Schiffstagebuch (eBook)

Ein Buch von fernen Reisen

(Autor)

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2011 | 2. Auflage
283 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74620-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schiffstagebuch - Cees Nooteboom
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In seinem neuen Buch begibt sich Cees Nooteboom - wieder - auf Reisen. Es sind Schiffsreisen, die er unternimmt, und schnell wird der Leser merken: Wer mit dem Schiff reist, reist anders. Die Langsamkeit des Schiffs überträgt sich auf die Wahrnehmung des Reisenden und führt zu einer ganz eigenen Art der Aufzeichnung. Nooteboom, der in den späten fünfziger Jahren als Leichtmatrose auf einer Fahrt in die Karibik anheuerte und seitdem Reiseberichte zu einer angesehenen literarischen Gattung entfaltet hat, nimmt den Leser in seinem neuen Buch mit auf Fahrt in zahlreiche reale, aber natürlich auch literarische und philosophische Gegenden unserer Welt. Es geht von Mauritius und Réunion nach Südafrika, über Kap Horn nach Montevideo und über Argentinien bis nach Bolivien. Andere Reisen führen ihn in die nördlichste und in die südlichste Stadt auf der Erde, nach Indien und nach Australien. Dieses mit zahlreichen Fotos von Simone Sassen ausgestattete 'Schiffstagebuch' läßt den Leser die Welt mit den Augen von Cees Nooteboom sehen - seine Reiseberichte zeugen von Erfahrung und Neugier, und sie führen uns an Orte, die wir so nie sehen würden.

<p>Cees Nooteboom wurde am 31. Juli 1933 in Den Haag geboren. 1955 erschien sein erster Roman <em>Philip en de anderen</em>, der drei Jahre sp&auml;ter auch in Deutschland unter dem Titel <i>Das Paradies ist nebenan</i> ver&ouml;ffentlicht wurde (und 2003 in der Neu&uuml;bersetzung von Helga van Beuningen unter dem Titel <i>Philip und die anderen</i> erneut eine gro&szlig;e Lesergemeinde fand). Nooteboom berichtete 1956 als junger Autor &uuml;ber den Ungarn-Aufstand, 1963 &uuml;ber den SED-Parteitag, und f&uuml;nf Jahre sp&auml;ter &uuml;ber die Studentenunruhen in Paris (gesammelt in dem Band <i>Paris, Mai 1968</i>). Seine inzwischen in mehreren B&auml;nden gesammelten Reiseberichte, die weniger Reportagen als vielmehr von genauer Beobachtung getragene, reflektierende Betrachtungen sind, festigten Nootebooms Ruf als Reiseschriftsteller. 1980 fand Nooteboom zur&uuml;ck zur fiktionalen Prosa und erzielte mit dem inzwischen auch verfilmten Roman <i>Rituale</i> (<em>Rituelen</em>) gro&szlig;e Erfolge. Sein umfangreiches Werk, das in viele Sprachen &uuml;bersetzt ist, umfasst Erz&auml;hlungen, Berichte, Gedichte und vor allem gro&szlig;e Romane wie <i>Allerseelen</i> (<em>Allerzielen</em>). Die elf B&auml;nde seiner <i>Gesammelten Werke </i>enthalten neben den bereits publizierten B&uuml;chern zahlreiche erstmals auf deutsch vorliegende Texte. Der Quarto-Band <em>Romane und Erz&auml;hlungen</em> versammelt die gesamte fiktionale Prosa des Autors.<br /> Cees Nooteboom lebt in Amsterdam und auf Menorca.</p>

Cover 1
Informationen zum Buch/Inhalt 2
Impressum 4
Schiffstagebuch 5
Motto 7
1. Über Kap Hoorn nach Montevideo. Schiffstagebuch I 9
1 11
2 13
3 17
4 21
5 29
6 32
7 34
8 65
9 70
2. Ein Tod aus Feuer und Wasser. An den Ufern des Ganges 83
3. Broome 1942. Ein niederländisches Kriegsdrama 111
4. Mexikanische Fragmente 153
Guadalajara 155
Pátzcuaro 164
Die Ruinen von Tzintzuntzan 173
Morelia 175
Abend in Mazamitla 180
Die Farben von Campeche 182
Mérida 194
Ein Abend auf dem Zócalo 196
5. Die Ruderer von Port Dauphin. Schiffstagebuch II 199
I. Mauritius 201
II. Réunion 204
III. Madagaskar 207
IV. Stellenbosch 208
V. Kap Agulhas 212
VI. Elim 214
VII. Sevilla Trail 217
VIII. Matjiesfontein 221
IX. Oudtshoorn 226
X. 229
6. Im hohen Norden 233
7. Das Zeichen des Reisenden. Balinesische Notizen 257
Ubud 265
Pulau Serangan 267
Goa Gajah 273
Legong 281
Zitatnachweis 284
Inhaltsverzeichnis 285

1


Man fliegt nicht einfach so quer über den ganzen Globus, jedenfalls nicht, wenn man an dem Ort, an dem man nach zwölfstündiger Reise landet, eigentlich nichts zu suchen hat. Die Welt existiert unaufhörlich, ununterbrochen, überall. Man sieht es schon bei der Landung, Lichter, so weit das Auge reicht, rollende Autos, Züge, ein anderes Flugzeug in der Luft. Alle wußten von der Ankunft, Zoll, Polizei, Taxichauffeure. Auf der Autobahn ins Zentrum von São Paulo kommt der Verkehr zum Erliegen. Verzweifeltes, vieltöniges Gehupe, das nach Hause will, Tuben von Lastwagen und Bussen, Trompeten und Saxophone vom Rest. Kakophonie, aber ohne Struktur, Fetzen, die durchs Gehirn irren, auf der Suche nach einem Opfer. An wie vielen Stellen der Welt steht in diesem Augenblick der Verkehr still? Die Doppelreihe qualmt und kriecht, der frühe Abend ist grau und düster, obgleich hier Sommer ist, hohe Wohnblocks, im Moment ist nichts reizvoll, hinter fernen Fenstern bewegen sich Schemen, die weißen Flecke des Fernsehens.

Es sind Augenblicke, an die man sich auf dem Sterbebett nicht erinnern will, in die Länge gezogene, eine angestaubte, leicht eklig gewordene Zeit, die am nächsten Tag wie ein alter Lumpen von einem gezogen wird, doch erst einmal schlafen, erst einmal in dieses unbekannte, ungeliebte Zimmer, das zwischen den Wänden mit der pappfarbenen Tapete, dem Badezimmer mit den diarrhöfarbenen Fliesen, dem lauwarmen Wasser aus dem Hahn und dem Radio der Nachbarn ebenfalls seit einer Ewigkeit für einen bereitsteht. Dann möchte die Zeit einen wissen lassen, daß ihr Ablauf vergiftet ist, mitten in der eigenen Nacht geht die Sonne auf, und erst Stunden später ist es Morgen. Ich bin hier schon mal gewesen und werde später zurückkehren, alles, was ich jetzt zu tun habe, ist, einen Tag lang umherzustreifen, bevor ich nach Santiago de Chile weiterreise.

Der erste, dem ich begegne, ist Cervantes. Er sitzt merkwürdig aufrecht da, zwei Beine sehr entschlossen nebeneinander auf den Boden gestemmt. Keine Übertreibung, die Zahl zwei, das Bild besteht auf diesem lächerlichen Nachdruck. Die Beine sind glatt und hoch wie Säulen, als habe der Bildhauer nicht gewußt, wie man Strümpfe gestaltet. Cervantes‘ noch junges Haupt steckt fest im Mühlkragen, ein Mann, der mit seiner Sprache auf diesen fremden Kontinent gereist ist und sich nicht darüber wundert, daß die Welt dort so geblieben ist, wie sie früher war, Kriege, wie er sie erlebt hat, Gefangenschaft, wie er sie gekannt hat, Herrscher und Sklaven, er sieht mich leicht schräg von der Seite an, als müsse er mir alles mögliche erklären, dort, unter den Palmen. Seltsamer Beruf, Standbild, immer nur dasitzen, um Menschen an etwas zu erinnern. Ob es jemanden gibt, der an ihm vorbeigeht und denkt, eigentlich müßte ich doch mal ein Buch von ihm lesen? Ich weiß nicht, ob das so funktioniert. Wir treffen uns um fünf vor dem Cervantes-Denkmal – ja, für so etwas sind Standbilder gut.

Am nächsten Tag fliege ich von der einen Küste zur anderen, über Paraná, über den Süden Paraguays, über den großen, wilden trockenen Norden Argentiniens und das gefräßige Gebiß der verschneiten Kordilleren, hinter denen Chile liegt, als gehöre es nicht zur übrigen Welt.

2


Mein Leben wird von Schriftstellern bestimmt. Abend in Santiago de Chile. Ich esse im tiefen Blau, Azul Profundo, einem Neruda-Restaurant. In Amsterdam gibt es eine Proust-Bar, ein Bordewijk- und ein Kafka-Restaurant, doch keines dieser Etablissements hat einen wirklichen Bezug zu einem Schriftsteller. Das ist hier anders. Fotos, Bugspriete, Galionsfiguren, Gedichte, alles ist da, der Dichter kann jeden Moment eintreten und die ungebetenen Gäste hinausjagen. Später gehe ich am Palast seines Freundes Allende vorbei. Da ist der berühmte Balkon von jenem letzten Foto, in meiner Erinnerung sehe ich den Mann mit dem hilflosen, etwas schief über der zu großen Brille sitzenden weißen Helm, der mit seiner Waffe heraustritt, als wolle er Pinochet vertreiben, ein Intellektueller, der sich in die Welt der Gewalt verirrt hat. Die U-Bahnstationen, an denen ich vorbeikomme, heißen Heroes und Escuela Militar, die Armee ist noch immer nicht weit. An der Alameda O‘Higgins liegt die altmodische confitería Torres, in der Allende zusammen mit allen anderen Präsidenten Chiles an der Wand hängt, würdevolle rechts oder links denkende Herren im Frack mit Schärpen und Ehrenkreuzen. Der Ober, der aussieht wie ein Schauspieler, der einen alten Minister geben soll, folgt meinem Blick und sagt: »Fueron todos presidentes, y todos murieron«, sie alle waren Präsidenten, und alle sind gestorben, und ich erwidere: »Aber nicht auf die gleiche Weise.« Er macht eine flüchtige Handbewegung, ach, was soll‘s, und versucht mir dann zu erklären, was das Wort locos bedeutet, das ich auf der Karte gesehen habe. Es steht bei den Fischgerichten, damit ist das schon mal klar, aber in Spanien bedeutet locos einfach Verrückte, und es hilft mir nicht weiter, daß er immer nur auf seine Handfläche zeigt. Doch die offene Hand ist eine Muschel und ein loco (den ich später nicht im Wörterbuch finden kann) eine Art Abalone, die sich nicht in eine Dose hat sperren lassen.

Isla Negra, Chile. Das Grab Pablo Nerudas

Nerudas Bar

Am nächsten Morgen fahre ich durch eine dürre Landschaft zur chilenischen Küste. Antonio Skármeta, einst chilenischer Exilant in Berlin, danach mein Hausherr in dieser Stadt, später chilenischer Botschafter in Deutschland, ist wieder zu dem geworden, was er war, bevor er während der Pinochet-Diktatur flüchten mußte: Schriftsteller, und er hat dafür gesorgt, daß ich Nerudas Haus auf der Isla Negra, der schwarzen Insel, besuchen kann. Von ihm stammt Mit brennender Geduld, die Geschichte von Neruda und seinem Postboten, die durch den Film Il Postino mit Mastroianni berühmt wurde.

Der Ozean ist wild an diesem Tag, man sieht von dem Haus aus, das sehr viel Ähnlichkeit mit einem Schiff hat, die Brandung gegen die Felsen schlagen. Seekarten, Himmelsgloben, Galionsfiguren mit Brüsten für die Gischt, ein fliegender Engel aus dem dunkelsten Holz, Bilder Ilja Ehrenburgs, Baudelaires, Gedichte von Du Bellay, von Leopardi, von Dante, ein Schrank mit den übergroßen Kleidungsstücken des Dichters selbst, sein Nobelpreis-Smoking, seine mächtigen Schuhe, sein großkariertes Tweedjackett, ein Flur voller Masken, die Bar, in der er seine Freunde bediente, Cocktails mit Cointreau und Kognak, die Schürze, die er dabei trug und die niemand anfassen durfte, ein Reklamebild von Old Scotch Whisky, King George IV. mit Königsmantel und Strumpfband neben dem rennenden Johnny Walker, Krüge, Gläser, Flaschen, alles um eine Nummer größer als in der normalen Welt. Sein Grab unten im Garten gleicht einem Doppelbett, dort liegt er zusammen mit Matilde Urrutia, die ihn um zwölf Jahre überlebte, ganz in der Nähe zwei riesige Anker und auf dem Grab selbst ein großer Stein, es sieht aus, als habe jemand Angst gehabt, der Dichter wolle sich nachträglich noch davonmachen. Er starb zwölf Tage nach dem Putsch. In den letzten Tagen vor seinem Tod schrieb er hier an seiner Autobiographie Confieso que he vivido, Ich bekenne, ich habe gelebt. Es sind bittere Worte über die Welt, die sein Land verraten hat, indem es diesen Staatsstreich zuließ. Mit Gewalt wurde eine demokratisch gewählte Regierung vertrieben, die versucht hatte, endlich etwas Gerechtigkeit zu schaffen: »Die Version der Angreifer lautet: sein lebloser Körper wurde mit sichtlichen Zeichen des Selbstmords gefunden. Die im Ausland veröffentlichte Fassung lautet anders. Gleich nach dem Luftbombardement traten Panzerwagen in Aktion, viele Panzerwagen, um furchtlos gegen einen einzigen Mann zu kämpfen: den Präsidenten der Republik Chile, Salvador Allende, der sie in seinem Arbeitszimmer erwartete, ohne weitere Gesellschaft als sein großes Herz, umgeben von Rauch und Flammen.« Der unfriedliche Ozean hämmert gegen die Felsen, das Geräusch der Brandung muß, wie bei Chateaubriand in Saint-Malo, bis in beider mächtiges Grab dringen. Die schönste Liebesdichtung neben fatalen Oden an Stalin, dieser Mann spielte in einem fort auf der gewaltigen Orgel seiner Sprache, die halbe spanischsprachige Welt hat seine Gedichte gestohlen, um Liebesbriefe zu schreiben. Auf einer marmornen Gedenkplatte, die »die Spanier von der Winnipeg« für ihn errichtet haben, stehen seine eigenen Worte:

todos fueron entrando al barco

mi poesía en su lucha había logrado

encontrarles patria

y me sentí orgulloso

(alle kamen an Bord/meiner Poesie war es, durch ihren Kampf, gelungen,/ein Vaterland für sie zu finden/und ich war stolz darauf ). Während des Bürgerkriegs war es Neruda und seinen Freunden wie Diego Rivera gelungen, von Paris aus ein Schiff zu chartern, auf dem spanische Intellektuelle und Künstler der Rache des Franco-Regimes entkommen konnten. Es war der Beginn einer langen Periode des Exils, das sich über die gesamte spanischsprachige Welt ausgebreitet und enorme Auswirkungen gehabt hat. Dieses Schiff war die Winnipeg.

3


Die MS Deutschland, das schöne, altmodische Schiff, auf dem ich gut zwei Wochen lang nach Kap Hoorn und weiter bis nach Buenos Aires reisen werde, liegt in Valparaíso auf Reede. 22 400 Tonnen, 175 Meter lang, Eichentäfelung, blankpoliertes Messing, nicht eines dieser modernen...

Erscheint lt. Verlag 11.7.2011
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Scheepsjournaal
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erlebnisbericht • Reisebericht • Scheepsjournaal deutsch • Schiffsreisen • ST 4362 • ST4362 • suhrkamp taschenbuch 4362
ISBN-10 3-518-74620-0 / 3518746200
ISBN-13 978-3-518-74620-2 / 9783518746202
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