel sitzt, abgewandt von der Tür, Girsch. Er bewegt sich nicht, dann tippt er langsam etwas in sein Telefon, dann erstarrt er wieder. Das mehrmals. Hinter der Tür hört man leise Partygeräusche: meist nur Stimmen, selten Musik. Es wird immer wieder dasselbe Lied gespielt, Gloria Gaynors »I Will Survive«. Girsch hält sich dabei jedes Mal theatralisch die Ohren zu. Die Tür geht auf, und Karpeles und Anna kommen herein. Sie sehen Girsch nicht. Sie lachen.
KARPELES
Hier. Hier rein. Hier ... Jetzt komm schon.
ANNA
Ich weiß nicht.
KARPELES
Kurz. Fünf Minuten. Was sind fünf Minuten? Was kann ich dir schon tun in fünf Minuten?
ANNA
Dir reichen zwanzig Sekunden.
KARPELES
Dreißig! Dreißig Sekunden. Länger war das nicht. Ich hab dreißig Sekunden geredet – und sie sind sofort alle wieder verrückt geworden. Sogar Weisselberg. Jemand wird noch sterben, wenn die nicht sofort aufhören, weiterzustreiten. Man müßte reingehen und ... und jemand andern beleidigen. Dann würde auch Hofman aufhören. Der konnte noch nie aufhören.
ANNA
Hofman. Mit langem »o«. Hofman.
KARPELES
Wie Ofen? Wie Ofenmann?
ANNA
Warum machst du das? Es macht dir doch selbst keinen Spaß. Zuerst Girsch, dann Hofman – dann ich?
KARPELES
Das bin nicht ich, das ist meine Zunge.
ANNA
Hmm.
KARPELES
Hmmm ...?
Pause.
ANNA
Bist du noch so gut wie früher?
KARPELES
War ich so gut?
ANNA
Keiner war so gut. Ich weiß noch – weißt du noch? –, ich weiß noch, beim letzten Mal, als du mittendrin angefangen hast zu heulen.
KARPELES gleichzeitig mit »heulen«
War’s wirklich so schlimm, was ich gesagt hab?
ANNA
»Das sind Tränen der Liebe, meine Schöne, und außerdem kann ich dich dann schneller ficken.«
KARPELES
Das meine ich nicht. Denkt nach. Hab ich das damals wirklich gesagt? Es ist fast zehn Jahre her.
ANNA gleichzeitig mit »her«
Ich finde es – halbschlimm. Ich weiß nichts über diesen Mann, wie hieß er ...
KARPELES gleichzeitig mit »er«
Ich hab geheult, weil ich wusste, dass es das letzte Mal ist. Pause. Woher weißt du noch so genau, was ich damals gesagt hab?
ANNA gleichzeitig mit »gesagt hab«
Treitschke, ja? Also wenn ihm das so wichtig ist, dann lass ihn doch. Er wohnt in dieser Straße. Sein Vater, sein Großvater, sie alle haben hier gewohnt. Treitschkestraße. Klingt doch gar nicht so schlecht, klingt fast ein bisschen jüdisch. Klingt wie ... Jouch mit Treitschkelknedel. Wie ... mein kleines, süßes Treitschkele. Und an Purim drehen unsere Kinderlach ihren – Treischkel-Dreidel-Scheidl!
KARPELES
Hör auf Jiddisch zu reden. Du kannst es nicht. Pause. Anne-Frank-Straße klingt besser.
ANNA
Ich würde auch nicht in der Anne-Frank-Straße wohnen wollen.
KARPELES
An deiner oder an seiner Stelle? Fällt sich selbst ins Wort. Wirst du aber, meine Schöne, du hast jetzt das ganze Paket. Ofenmann, seine tausend Arschlecker, und die Treitschkestraße, die am 2. Dezember Anne-Frank-Straße heißen wird.
ANNA
Glaubst du wirklich?
KARPELES
Diese Null Girsch wird das erste Mal in seinem Leben etwas schaffen! Ganz Berlin stimmt ab. Weil Girsch, das Leichlein von der Lindenstraße, einmal eine Idee hatte. Ganz Berlin! Innen rechts, außen links, alles wie immer. Wusstest du, dass Girsch mit achtundzwanzig fast an einem Kürbiskern erstickt wäre?
Girsch bewegt sich lautlos in seinem Sessel. Er schiebt sich die Faust in den Mund und beißt lautlos darauf.
ANNA nach kurzem Nachdenken
Aber du hättest es trotzdem anders sagen können.
KARPELES nach kurzem Nachdenken
Jemand sagt, Heinrich von Treitschke war größer als Ranke mit seinem lächerlichen Objektivismus. Jemand sagt, Treitschkes »Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert« ist das Manna, von dem dieses Volk endlich kosten sollte. Zu sich selbst. Kosten sollte – was für ein Deutsch! Dann wieder zu Anna. Jemand sagt, das Moderne an Treitschke ist seine enigmatische Geschichtsschreibung. Und ich soll nichts antworten? Ich, der Rache-Karpeles?
ANNA
Jemand sagt? Hofman sagt. Dir geht es doch gar nicht um Treitschke.
KARPELES
Stimmt.
ANNA
Sag’s anders, sonst glaube ich dir nicht.
KARPELES weicher
Stimmt ...
ANNA
Und was hast du zu »jemand« gesagt? Du hast gesagt: Ihr sitzt hier in eurer geklauten, von Opi arisierten Wohnung, in einer Straße, die nach diesem Choleriker benannt ist, von dem das »Stürmer«-Motto stammt ...
KARPELES
... die Nudeln der Juden sind unser Unglück ...
ANNA
... du hast zu »jemand« gesagt, dass er kein Nazi ist, aber dass er die Nazis liebt, dass er wie dieser Typ ist, der damals die Karin II gekauft hat ...
KARPELES
... Heidemann ...
ANNA
... und du hast zu »jemand« gesagt, ich bin aus Israel wiedergekommen nach zehn Jahren, um euch den Spaß zu verderben, ihr deutschen Idioten! Weißt du was? Das finde ich schlimmer als halbschlimm.
KARPELES
Es gibt Leute dort drüben er zeigt mit dem Kopf in Richtung Tür, die mich nicht für blöd halten. Denen ich gefehlt habe. Und die machen gerade den Fehler ihres Lebens – und streiten sich wegen mir mit Ofenmann. Wusstest du, dass Ofenmann in seinem Notizbuch eine Liste von allen seinen Arschleckern hat und ab und zu ein kleines schwarzes Kreuz hinter einen Namen macht?
ANNA
Ich halte dich auch nicht für blöd.
KARPELES
Sag’s anders, sonst glaube ich dir nicht.
ANNA
Nein.
Pause.
KARPELES
Das waren jetzt mehr als fünf Minuten.
ANNA
Dann gehe ich jetzt.
KARPELES
Muschinki, bitte. Er versucht, sie aufs Bett zu drücken. Sie fallen auf die Mäntel. Sie umarmen sich, ohne sich zu küssen.
ANNA
Du kannst nicht mehr ›Muschinki‹ zu mir sagen – verstehst du das?
KARPELES
Ja ... ja.
Pause.
ANNA
Ich hab’s bereut.
KARPELES
Ich nicht.
ANNA
Ich auch nicht.
KARPELES
Na siehst du.
ANNA
Nein ...
KARPELES
Was nein?
ANNA
Doch.
KARPELES
Jetzt sag schon.
ANNA
Das erste Jahr hab ich jede Nacht nur eine Stunde geschlafen. Ich bin ins Bett gegangen, ich schlief ein, ich wachte nach einer Stunde wieder auf, und dann schlief ich die ganze Nacht nicht mehr. Ich habe Briefe an dich geschrieben. Ich wollte, dass du zurückkommst, und ich wollte, dass du nicht mehr so hart bist. Manchmal bin ich noch mal eingeschlafen, und dann hab ich fast immer von ihm geträumt. Er hatte lange Wimpern, ein kleines Puppengesicht, er konnte fast nichts mehr hören und sehen, und wir saßen an seinem kleinen Kinderbett und weinten. Und dann wachte ich auf, und ich dachte, wie gut, dass du gegangen bist. Pause. Er wäre sowieso bald wieder gestorben. Er hieß Lenny.
KARPELES
Wir hätten einen kleinen Neger adoptieren sollen. Warum haben wir keinen kleinen Neger adoptiert? Dann wären wir jetzt noch zusammen.
ANNA
Weil du es nicht wolltest.
KARPELES
Okay, dann hätten wir eben den Test nicht machen sollen. Warum haben wir den Test gemacht?
ANNA
Weil du es wolltest. Weil dein schrecklicher Dr. Weisselberg gesagt hat, ihr müßt es machen, in Amerika machen es alle Juden, sie sind alle in dieser Computerdatei, oder ein kleiner Stich in die Fruchtblase, mehr nicht, und seit sie es machen, ist die Rate fast gleich Null.
KARPELES
In Israel auch. Tay-Sachs ist inzwischen fast bei Null in Israel. Bei Autounfällen sterben mehr. Nein, bei Anschlägen. Nein, bei Telefonaten mit Florida ... in Florida.
ANNA gleichzeitig mit »Florida«
Ohne den Test war unsere Chance auch gleich Null.
KARPELES
Auch bei Lenny?
ANNA
Der war nur ein Traum. Pause. Wir hätten es überhaupt nicht gemerkt. Es war neurotisch, es zu machen.
KARPELES
Null Komma Null Null Eins?
ANNA
Das ist wie Null, verstehst du, das ist nichts ... gar nichts. Pause. Wir hätten nie im Leben ein krankes Kind bekommen! Schau uns an. Wir haben uns so geliebt, wie kann man da ein krankes Kind kriegen. Glaubst...
Erscheint lt. Verlag | 16.5.2013 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Dramatik / Theater |
Schlagworte | Drama • Gesellschaft • Kulturschickeria • Menschen in falschen Zusammenhängen • Talkshow • Theater • Theaterstück • Zweierbeziehung |
ISBN-10 | 3-10-401017-X / 310401017X |
ISBN-13 | 978-3-10-401017-5 / 9783104010175 |
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