Ein perfekter Freund (eBook)

(Autor)

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2012 | 1. Auflage
352 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60045-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein perfekter Freund -  Martin Suter
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Durch eine rätselhafte Kopfverletzung hat der Journalist Fabio Rossi eine Amnesie von fünfzig Tagen. Als er seine Vergangenheit zu rekonstruieren beginnt, stößt er dabei auf ein Bild von sich, das ihn zutiefst befremdet. Er scheint merkwürdige Dinge getan, ein seltsames Verhalten an den Tag gelegt zu haben in jener Zeit. Aber offenbar gibt es Leute, denen es lieber wäre, jener Fabio bliebe ausgelöscht.

Martin Suter wurde 1948 in Zürich geboren. Seine Romane (darunter ?Melody? und ?Der letzte Weynfeldt?) und die ?Business-Class?-Geschichten sind auch international große Erfolge. Seit 2011 löst außerdem der Gentleman-Gauner Allmen in einer eigenen Krimiserie seine Fälle, derzeit liegen sieben Bände vor. 2022 feierte der Kinofilm von André Schäfer ?Alles über Martin Suter. Außer die Wahrheit? am Locarno Film Festival Premiere. Seit einigen Jahren betreibt der Autor die Website martin-suter.com. Er lebt mit seiner Tochter in Zürich.

[22] 3

Die ganze Zeit, in der Fabio in der Uniklinik lag, hatte sich Norina nicht blicken lassen.

Am Tag seiner Entlassung verordnete ihm Doktor Berthod Ruhe, Gedächtnistraining, Physiotherapie und ein Antiepileptikum. Letzteres prophylaktisch, wie er betonte. Normalerweise hätte er ihm auch eine möglichst vertraute familiäre Umgebung empfohlen. Aber da er Fabios Situation kannte, mied er das Thema. Statt dessen erwähnte er Fälle, in denen die Rückkehr in die Situation »vor dem ursächlichen Einflußfaktor« den Betroffenen geholfen hatte, die Erinnerung wiederzufinden.

Fabio hatte seine paar Sachen in eine schwarze Reisetasche gepackt, die man auch als Rucksack tragen konnte. Sein bevorzugtes Gepäckstück, wenn er auf Reportage war. Er trug ein kurzärmeliges Hemd, eine leichte Baumwollhose und eine Baseballmütze, um die rasierte Stelle auf dem Kopf zu verbergen. Er hatte sich nicht zum modischen Millimeterschnitt durchringen können, zu dem ihm der weißblonde Pfleger geraten hatte. Fabio mochte seine Haare. Sie waren dick und kupferrot wie die seiner Mutter und der meisten Mitglieder ihrer Familie.

Um acht Uhr hatte er sich mit Marlen in der Cafeteria der Klinik verabredet. Aber schon um halb sieben saß er an [23] einem der Kunststofftische, vor sich einen Espresso. Vielmehr das, was einem ausgehändigt wurde, wenn man am Tresen einen Espresso verlangte: die gleiche bittere, dünne Brühe, die sie hier als Kaffee verkauften, einfach in einer kleineren Tasse.

Ein Mann am Nebentisch trug den linken Arm auf die Brust fixiert und den rechten so geschient, als würde er ständig die Augen gegen die Sonne abschirmen. Seine Frau flößte ihm Fruchtsaft ein und redete dazu ohne Punkt und Komma.

Die Cafeteria war gut besucht. Gebrechliche Männer in sportlichen Trainingsanzügen, bleiche Frauen in wattierten Morgenröcken, Patienten in Rollstühlen, an Krücken oder mit ihren fahrbaren Infusionsständern im Schlepptau. Besucher und Angehörige, manche bedrückt, manche betont zuversichtlich. Ein Geräuschteppich aus Geschirrgeklapper und gedämpften Stimmen. Ein Geruch nach Krankenhaus und Milchkaffee.

Fabio hielt es nicht mehr aus. Er nahm seine Tasche vom Stuhl gegenüber und ging hinaus.

Draußen kündigte sich ein weiterer schwüler Sommertag an. Ein Mann in einem ärmellosen Netzhemd fuhr einen roten Aufsitzmäher über den Rasen des Klinikparks. Die rollstuhlgängigen Parkwege waren leer bis auf zwei eilige Krankenschwestern.

Fabio setzte sich auf eine Bank. Es roch nach frischgemähtem Gras und den Abgasen des Rasenmähers. An einem Fenster tauchte eine weiße Gestalt auf und ließ einen Store herunter.

Fabio kam sich vor wie ausgesetzt an einem fremden Ort. [24] Der Weg zurück war abgeschnitten durch eine Kluft von fünfzig Tagen und Nächten Nichts.

Eine junge Frau näherte sich auf dem Weg. Als sie ihn sah, winkte sie und begann zu rennen. Fabio winkte zurück. Er stand auf, nahm seine Tasche und ging ihr entgegen.

Als er sie erreicht hatte, blieb sie vor ihm stehen. Sie trug ein kurzes Trägerkleid aus schwarzem Leinen und lächelte unsicher.

Fabio stellte die Tasche ab und schloß sie in die Arme. Zum ersten Mal war er froh, wie war schon ihr Name? zu sehen.

Marlen steuerte ihren klapprigen 89er Golf Cabrio durch den Morgenverkehr. Sie durchquerte das Zentrum und fuhr in ein für Fabio fremdes Quartier am Stadtrand. Schmale Straßen, gesäumt von Doppeleinfamilienhäusern aus den vierziger und Wohnblöcken aus den siebziger Jahren, Tempo 30. Sie bog in eine Einfahrt, hielt bei einer Konsole und steckte einen Schlüssel in ein Schloß. Ein graues Tor öffnete sich, sie fuhren in eine Tiefgarage.

Die meisten der etwa zwanzig Plätze waren leer um diese Zeit und gaben den Blick frei auf Winterreifen, Gepäckträger, Schlitten, Teppichrollen, Gestelle, Altpapier und allerlei anderes Gerümpel.

Marlen parkte den Wagen. An der Wand vor der Stoßstange lehnten zwei Fahrräder.

»Mein Fahrrad«, sagte Fabio verwundert.

»Wird Zeit, daß es bewegt wird«, antwortete Marlen.

[25] Die Wohnung lag im zweiten Stock. Der größte Raum war eine Wohnküche. Eine Frühstückstheke trennte den Wohnteil vom kleinen Küchenteil. Dieser bestand aus einem Spülbecken, einem Herd mit drei Platten, einem Kühlschrank und ein paar kleinen Schränken. Im Wohnzimmer standen ein Ledersofa und ein Sessel. Eine Glastür führte auf einen kleinen Balkon mit einem Gartentisch und zwei Stühlen und ein paar Topfpflanzen. Von dort aus überblickte man einen Rasen mit einem Kinderspielplatz und den Garten des angrenzenden Doppelhauses.

Das Fenster zum Balkon war von einem Stahlrohr-Schreibtisch mit schwarzer Tischplatte verstellt. Darauf standen ein Printer und ein schwarzes Powerbook. Davor ein Lederstuhl auf Rädern, ebenfalls in Schwarz. Alle vier Gegenstände stammten aus Fabios Besitz.

Das Schlafzimmer ging auf den schmalen Vorgarten und die Straße hinaus. Es wurde von einem Doppelbett und einem weißen Lamellenschrank eingenommen, der fast bis zur Decke reichte. Marlen öffnete eine der fünf Schranktüren. Fabio erkannte ein paar seiner Jacketts und Hosen.

»Welcome back«, sagte sie. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und küßte ihn.

So gut es ging mit Lippen wie nach dem Zahnarzt, wenn die Spritze noch wirkt, küßte Fabio zurück. Ihr Mund war weich und ihre Zunge schmiegsam. Doch sosehr er sich auch anstrengte, der Kuß brachte keine Erinnerung zurück.

Er öffnete die Augen und sah, daß auch Marlen sie geöffnet hatte.

»Vielleicht brauchst du mehr Zeit«, flüsterte sie.

[26] Die Hitze hielt Fabio wach. Er lag auf dem Rücken und starrte an die niedrige Decke. Neben ihm lag Marlen in einem züchtigen Pyjama und schlief wie ein Kind. Das Fenster stand offen, die Nacht hatte die Luft kaum abgekühlt. Eine Straßenlaterne warf ein Rechteck bläulichen Lichts an die Wand. Ganz selten fuhr langsam ein Auto vorbei.

Eine von Fabios frühsten Kindheitserinnerungen war ein fremdes Zimmer: Sommerferien in Urbino vor bald dreißig Jahren. Sie wohnten im Haus der Großmutter. Fabio war mitten in der Nacht erwacht, und alles war fremd. Das Bett, das Licht, der Geruch, die Geräusche. Er fing an zu weinen, aber niemand kam. Er kletterte aus dem Bett und fand die Tür. Das Haus war still und dunkel. Er irrte heulend durch die fremden Räume, fand die Haustür und ging hinaus. Im Garten hörte er Stimmen. Seine Eltern, die Großmutter und ein paar fremde Leute saßen an einem Tisch, tranken und schwatzten. Er rannte schluchzend zu seiner Mutter und trommelte mit den Fäusten auf sie ein. Alle lachten.

Fabio stand leise auf und ging auf die Toilette. Er hatte es am Abend vermieden, sie zu benützen. Es war ihm unangenehm gewesen, sie befand sich im Badezimmer. Er spülte zweimal und öffnete das Fenster weit.

Im Spiegel über dem Waschbecken betrachtete er sein Gesicht. Vom Bluterguß am rechten Auge war nur noch eine gelbliche Verfärbung übrig. Der Riß in der Kopfhaut war mit ein paar schwarzen Fäden genäht, die bereits von den Stoppeln der nachwachsenden Haare überwuchert wurden. Die kleine Stelle, an der man ihm die Hirndrucksonde eingesetzt hatte, war kaum mehr zu sehen. Die rechte Gesichtshälfte fühlte sich noch immer fremd an. Und fremd kam ihm [27] auch der Mann in Boxershorts und weißem T-Shirt vor. Er paßte nicht in das Dekor aus unvertrauten Tuben, Töpfchen und Flakons.

Auf einem dreibeinigen Hocker neben dem Waschbecken lagen Fabios Sachen: elektrische Zahnbürste, Nagelschere, Kamm, Bürste, Elektrorasierer, Aftershave-Gel und Eau de Toilette. Auch sie wirkten fehl am Platz.

Fabio ging in die Küche, nahm ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Leitungswasser und trug es auf den Balkon. Er stellte sich an die Brüstung und starrte in die Sommernacht.

Zwei Birken standen an der Grenze zum Nachbargrundstück. Ihre Stämme fluoreszierten im Mondlicht.

Von einem Balkon über ihm drangen gedämpfte Stimmen, hie und da von kurzem Auflachen unterbrochen.

Eine Katze ging über den Rasen. Fabio nahm einen Schluck Wasser. Die Katze sah die Bewegung, blieb stehen, schaute zu ihm herauf und ging weiter. Beim Kinderspielplatz schnüffelte sie im Sandhaufen, buddelte ein Loch, kauerte sich darüber, scharrte im Sand und ging weiter.

Fabio hätte sich gerne eine Zigarette angesteckt. Dabei hatte er nie geraucht.

Am Morgen hörte er Marlen aufstehen und stellte sich schlafend. Sie hatte ihm gesagt, daß sie am nächsten Tag wieder arbeiten müsse. Er wollte warten, bis sie das Haus verlassen hatte.

Die Dusche lief und wurde abgedreht. Etwas später ging leise die Tür zum Schlafzimmer auf. Sofort füllte sich der Raum mit dem Duft ihres zu damenhaften Parfums. Chanel 5, wie er jetzt, wo sie das Badezimmer teilten, wußte. Er [28] hörte, wie sie sich am Schrank zu schaffen machte, und öffnete die Augen einen Spalt. Im hohen Wandspiegel sah er sie vor dem Schrank stehen. Auf ihren kleinen Pobacken hatte die Sonne ganz schwach einen Slip abgezeichnet. Über ihren schmalen Hüften sah man noch den Abdruck des Pyjamagummizugs. Sie hatte in jeder Hand einen Kleiderbügel mit einer Bluse.

Gerade als Fabio die Augen ganz öffnete, drehte Marlen sich um und ging zum Spiegel. Sofort schloß er sie wieder.

Als er sie wieder vorsichtig öffnete, hatte sich Marlen für eine Bluse entschieden. Sie war gerade lang genug, um ihn im unklaren zu lassen, ob auch die Entscheidung für ein Höschen inzwischen...

Erscheint lt. Verlag 21.2.2012
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Blackout • Gedächtnisverlust • Gentechnologie • Journalist • Kopfverletzung • Krankenhaus • Labor • Lebenskrise • Lebensmittelkontrolle • Lokführer • Psychothriller • Schweizer Autor • Skandal • Thriller
ISBN-10 3-257-60045-3 / 3257600453
ISBN-13 978-3-257-60045-2 / 9783257600452
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