Sascha und Wolodja werden durch einen Krieg getrennt und können sich nur Briefe schreiben. Sie erzählen einander darin von allem und jedem: von Kindheit, Familie, Alltag, von Freud und Leid. Ein normaler Briefwechsel zweier Liebender - bis sich beim Leser Zweifel regen und klar wird, dass die Zeit der beiden verrückt ist, dass sie durch Raum und Zeit getrennt sind. Sie lebt in der Gegenwart, er kämpft im Boxeraufstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen chinesische Rebellen.
Ein großer, anrührender Liebesroman, der die grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz behandelt und der durch die Macht des Wortes die Gesetze von Zeit und Raum außer Kraft setzt.
Michail Schischkin ist einer der meistgefeierten russischen Autoren der Gegenwart. Er wurde 1961 in Moskau geboren, studierte Linguistik und unterrichtete Deutsch. Seit 1995 lebt er in der Schweiz. Seine Romane »Venushaar« und »Briefsteller« wurden national und international vielfach ausgezeichnet, u.a. erhielt er als einziger alle drei wichtigen Literaturpreise Russlands. 2011 wurde ihm der Internationale Literaturpreis Haus der Kulturen der Welt in Berlin verliehen. Sein Roman »Die Eroberung von Ismail« wurde u.a. mit dem Booker-Prize für das beste russische Buch des Jahres ausgezeichnet.
Dies wird ein Nachtbrief. Vorhin habe ich einen Brotkanten im Bett geknabbert, jetzt hindern mich die Krümel am Einschlafen, sie wandern übers Laken und zwicken.
Im Fenster über meinem Kopf: Sternengewimmel.
Die Milchstraße teilt den Himmel schräg mittendurch. Das ist wie ein gigantischer mathematischer Bruch: Das halbe All im Zähler, die andere Hälfte im Nenner. Bruchrechnen habe ich immer gehasst, genauso Quadrat- und Kubikzahlen und irgendwelches Wurzelnziehen. Das ist alles so abstrakt und unvorstellbar, nichts, woran man sich festhalten könnte. Eine Wurzel ist eine Wurzel, nämlich von einem Baum. Die stößt kräftig in den Boden vor, krallt sich fest, frisst sich ins Erdreich, ist zäh, unaufhaltsam, saugend, gierig, lebendig. Und dieser Quatsch mit Häkchen – will eine Wurzel sein!
Oder die Sache mit dem Minuszeichen. Minus Fenster – wie soll das gehen? Von einem Minus lässt sich kein Fenster beeindrucken, es bleibt an Ort und Stelle, genau wie das, was durch das Fenster zu sehen ist.
Oder: minus ich? Das gibt es doch gar nicht.
Ich bin sowieso mehr für das, was sich anfassen lässt. Und riechen!
Riechen ist sogar noch wichtiger. Wie in dem Buch, aus dem mir Papa früher immer vor dem Einschlafen vorgelesen hat. Da gibt es verschiedene Menschen. Solche, die immerzu gegen Kraniche kämpfen. Solche mit nur einem Bein, auf dem sie flott vorankommen, hinwieder ist die Sohle des Fußes so breit, dass sie in ihrem Schatten Schutz vor der ärgsten Mittagssonne finden und Siesta halten können wie in einem Haus. Und Leute gibt es, die leben ausschließlich vom Duft der Früchte. Gehen sie auf Reisen, packen sie Obst ein. Und fährt ihnen etwas Übles in die Nase, sind sie dem Tode nah. So eine bin ich.
Alles Lebendige, so es auf der Welt bestehen will, muss riechen, verstehst Du? Irgendeinen Geruch haben. Wohingegen diese Brüche und was sie uns sonst noch in der Schule beizubringen versuchten – das riecht alles nicht.
Draußen torkelt ein Spätheimkehrer vorbei, kickt eine leere Flasche. Der helle Klang von Glas auf dem Asphalt der leeren Straße.
Jetzt ist sie kaputt.
Nachts in solchen Momenten kann es ganz schön einsam sein. Dann will man wenigstens Anstoß sein für irgendwas.
Wie gern wäre ich jetzt bei Dir. Nicht auszuhalten ist das!
In Deinen Armen liegen, mich ankuscheln.
Willst Du wissen, was herauskommt, wenn man den Sternenzähler da oben durch den Sternennenner teilt? Die eine Hälfte des Universums durch die andere? Heraus komme ich. Genauer, wir zwei.
Heute sah ich ein Mädchen, das mit dem Fahrrad gestürzt war und sich das Knie aufgeschlagen hatte, es saß da und weinte bitterlich, die weißen Kniestrümpfe waren schmutzig. Das war an der Uferstraße, wo die Löwen sitzen – die Rachen vollgestopft mit Müll, Bonbonpapier und Eisstielen. Hinterher beim Nachhausegehen kam mir der Gedanke, dass die wirklich großen Bücher oder Gemälde gar nicht von Liebe handeln, das geben sie nur vor, damit das Lesen Spaß macht. In Wirklichkeit geht es um den Tod. Da ist die Liebe nur Fassade, oder besser gesagt: eine Augenbinde. Damit man nicht zu viel sieht. Sich nicht graust.
Jetzt weiß ich nicht, was das mit dem vom Fahrrad gefallenen Mädchen zu tun hat.
Sie hat ein bisschen geweint und das Ganze dann wohl schnell vergessen, während im Buch das aufgeschürfte Knie fortleben würde, über den Tod des Mädchens hinaus.
Eigentlich handeln die Bücher wohl nicht vom Tod, sondern von der Ewigkeit, aber diese Ewigkeit ist nicht echt – sie ist ein Fragment, eine Momentaufnahme, so wie die berühmte Mücke im Bernstein. Hat sich nur für ein Sekündchen hingesetzt, um sich die Hinterbeine zu reiben – und dann wars für immer. Klar, da wird ausgewählt, allerlei berückende Momente – aber ist es nicht schrecklich, für immer darin zu verweilen wie ein Nippes aus Porzellan? Der Schäfer, der sich nach vorne reckt, die Schäferin zu küssen …
Porzellan muss ich nicht haben. Es soll am Leben sein, hier und jetzt. Du, Deine Wärme, Deine Stimme, Dein Körper, Dein Geruch.
Du bist jetzt fern genug von mir, dass ich nicht scheue, Dir etwas zu beichten: Damals auf der Datscha war ich des Öfteren in Deinem Zimmer, wenn Du nicht da warst, und habe alles beschnüffelt! Deine Seife. Dein Rasierwasser. Den Rasierpinsel. Die Schuhe. Von innen! Ich hab Deinen Schrank aufgemacht. Die Nase in den Pullover gesteckt. Den Hemdärmel. Den Kragen. Hab einen Hemdknopf geküsst. Mich über Dein Bett gebeugt, am Kissen gerochen … Ich war ja glücklich, doch das war nicht genug. Für das Glück braucht es Zeugen. Erst wenn man irgendeine Art Bestätigung bekommt, wird es perfekt. Wenn nicht mit einem Blick, einer Berührung, in Anwesenheit – dann eben in Abwesenheit, durch ein Kissen, einen Ärmel, einen Knopf in Vertretung. Einmal hättest Du mich um ein Haar erwischt, ich kam gerade noch zur Tür hinaus. Da sahst Du mich und warfst mir Kletten ins Haar, ich war wütend auf Dich. Was gäbe ich heute dafür, von Dir Kletten ins Haar geworfen zu kriegen!
Ich denke an Dich, und die Welt teilt sich in zwei Hälften: vor dem ersten Mal und danach.
Unsere Rendezvous am Denkmal.
Ich beim Schälen einer Apfelsine – meine Hand an Deiner klebend.
Der Zahnarztgeruch, der von Dir ausging, als Du mit einer frischen Plombe im Mund aus der Poliklinik kamst. Ich durfte sie mit dem Finger berühren.
Und hier sind wir auf der Datscha beim Deckeweißen, Möbel und Fußboden mit alten Zeitungen abgedeckt. Wir sind barfuß, die Zeitungen bleiben an den Füßen kleben. Besudelt von Kopf bis Fuß, polken wir uns gegenseitig die Farbe aus den Haaren. Zähne und Zunge von Sumpfkirschen schwarz.
Später hängten wir Tüllgardinen auf, einmal ergab es sich, dass wir auf verschiedenen Seiten der Gardine waren, ich ersehnte Deinen Kuss durch den Tüll …
Und hier trinkst Du Tee und verbrühst Dir die Zunge; bläst, damit er schneller abkühlt; trinkst schlückchenweise und schlürfst dabei laut und ungeniert, obwohl man uns als Kind eingeimpft hat, dass sich das nicht gehört. Und ich schlürfe mit. Weil wir ja keine Kinder mehr sind. Wir dürfen alles.
Dann der See.
Wir kraxeln den Steilhang hinab, nähern uns dem versumpften Ufer, der Pfad schmatzt und federt unter den nackten Füßen.
Wir suchen uns einen Abschnitt, der frei von Entengrütze ist, waten hinein. Das Wasser ist trübe und von Sonne voll. Kälteres, von den Quellen her, strömt einem von unten entgegen.
Im Wasser berührten sich unsere Körper zum ersten Mal. Am Ufer hatte ich es nicht gewagt, Dich anzufassen, hier konnte ich Dich einfach anspringen, Deine Schenkel mit den Beinen umklammern, Dich unter Wasser drücken. So hatte ich als Kind mit Papa im Meer herumgetollt. Du reißt Dich los, willst die Klammer meiner Arme lösen, ich lasse es nicht zu. Versuche hartnäckig Deinen Kopf unter Wasser zu drücken. Deine Wimpern sind verklebt, Du hast Wasser geschluckt, lachst und spuckst, schnaufst und fauchst.
Dann sitzen wir in der Sonne.
Du hast einen Sonnenbrand auf der Nase, die Haut löst sich in kleinen Fetzen.
Wir betrachten das sich zerfasernde Spiegelbild des Glockenturms vom anderen Ufer im Wasser.
Da sitze ich nun beinahe nackt vor Dir, aber was mich am meisten geniert, sind meine Füße. Die Zehen, genauer gesagt. Ich wühle sie in den Sand.
Ich bedrohe eine Ameise mit der brennenden Zigarette, Du rettest ihr das Leben.
Wir nehmen den kürzesten Nachhauseweg querfeldein. Grashüpfer springen durch das dürre Gras, hängen sich an meinen Rock.
Auf der Veranda hast Du mich in den Korbsessel gesetzt und mir den Sand von den Füßen gestrichen. Wie einst Papa: Wenn wir vom Strand kamen, rieb er mir genauso die Füße ab, damit zwischen den Zehen kein Sand blieb.
Und auf einmal war alles ganz einfach und klar. Unausweichlich. Lang ersehnt.
Ich stand vor Dir im nassen Badeanzug, mit hängenden Armen.
Sah Dir in die Augen. Du griffst nach den Trägern, zogst mir den Anzug aus.
Ich war seit Langem dazu bereit, hatte den Moment erwartet, gefürchtet zugleich. Deine Furcht war wohl noch größer; es hätte schon früher passieren können, aber damals im Frühjahr, weißt Du noch, als ich Deine Hand nahm und dorthin legen wollte, hattest Du sie weggezogen. Jetzt warst Du ganz anders.
Weißt Du, was meine Befürchtung war? Nicht der Schmerz. Es tat ja dann auch überhaupt nicht weh, ging ohne Bluten ab. Aber vielleicht denkt er jetzt, es ist gar nicht mein erstes Mal, hab ich gedacht.
Erst am Abend fiel mir der Badeanzug wieder ein und dass ich ihn nicht zum Trocknen aufgehängt hatte. Zusammengeknüllt lag er auf der Veranda, nass und kalt, mit brackigem Geruch.
Ich schmiegte mich an Dich, küsste Deine abgeblätterte Nase. Wir flüsterten, obwohl sonst keiner da war. Zum ersten Mal konnte ich Dir in Ruhe, ohne Furcht und Verlegenheit, in die Augen schauen: Sie waren rehbraun, mit grünen und haselnussbraunen Sprenkeln auf der Netzhaut.
Überhaupt war plötzlich alles anders – man durfte anfassen, was zuvor unberührbar war, weil es einem nicht gehörte. Eben noch fremd, jetzt zugehörig – so als hätte mein Körper sich ausgedehnt, mit Deinem zusammengetan. Und auch mich selbst spürte ich nun ausschließlich über Dich. Meine Haut war nur da, wo Du sie berührtest.
In der Nacht schliefst Du, ich konnte nicht. Mir war nach Weinen zumute, doch ich hatte Angst, Dich zu wecken. Also stand ich auf und ging ins Bad, wo ich nach...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2012 |
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Übersetzer | Andreas Tretner |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Booker Prize • Boxeraufstand • Boxeraufstand Peking • Briefe • Briefroman • Briefwechsel • China • eBooks • Existenz • Gegenwart • Internationaler Erfolg • Internationaler Literaturpreis • Kriegsgeschehen • Liebe • Liebesroman • Liebesromane • Liebe und Tod • PEN Berlin • Preisgekrönter Autor • Raum • Roman • Romane • Russische Literatur • Russland • Russland, 20. Jahrhundert • schillerrede 2024 • Sciencefiction • Zeit • Zeitsprung |
ISBN-10 | 3-641-08053-3 / 3641080533 |
ISBN-13 | 978-3-641-08053-2 / 9783641080532 |
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