Werke, Band 5: »Ich« (eBook)
400 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400993-3 (ISBN)
Wolfgang Hilbig, geboren 1941 in Meuselwitz bei Leipzig, gestorben 2007 in Berlin, übersiedelte 1985 aus der DDR in die Bundesrepublik. Er erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, darunter den Georg-Büchner-Preis, den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis, den Berliner Literaturpreis, den Literaturpreis des Landes Brandenburg, den Lessing-Preis, den Fontane-Preis, den Stadtschreiberpreis von Frankfurt-Bergen-Enkheim, den Peter-Huchel-Preis und den Erwin-Strittmatter-Preis. Im S. Fischer Verlag erscheint die siebenbändige Ausgabe seiner Werke, »eine der wichtigsten Werkausgaben der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« (Uwe Schütte, Wiener Zeitung). Wolfgang Hilbig WERKE Band I GEDICHTE Band II ERZÄHLUNGEN UND KURZPROSA Band III DIE WEIBER - ALTE ABDECKEREI - DIE KUNDE VON DEN BÄUMEN (Erzählungen) Band IV EINE ÜBERTRAGUNG (Roman) Band V »ICH« (Roman) Band VI DAS PROVISORIUM (Roman) Band VII ESSAYS, REDEN, INTERVIEWS Literaturpreise: 1983 Brüder-Grimm-Preis 1985 Förderpreis der Akademie der Künste, Berlin 1987 Kranichsteiner Literaturpreis 1989 Ingeborg-Bachmann-Preis 1992 Berliner Literaturpreis 1993 Brandenburgischer Literaturpreis 1994 Bremer Literaturpreis 1996 Literaturpreis der Deutschen Schillerstiftung, Dresden 1997 Lessingpreis des Freistaates Sachsen 1997 Fontane-Preis der Berliner Akademie der Künste 1997 Hans-Erich-Nossack-Preis (Kulturkreis d. dt. Wirtschaft) 2001 Stadtschreiberpreis von Frankfurt-Bergen-Enkheim 2002 Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik 2002 Georg-Büchner-Preis 2002 Walter-Bauer-Literaturpreis der Stadt Merseburg 2007 Erwin-Strittmatter-Preis des Landes Brandenburg
Wolfgang Hilbig, geboren 1941 in Meuselwitz bei Leipzig, gestorben 2007 in Berlin, übersiedelte 1985 aus der DDR in die Bundesrepublik. Er erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, darunter den Georg-Büchner-Preis, den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis, den Berliner Literaturpreis, den Literaturpreis des Landes Brandenburg, den Lessing-Preis, den Fontane-Preis, den Stadtschreiberpreis von Frankfurt-Bergen-Enkheim, den Peter-Huchel-Preis und den Erwin-Strittmatter-Preis. Im S. Fischer Verlag erscheint die siebenbändige Ausgabe seiner Werke, »eine der wichtigsten Werkausgaben der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« (Uwe Schütte, Wiener Zeitung). Wolfgang Hilbig WERKE Band I GEDICHTE Band II ERZÄHLUNGEN UND KURZPROSA Band III DIE WEIBER – ALTE ABDECKEREI – DIE KUNDE VON DEN BÄUMEN (Erzählungen) Band IV EINE ÜBERTRAGUNG (Roman) Band V »ICH« (Roman) Band VI DAS PROVISORIUM (Roman) Band VII ESSAYS, REDEN, INTERVIEWS Literaturpreise: 1983 Brüder-Grimm-Preis 1985 Förderpreis der Akademie der Künste, Berlin 1987 Kranichsteiner Literaturpreis 1989 Ingeborg-Bachmann-Preis 1992 Berliner Literaturpreis 1993 Brandenburgischer Literaturpreis 1994 Bremer Literaturpreis 1996 Literaturpreis der Deutschen Schillerstiftung, Dresden 1997 Lessingpreis des Freistaates Sachsen 1997 Fontane-Preis der Berliner Akademie der Künste 1997 Hans-Erich-Nossack-Preis (Kulturkreis d. dt. Wirtschaft) 2001 Stadtschreiberpreis von Frankfurt-Bergen-Enkheim 2002 Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik 2002 Georg-Büchner-Preis 2002 Walter-Bauer-Literaturpreis der Stadt Merseburg 2007 Erwin-Strittmatter-Preis des Landes Brandenburg Jürgen Hosemann, geboren 1967, arbeitet nach einer Ausbildung zum Verlagskaufmann und einem Studium der Germanistik als Lektor für den S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main. Er ist Herausgeber zahlreicher Anthologien, Mitherausgeber der Werke Wolfgang Hilbigs sowie Autor von »Das Meer am 31. August« und »Papierkorb«.
Erinnerung im Untergrund
Ich hatte mich wieder einmal geirrt, – wie einen Geist, der durch Wände ging, sah ich den Oberleutnant Feuerbach plötzlich aus den sich überlagernden Spiegelbildern der Hochhausfronten hervorschreiten, sein helles Gesicht trat deutlich vor den Dämmer der Wolken, zu spät, ich entkam ihm nicht, er zupfte mich schon am Ärmel. – Diesmal war ich es, der am Arm gepackt wurde, mit weit weniger Behutsamkeit, als ich es kurz zuvor noch versucht hatte … mich packte die Realität beim Ärmel, der Abend verdüsterte sich im Augenblick noch mehr; als ich mich umdrehte, ahnte ich schon Feuerbachs Lächeln, an dem seine Augen keinen Anteil hatten. Aber sein Mund grinste diesmal nicht, seine Stimme klang versöhnlich, als er mich fragte: Warum haben Sie die junge Dame von vorhin nicht ins Café eingeladen? Sagen Sie bloß, Sie haben nicht bemerkt, daß ich genau hinter Ihnen reingegangen bin, haben Sie nicht gesehen, daß ich direkt am Fenster saß? Wir hatten doch in dieser Richtung etwas ausgemacht, wenn ich nicht irre? Haben Sie es wieder mal vergessen? Ich hätte mich sehr gefreut über die Gesellschaft der jungen Dame.
Sie wollte nicht, sagte ich mühsam. Sie wollte nicht, weil draußen vor dem Café keine Tische aufgestellt sind. Jetzt im Frühling, hat sie zu mir gesagt, geht sie nicht rein in eine verräucherte Gaststube.
Meine schnelle Antwort überraschte ihn; er sagte: Wahrscheinlich wirds diesmal im Sommer gar keine Tische draußen geben, sie kriegen, wie ich gehört hab, nicht wieder die Kellnerin für den Straßendienst … die will auch nicht mehr in den Schuppen.
Übrigens bin ich ohne zu bezahlen fortgegangen, sagte ich. Können Sie es für mich auslegen? Sie gehen doch bestimmt fast jeden Tag hin? Dann zahlen Sie doch meine Rechnung … vielleicht sind auch ein paar Rechnungen noch offen, ich glaube, keine besonderen Beträge.
Gutgut! sagte Feuerbach. Meinetwegen … lassen Sie uns über andere Dinge reden …
Eigentlich sieht es nur so aus, als ob ich viel Zeit hätte, wehrte ich ab.
Sie sind hinter ihr her, erwiderte Feuerbach, geben Sie es nur zu. Glauben Sie wirklich, daß sie Ihnen heute abend noch über den Weg läuft?
Er hatte recht, es war wirklich nicht mehr zu erwarten; ich war ganz umsonst, und zu einer völlig unnützen Zeit, in das Zentrum gefahren, und daß ich ihm über den Weg gelaufen war, bescherte mir einen jener peinlichen Augenblicke, in denen ich mich als ein Mensch ohne jede Funktion fühlte … was mir für mich allein nicht geschehen wäre. In der Szene war nicht viel los, das wußte ich, und ich stand mitten in der Stadt wie ein Kaspar Hauser … Feuerbach hielt mich noch immer am Arm. Fast immer schon hatte ich mich so gefühlt auf den großen belebten Plätzen Berlins, und hatte sie deshalb nach Möglichkeit zu vermeiden gesucht; in letzter Zeit aber gab es etwas, das mich gerade an diesem Gefühl reizte.
Es war mir unheimlich an den Orten, wo ich dem Volk begegnete, wo unübersichtliche Scharen von Müßiggängern sich tummelten … und diese wiederum durchquert waren von den hastigen Menschenströmen, die sich aus den übervollen S-Bahnen ergossen; und wenn ich sah, daß die Reihen der letzteren sogar Mühe hatten, sich durch dicke Gruppen Herumstehender zu kämpfen, daß sie gebremst wurden von der Lethargie jener, die sich nur von einem Imbißstand zum nächsten bewegten, wurde ich nervös. Und schließlich schien es, als ob die Eiligen den Gaffern und Streunern erlagen und sich ebenfalls aufzuhalten begannen … übergangslos in Touristen verwandelt, in plaudernde Schwätzer, die scheinbar pflichtvergessen ihre Blicke über die Fassaden schweifen ließen, über die Monumentalquadrate der Metropolen-Architektur, über Fernsehturm und Rathaus, an den kleinen, zwischen den Betonmassiven versunkenen Kirchen vorbei, jetzt im Frühling, wo die ersten Bäume in den gerade geharkten Grünflächen schon zu blühen anfingen … all dies war mir verdächtig, mehr noch, ich fühlte mich beobachtet: immer spürte ich an der Seite einen argwöhnischen Blick und die Frage, ob mir das Treiben auf den Plätzen auch stets verdächtig genug sei. Immer wieder fühlte ich die Frage von der Seite und halb von hinten, ob ich einen Menschen ausgemacht habe, der nicht bleiben wolle … es gab Momente, in denen mir diese ewige Frage wirklich übel ankam. – Unfähig, meinen Ärger zu verbergen, hatte ich Feuerbach stehenlassen und mich in Richtung des S-Bahnhofs in Bewegung gesetzt, es war mir plötzlich gleichgültig, ob ich ihn damit brüskierte. An diesem Abend, der trübe und kalt war, sah der Alexanderplatz zu beiden Seiten der S-Bahn ziemlich unbelebt aus, das häßliche Wetter verjagte auch die letzten Fußgänger; dunkler Rauch fiel aus den ebenso dunklen Wolken zurück und vermischte sich mit der nebligen Dämmerung, die sich von der Mitte der Plätze verzog und an den Gebäuden wieder in die Höhe kroch. Nur in dem Halbdunkel dort gab es noch ein paar Leute … mitten in die freien Flächen peitschten die ersten Regensträhnen, versetzt mit Rußflocken klatschten sie auf das Pflaster, der Regen hörte wieder auf, es wurde noch dunkler, der Fernsehturm schob sich hinauf in eine dicke dunkle Suppe. Ich nutzte den Moment, um hinüber zum Bahnhofseingang zu kommen, aber schon regnete es erneut, fette schwarze Schauer prasselten auf den Beton. Wegen dem Oberleutnant, den ich hinter mir spürte, vermied ich es, in Laufschritt zu fallen, und schmutziges Wasser lief mir in die Stirn, als ich den Bahnhof endlich erreicht hatte.
Warum hauen Sie ab! hörte ich ihn keuchen, als ich schon auf der Treppe zum Bahnsteig war … offenbar war es mir endlich gelungen, ihn zu beleidigen, aber er zeigte es mir nicht. Er hielt sich eine Stufe hinter mir und blieb auch in meinem Rücken, als wir auf dem Bahnsteig standen. Während ich die wartenden Leute betrachtete – es waren verhältnismäßig wenige, es war schon Abend –, spürte ich seinen Atem am Ohr: Warum sind Sie eigentlich so überempfindlich … also, ich kann Ihnen nur raten, das zu lassen!
Wollten Sie etwa naß werden? fragte ich.
Wissen Sie was, begann er wieder, Sie sind einfach zu empfindlich in bestimmten Dingen. Und da es nun einmal Leute gibt, die immer ein bißchen für uns mitdenken … jaja, wir haben da eben so unsere Sachverständigen … könnte das Ihr Schaden sein. Weil diese Leute dafür sozusagen den siebten Sinn haben. Menschen, die zu empfindlich sind, so denkt man in der Regel bei uns, sind unzuverlässige Menschen, weil irgendwann der Moment kommt, wo sie sich von ihren Empfindlichkeiten leiten lassen.
Was für Dinge, fragte ich, sind das, bei denen ich Ihrer Meinung nach zu empfindlich bin?
Nicht meiner Meinung nach, ich kann das verkraften! Aber zu Ihrer Frage … ich habe es Ihnen schon mal angedeutet, Sie erinnern sich bestimmt. Ich habe gesagt, daß Sie über manche Dinge einfach nichts verlauten lassen. Und wir haben Schwierigkeiten, bestimmte Sachen auseinanderzuhalten, Sie wissen schon, was ich meine. Es sind meistens sogenannte Weibergeschichten, Sie machen uns da etwas vor. Und zwar aus Überempfindlichkeit … es scheint für Sie eine Katastrophe zu sein, wenn Sie mal irgendeine Lady nicht aufs Kreuz legen konnten … davon sagen Sie nichts, nein, Sie scheinen sogar zu glauben, daß es passiert ist, das scheinen Sie sogar zu glauben! Und wir hängen dann und müssen uns die Dinge zurechttüfteln. Zum Beispiel gab es da mal eine ziemlich dumme Vaterschaftsgeschichte … können Sie sich erinnern?
Dunkel … sagte ich, dunkel kann ich mich erinnern, es war überhaupt eine dunkle Geschichte. Ich fühlte mich gar nicht angesprochen, es war wohl etwas, wozu ich nicht fähig war. Ich empfand es überhaupt als eine Zumutung …
Genau das ist es, sagte er, Sie kehrten wieder mal den empfindlichen Typ hervor. Sie konnten nicht sagen, es war nichts gewesen … und Sie haben für das Kind unterschrieben …
Nein, sagte ich, dafür habe ich nicht unterschrieben!
Vielleicht doch! Und wir haben jetzt Schwierigkeiten mit Ihrer Unterschrift … die übrigens ziemlich unverkennbar ist!
Als ich endlich in der S-Bahn saß, als einziger Fahrgast in einem ganzen Wagen, lag mir Feuerbachs halblautes Dreinreden noch immer im Ohr. Woran versuchte er mich die ganze Zeit zu erinnern? Seit Monaten schnitt er dieses Thema immer wieder an, periodisch fast, aber stets überraschend für mich, so daß ich diese Augenblicke langsam zu fürchten begann. Aber er ging über Andeutungen nicht hinaus; und jedesmal ließ er mich mit dem unangenehmen Gefühl zurück, daß man oben, in den sogenannten höheren Etagen über uns, mehr von mir wisse als ich selbst. Aber wahrscheinlich war ich einfach zu empfindlich, denn selbstredend gehörte dies zu ihrer Taktik, es war billigste Polizeiroutine; man geht aus jeder Vernehmung mit diesem Gefühl hervor, ich mußte dem nicht auch noch Glauben schenken … was mich störte, war nur, daß Feuerbachs Anspielungen so lang anhaltend auf mich wirkten. – Und gerade in den Nächten, in denen ich unten im Keller vor der graugelben Betonwand auf meinem Ruhesitz hockte, gerade, wenn ich unerreichbar war für ihn, geschah es, daß sein Gerede an meinen Nerven sägte … das Klingelzeichen des Kühlaggregats hinter mir, das ich mir nur einbildete, das Schlüsselklirren hinter mir, das ich mir nur einbildete, lösten diese Beunruhigung in mir aus. Ich ging seine Andeutungen von vorn bis hinten durch … sie erschlossen sich mir nicht; eher noch geschah es, daß sie sich vor...
Erscheint lt. Verlag | 23.8.2012 |
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Reihe/Serie | Werke | Werke |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anspruchsvolle Literatur • Bericht • Berlin • Beschattung • Clemens Meyer • DDR • Erpressung • Identität • Lesung • Roman • Spitzel • Stasi • Verfolgung • Verlust • Werkausgabe • Zeitgeschichte |
ISBN-10 | 3-10-400993-7 / 3104009937 |
ISBN-13 | 978-3-10-400993-3 / 9783104009933 |
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