Tagebuch, danach geschrieben (eBook)

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2012 | 1. Auflage
200 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-79850-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tagebuch, danach geschrieben -  Andrzej Stasiuk
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Zorniger hat Andrzej Stasiuk nie über Polen und den Westen geschrieben als nach seiner jüngsten Reise durch Südosteuropa. Zurück aus den 'Ländern mit ausgeprägter Persönlichkeit', wo Minarette neben Minen- und Gräberfeldern stehen, stößt er sich an obszönen Widersprüchen im eigenen Land: Nach Märtyrertum dürsten, aber zwischen zwanzig Chipssorten und erschwinglichen Tunesien-Angeboten wählen ? wie paßt das zusammen? Sieht Polen nicht längst aus wie ein zurückgebliebenes Deutschland? Bleibt der Südosten deshalb ein nie einzuholendes Ziel, weil den Reisenden dort eine Realität anspringt, die zu Hause verdrängt oder neutralisiert ist? Reisebilder und Reflexionen, Rhapsodie und Pamphlet ? Andrzej Stasiuk radikalisiert in seinem neuen großen Prosatext seine Kunst des scharfen Blicks und der pointierten Poesie.

<p>Andrzej Stasiuk, der in Polen als wichtigster jüngerer Gegenwartsautor gilt, wurde 1960 in Warschau geboren, debütierte 1992 mit dem Erzählband <i>Mury Hebronu (Die Mauer von Hebron)</i>, in dem er über seine Gewalterfahrung im Gefängnis schreibt. Stasiuk wurde 1980 zur Armee eingezogen, desertierte nach neun Monaten und verbüßte seine Strafe in Militär- und Zivilgefängnissen. 1986 zog er nach Czarne, ein Bergdorf in den Beskiden.</p> <p>1994 erschienen <i>Wiersze milosne i nie (Nicht nur Liebesgedichte)</i>, 1995 <i>Opowiesci Galicyjskie (Galizische Erzählungen)</i> und <i>Bialy Kruk (Der weiße Rabe;</i> 1998 bei Rowohlt Berlin), 1996 der Erzählband <i>Przez rzeke (Über den Fluss</i>; diesem Band ist <i>Die Reise</i> entnommen) und 1997 <i>Dukla</i>.</p> <p>2002 erhält er den von den Partnerstädten Thorn (Polen) und Göttingen gemeinsam gestifteten Samuel-Bogumil-Linde-Literaturpreis. Den literarischen Jahrespreis Nike<i> </i>erhielt Andrzej Stasiuk 2005 für sein Buch <i>Unterwegs nach Babadag. </i></p> <p>Sein vielfach ausgezeichnetes Werk erscheint in 30 Ländern. 2016 wurde er mit dem Staatspreis für europäische Literatur 2016 ausgezeichnet.</p>

Cover 1
Informationen zum Buch/Inhalt 2
Impressum 4
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2 37
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1


Und wieder bin ich hier. Wieder habe ich den Gestank von Abwässern und brennendem Müll in der Nase. Nachts hat es heftig geregnet, im Morgengrauen steht gelblich schlammiges Wasser zwischen den Häusern. In den Pfützen spielen Kinder. Um sieben Uhr früh setzt die Hitze ein. Kneipen- und Ladenbesitzer spülen den Dreck vom Bürgersteig auf die Fahrbahn. Überall stehen Stühle, und gleich werden die Typen kommen, um den ganzen Tag rumzusitzen. Sie umarmen und küssen sich, als hätten sie sich weiß Gott wie lange nicht gesehen, dabei haben sie den Abend zuvor in gleicher Besetzung hier gesessen. Nichts ändert sich. Sie bekommen ihren Kaffee, ein Glas Wasser und beginnen ihre Unterhaltung. Von sieben Uhr an tratschen sie wie die Weiber. Sie sitzen in den zerfallenden Städten, zwischen zerstörten Häusern und unterhalten sich. Die nächsten kommen, küssen sich, setzen sich und fangen an zu reden. Knöpfen die Hemden auf, damit man die Goldkettchen sieht. Sie heben die Tassen und spreizen die kleinen Finger ab, um ihre Siegelringe zu zeigen. Auf Schritt und Tritt ein paar Stühle und ein Tischchen. Sie fliehen ihr Zuhause und sitzen auf der Straße, als könnten sie es nicht ohne einander aushalten, als würden sie sterben aus Angst vor der Einsamkeit. Würde man sie trennen, sie würden bestimmt den Verstand verlieren. Wie große Kinder sind sie, mit Bauch. Sie leben in der Herde. Ein Einzelgänger hat keine Chance. Einsamkeit ist Krankheit, Einsamkeit ist Wahn. Der Kellner räumt die Tische ab und wirft den Müll auf die Fahrbahn. Kippen, Zigarettenschachteln, Cola-Dosen. Er pfeffert es dorthin, wo das Niemandsland beginnt, das heißt der Rest der Welt, die Leere, das Vakuum, das schwarze Loch, finsterer, herrenloser Kosmos, worin der ganze Dreck von Albanien Platz findet.

Die achtzehnjährigen Halbstarken begrüßen sich wie die Alten, unterstreichen es mit Gesten, die sie sich auf MTV oder bei der NBA abgeschaut haben, dieses ganze komplizierte, von den Black Brothers erfundene Ritual des Händeklatschens. Das ist aber auch schon alles, was sie von ihren Vätern unterscheidet. Der Rest gleicht sich. Die gleichen Goldkettchen, der gleiche Gockelgang und das gleiche unbewusste Herumkneten zwischen den Hosenbeinen. Sie sehen aus, als wären sie leibhaftig der Fernsehreklame entstiegen mit diesem Gehabe von italienischen Gigolos. Pomade im Haar, gegelt, herausgeputzt, in engen Jeans und Schuhen aus feinem Leder sitzen sie inmitten der lodernden Müllhalden, der faulenden Innereien der Lämmer, den Rinnstein zu Füßen, und schwadronieren über das Schicksal der Welt. Sechshundert Jahre lang war hier die feudale Türkei, ein kurzes Aufflammen der Freiheit zwischen den Kriegen und dann die Katatonie des Urhorden-Kommunismus. Jetzt sieht man, wie lebendig die Phantome der Fernsehwelt sind, wie sie sich rühren in diesem steinalten Raum, dieser neuen fragilen Zeit, die zu zerbrechen droht wie frisches Eis. Alte Frauen tragen traditionelle weiße Gewänder, unter den Röcken Hosen aus dem gleichen gestärkten Stoff, und an den Füßen Bergschuhe.

Wieder bin ich hier. Angekommen mit der rostigen Fähre von Brindisi. Die Kabine hatte kein Fenster. Ich nahm Isomatte und Schlafsack und ging an den Bug. Das Deck vibrierte und stank nach Dieselöl. Der Himmel war sternenübersät. Ich schlief sofort ein. Im Morgengrauen erwachte ich. Man sah Festland. Männer standen an der Bordwand und hielten nach den umnebelten Bergen Ausschau. Sie standen vereinzelt, unterhielten sich nicht. Sie machten ernste Gesichter. Sie waren unterwegs in ihre Heimat, doch von Erregung oder Freude konnte ich bei ihnen keine Spur entdecken. Durch den Nebel, durch das goldene Morgenlicht sahen sie die grenzenlose Traurigkeit ihres Landes. Sie kamen nach Hause, um gleich wieder wegzufahren. Sie kamen für einen Monat, für eine Woche, das Geld aus Italien, Deutschland oder der Schweiz in den Tiefen der Kleidung versteckt. Ende August fahren alle wieder zurück, und die Baracke im Hafen von Durrës, die als Abfertigungshalle dient, verwandelt sich in den Vorhof der Hölle. Doch bis dahin sind es noch zwei Wochen. Jetzt lief die zitternde, von Rost zerfressene Fähre im Hafen von Vlora ein.

Als wir angelegt hatten, tauchten Uniformierte auf und begannen, aus der verglasten Bude, in der vorher Bier und Kaffee verkauft worden waren, die Passdaten auszurufen. Die Menschen drängten sich am Fenster, reckten die Hälse und horchten, als fürchteten sie, ihre Namen könnten irgendwo untergehen, wegkommen, und sie wären zum Nichtsein verdammt. Unbefangen reichte man sich fremde Namen von Mund zu Mund.

Zwei Tage später fragte Orges: »Und wozu kommst du hierher? Zum Vergnügen? Weil es so schön ist? Wegen der Exotik? Willst du sagen, die Scheiße hier stinkt nicht? Und wie sie stinkt. Das ist doch ein Saustall.«

Er hatte recht. Saustall total. Auf dem Marktplatz lagen große Fische im Dreck des Bürgersteigs. Er hatte recht. Es stank zum Himmel. Daneben hockten die Typen, die sie verkaufen wollten. An der Ausfallstraße der Stadt, zwischen Buden, Marktständen, Müllhaufen, zwischen Gerümpel, ewiger Ebenerdigkeit und postosmanischem Slum, war ein Schlachthof: eine von vielen Buden, in einer dunklen Baulücke, eine düstere Höhle aus Spanholz, Lehmziegeln, weiß der Teufel, einfach ein bisschen Schatten, und dort, in diesem Halbdunkel, machte sich ein Mann zu schaffen; an Haken hingen die nackten, roten Kadaver von Tieren, und vor dem Eingang, im Grunde auf der Straße, so dass man ihnen ausweichen musste, lagen noch lebende, graubraune Schafe, drei oder vier, und warteten in aller Ruhe, dass sie an die Reihe kämen. Mit Blut vermischtes Wasser floss auf die Straße. Die Stadt war über zweitausend Jahre alt und konnte sich das alles erlauben. Sie war zu Tode erschöpft. Nachts gingen alle auf die Straße. Es gab keinen Strom, überall ratterten die japanischen Generatoren. Die Laternen brannten nicht, doch aus allen Ecken waren Männerstimmen zu hören, Gespräche und Gelächter. Feuerzeugflammen und Autoscheinwerfer fischten einzelne Gesten aus der Finsternis, Gesichter, Krümel von Leben, von Gestalten. Eine Art großer Termitenbau, tief in die Nacht gegraben. Die Menschen spürten ihre Nähe wie Tiere. »Hier zahlt einfach niemand für Strom«, sagte Orges später. »Zur Strafe ist es dunkel.«

Ja. Ich weiß selbst nicht, wozu ich hergekommen bin. Exotik gibt es hier nicht. Alle diese Dinge, Gerüche, Ereignisse und der ganze Rest, existieren auch anderswo. Hier sind sie nur potenziert, vervielfacht und aufreizend wie billige und starke Parfums in einem engen Zimmer. Irgendwo bei Rranxë wurde asphaltiert. Die Fahrbahn war auf einen Streifen verengt. Die andere, frische, schwarze und glänzende Spur war mit Steinen, groß wie Hunde- oder Menschenköpfe, ausgelegt.

Zerlumpte und sonnenverbrannte Arbeiter gingen am Straßenrand und legten weitere weiße Felsstücke ab. Wie ein Meteoritenregen sah das aus. Und nicht die Spur einer Maschine. Nur die Leere der menschenleeren Landschaft, die glitzernde, eidechsenhafte Nacktheit des neuen Streckenabschnitts und drei Männer, die Felsbrocken vom Randstreifen zusammentrugen. Dann endete das alles, und man konnte wieder die ganze Breite befahren.

Drei Tage später waren wir in Bajram Curri. Ein amerikanischer Journalist hatte hier vor ein paar Jahren zusammen mit dem Zimmerschlüssel des Hotels eine Pistole ausgehändigt bekommen, damit er sich notfalls selbst verteidigen konnte. So steht es zumindest im albanischen Blue Guide von James Pettifer. Jetzt lief in der Hotelkneipe ein Schlager mit dem Refrain »Auf Wiedersehen im freien Kosovo«, doch ging es nicht um Politik, sondern um einen untreuen Geliebten, der sich mit diesen Worten verabschiedete, um nie aus der großen weiten Welt zurückzukehren. Der Kellner war groß und hager und sprach ein ausgezeichnetes Englisch. Er umsorgte uns auf leichte, unprätentiöse Art, wie das in Albanien nicht häufig anzutreffen ist. Die Bedienung ist hier entweder unterwürfig oder verklemmt. Dieser Junge benahm sich so, als wäre das Servieren seine Berufung, als wäre es sein Traum, den Gast zu beraten und ihn diskret zu bedienen. Er nahm sich die Zeit und ließ sich auf ein Gespräch mit uns ein. Als wir ihn fragten, woher er so gut Englisch könne, erwiderte er leicht melancholisch: »Ach, ich habe ein paar Jahre in London verbracht.«

Er kam aus dem Kosovo. Das Vereinigte Königreich hatte er im Fahrgestell eines Lastkraftwagens erreicht. Er hatte in Autowäschereien gearbeitet, in Restaurants, und nach einiger Zeit, als ihm schien, er sei so etwas wie ein Staatsbürger oder ein ehrbares Mitglied der Gesellschaft geworden, beschloss er, seinen Status zu klären. Er nahm sich einen Anwalt. »Der kam aus Jamaika«, sagte er seufzend. Der Anwalt riet ihm, sich beim Immigration Office zu melden, und entwarf ein Schreiben, das der Junge dort vorlegen sollte. Der Jamaikaner nahm fünfzig, sechzig Pfund, und unser Kellner wurde sofort nach dem Amtsbesuch abgeschoben. Jetzt servierte er uns geschmuggelten Martini, schwarzen albanischen Fernet und lächelte milde.

Bajram Curri war jung. Ungefähr fünfzig Jahre alt. Es war gebaut worden, um die Gebirgsbewohner aus dem Norden in Schach zu halten. Die waren schon immer rebellisch gewesen und duldeten keine fremde Macht. Sie gehorchten einzig den Oberhäuptern ihrer eigenen Clans. Ich habe ihre Häuser gesehen. Sie erinnern an rechteckige Türme mit Schießscharten statt der Fenster. Tagsüber musste es darin dunkel wie im Keller sein. So standen sie seit hundert oder zweihundert Jahren da.

Wir waren zu Wasser dorthin gelangt. Die Fähre fuhr...

Erscheint lt. Verlag 17.9.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte edition suhrkamp 2654 • Erlebnisbericht • ES 2654 • ES2654 • Politik • Reisebericht • Südosteuropa • Zeitgesch. • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-518-79850-2 / 3518798502
ISBN-13 978-3-518-79850-8 / 9783518798508
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