Montauk (eBook)
224 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73520-6 (ISBN)
In seinem berührendsten Werk erzählt Max Frisch von einem Wochenende am Meer, von Lynn und Max und von der Vergänglichkeit der Liebe.
»Ich möchte diesen Tag beschreiben, nichts als diesen Tag, unser Wochenende und wie's dazu gekommen ist, wie es weiter verläuft. Ich möchte erzählen können, ohne irgendetwas dabei zu erfinden.« Max Frisch
Max Frisch, geboren am 15. Mai 1911 in Zürich, arbeitete zunächst als Journalist, später als Architekt, bis ihm mit seinem Roman <em>Stiller</em> (1954) der Durchbruch als Schriftsteller gelang. Es folgten die Romane <em>Homo faber</em> (1957) und <em>Mein Name sei Gantenbein</em> (1964) sowie Erzählungen, Tagebücher, Theaterstücke, Hörspiele und Essays. Frisch starb am 4. April 1991 in Zürich.
Max Frisch wurde am 15. Mai 1911 in Zürich geboren und starb am 4. April 1991 an den Folgen eines Krebsleidens in seiner Wohnung in Zürich. 1930 begann er sein Germanistik-Studium an der Universität Zürich, das er jedoch 1933 nach dem Tod seines Vaters (1932) aus finanziellen Gründen abbrechen musste. Er arbeitete als Korrespondent für die Neue Zürcher Zeitung. Seine erste Buchveröffentlichung Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt erschien 1934 in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart. 1950 erscheint Das Tagebuch 1946-1949 als erstes Werk Frischs im neugegründeten Suhrkamp Verlag. Zahlreiche weitere Publikationen folgten.
Ein Schild, das Aussicht über die Insel verspricht: OVERLOOK. Es ist sein Vorschlag gewesen, hier zu stoppen. Ein Parkplatz für mindestens hundert Wagen, zur Zeit leer; ihr Wagen steht als einziger in dem Raster, das auf den Asphalt gemalt ist. Es ist Vormittag. Sonnig. Büsche und Gestrüpp um den leeren Parkplatz; keine Aussicht also, aber es gibt einen Pfad, der durch das Gestrüpp führt, und sie haben nicht lang beraten: der Pfad wird sie zur großen Aussicht führen. Dann ist sie nochmals zum Wagen zurückgegangen. Er wartet; sie haben Zeit. Ein ganzes Wochenende. Er steht und weiß nicht, was er im Augenblick grad denkt ... In Berlin ist es jetzt schon drei Uhr nachmittags ... Er wartet sonst ungern. Es ist ihr eingefallen, daß sie, um den Atlantik zu sehen, eigentlich ihre Handtasche nicht braucht. Es kommt ihm alles etwas unwahrscheinlich vor, aber nach einer Weile sieht er es als einfache Wirklichkeit: Rascheln in den Büschen, dann ihre Hosen (das verwaschene Hellblau natürlich) und ihre Füße auf dem Pfad, hinter viel Zweigen und Ästen ihr ziemlich rotes Haar. Ihr Gang zum Wagen hat sich gelohnt: YOUR PIPE. Und dann geht sie wieder voran; sie duckt sich da und dort unter den wirren Ästen, und er duckt sich unter den selben Ästen, wenn sie schon wieder aufrecht geht noch immer durch Dickicht. Es ist eine Art von Pfad, nicht immer deutlich, ein verwilderter Pfad. Zuerst ist er vorangegangen: als Mann, der sich hier so wenig auskennt wie sie. Einmal ein sumpfiger Graben, wo er ihr hat helfen müssen, und seither geht sie voran. Das ist ihm auch lieber. Es macht ihr Freude, das zeigt ihr leichter und flinker Gang. Der Atlantik kann nicht fern sein. Hochoben eine vereinzelte Möwe. Im Gehen stopft er die Pfeife und wundert sich, ohne wissen zu wollen, worüber er sich wundert. Stellenweise riecht es nach Blüten; keine Ahnung, was da blüht; es sind fremde Gewächse. Er hat dafür gebürgt, daß er den Wagen jederzeit wieder finden werde, und sie scheint ihm zu vertrauen. Um dann die Pfeife anzuzünden, muß er kurz stehenbleiben, es ist windig, fünf Streichhölzer sind nötig, und sie ist unterdessen weiter gegangen, so daß er sie für Augenblicke nicht mehr sieht; für Augenblicke kommt es ihm wie eine Einbildung vor oder wie eine ferne Erinnerung: dieser Gang mit einer jungen Frau. Eigentlich gibt es viele Pfade oder was wie ein Pfad aussieht; deswegen ist sie stehengeblieben: Wohin jetzt? Die Landkarte, die er gestern gekauft hat, liegt im Wagen; sie würde in diesem Gelände auch nicht viel helfen. Sie gehen nach der Sonne. Kein Pfad für Gespräche. Wo einmal kein Dickicht ist, sieht man das Gelände ringsum: nicht fremd, obschon er noch nie in seinem Leben hier gewesen ist. Das ist nicht Griechenland; eine ganz andere Vegetation. Trotzdem denkt er an Griechenland, dann wieder an Sylt. Es stört ihn, daß immer Erinnerungen da sind. Sie sind schon eine halbe Stunde gegangen. Sie wollen den Atlantik sehen. Sie haben nichts anderes zu tun; sie haben Zeit. Auch ist das nicht in der Bretagne, wo er zuletzt am Meer gewesen ist vor einem Jahr. Die gleiche Küstenluft. Es kann sein, daß er das gleiche Hemd trägt, die gleichen Schuhe, alles ein Jahr älter. Er weiß, wo sie sich befinden:
MONTAUK
ein indianischer Name; er bezeichnet die nördliche Spitze von Long Island, hundertzehn Meilen von Manhattan entfernt, und er könnte auch das Datum nennen:
11. 5. 1974
Es gibt nicht nur Äste, die über den Pfad hängen, so daß man sich ducken muß; ab und zu liegt auch ein dürrer Ast auf dem Boden, dann hüpft sie darüber. Sie ist sehr schlank, nicht knochig. Ihre Bluejeans sind bis zu den Waden gekrempelt; ihr kleines Gesäß in der knappen Hose, die sie ohne Gürtel trägt, und in der Seitentasche steckt ein Kamm. Sie ist nicht größer und nicht kleiner als er, aber leicht. Ihr Haar, wenn sie es offen trägt, reicht bis zu den Hüften; jetzt hat sie es hochgeknotet, ein roter Roßschwanz, der beim Gehen pendelt. Da auf den Pfad zu achten ist, sofern das überhaupt noch ein Pfad ist, und da er zudem Ausschau hält, um vielleicht zu erraten, wo sie am besten weitergehen, um aus dem Dickicht herauszukommen, sieht er ihre Gestalt nur von Zeit zu Zeit; ihre helle Bluse in der Sonne, auch ihr Haar erscheint in der Sonne jetzt hell. Oft ist es nur noch eine Ermessensfrage, ob man weitergehen soll; kein Pfad. Manchmal macht sie einen großen Schritt, um auf einen Stein oder auf einen Baumstrunk zu gelangen; ihre langen Beine, doch ihr Schritt etwas zu groß, so daß ihr Körper nicht ohne Mühe hochkommt. Das würde sie auch machen, wenn sie allein wäre: diese scharfe Bewegung mit dem Kopf, um ihren Roßschwanz hinter die Schultern zu werfen. Ob sie an die Küste kommen, erscheint immer fraglicher. Sie gehen aber weiter. Dann wieder, eine Weile lang, sieht es aus, als gehe sie auf einem Seil, Fuß vor Fuß wie eine Seiltänzerin, wobei ihr Oberkörper schmiegsam das Gleichgewicht sucht und findet. Es sieht noch immer nicht nach Düne aus; keine Möwe am Himmel. Ein Mal bleibt sie stehen, um die Ärmel ihrer Bluse hochzukrempeln; hier in der Mulde ist es heiß; kein Meerwind. Wenn sie nebeneinander stehen wie jetzt: die sonderbare Gegenwart zu zweit. Er bemerkt, daß er seine beiden Hände in den Hosentaschen hat, die kalte Pfeife im Mund. Ihr Gesicht: er hat es nicht vergessen, aber sie trägt diese große Dunkelbrille, und ihre Augen sind nicht zu sehen. Ihre Lippen tagsüber schmal, oft spöttisch.
HOW DID I ENCOURAGE YOU?
ihre Frage nicht jetzt, sondern gestern auf der Fahrt hierher; offenbar verwundert es sie, wie es ihn verwundert, wenn er, wie jetzt, neben ihr steht.
WHEN DID I ENCOURAGE YOU?
Sein Flug ist für Dienstag gebucht.
Zuerst habe ich gemeint, sie sei die übliche Kamera-Fee, die bei solchen Gelegenheiten mitkommt, plötzlich in die Hocke geht und knipst, Wünsche hat, wie man sich setzen soll, und jedesmal, wenn man sie endlich vergessen hat, wieder knipst, einmal, zweimal, dreimal, viermal. Sie hat aber keine Kamera. Sie sitzt nur dabei und schweigt, stört nicht, während der Mann von einer erbärmlichen Zeitung eine volle Stunde lang fragt: HAVE YOU BEEN IN THIS COUNTRY BEFORE etc. Ein Interview zur Person. ARE YOU MARRIED, WHERE IN EUROPE ARE YOU LIVING, DO YOU HAVE CHILDREN etc. Das alles weiß sie nun auch, die junge Frau. Einmal nimmt sie das Telefon ab, weil sie grad daneben sitzt, und erledigt die Sache bestens; ich danke. WHAT ARE YOU GOING TO WRITE NEXT, PLAY OR NOVEL OR ANOTHER DIARY? Ich werde vergnügt, weil das immer die letzte Frage ist, mindestens die vorletzte. Ich sage der amerikanischen Öffentlichkeit: Leben ist langweilig, ich mache Erfahrungen nur noch, wenn ich schreibe. Eigentlich kein Witz; er lacht trotzdem. Sie nicht. Als ich ihr später die weißliche Zotteljacke halte, frage ich der Höflichkeit halber nochmals nach ihrem Namen. LYNN, sagt sie, als brauche ich nur den Vornamen. Ihr langes offenes Haar: das ist etwas umständlich beim Anziehen der Jacke, und ich kann da nicht helfen, das steht meiner Hand nicht zu. Eine Frage noch, die letzte: DO YOU CONSIDER YOURSELF A DOOMED MAN? Später stelle ich fest, daß sie ihre Zigaretten hat liegen lassen, ihr Feuerzeug. Es bleibt zwei Wochen lang unter der Lampe liegen, ein billiges grünes Feuerzeug.
Was habe ich hier wirklich zu tun?
Man kann ohne Mantel gehen; Ankunft bei Schneesturm, aber kurz darauf ist es wieder Frühling geworden ... Das Frauengefängnis an der Ecke, ein hoher Klotz aus braunem Backstein, ist abgebrochen worden; jetzt ein sandiger Platz, umzäunt von Drahtgeflecht, Tauben gurren im Gehege, doch können sie das Gehege jederzeit überfliegen. Sonst hat sich wenig verändert in zwei Jahren. Die kleinen Bäume in der Neunten Straße, seinerzeit gepflanzt, sind nach wie vor dünn und dürftig; sie grünen aber. (Diese Tapferkeit des Chlorophylls!) Im Drugstore, wo ich wieder frühstücke, bedient noch dieselbe Mannschaft. Die gelben Taxi, die schwarzen glänzenden Müllsäcke an der Straße, die Sirene der roten Feuerwehr. Im Hotel haben sie den alten Kunden erkannt: DID YOU HAVE A GOOD TIME? Ein anderes Zimmer als vor zwei Jahren, die Einrichtung genau die gleiche: der niedrige Tisch mit Marmor, wo man die Füße darauflegen kann, die gelben Ständerlampen, die gelben Bettdecken, der Spannteppich grün, ein Sofa in der Farbe von Jauche und nicht unbequem, zwei Fauteuils in der gleichen Farbe, das vertraute Sausen der air-conditioning, die man aber ausschalten kann; zum Teil kann man die beiden Schiebefenster öffnen, ihre morschen Rahmen hochziehen, die Scheiben sind immer schmutzig. Die niedrige Brüstung dieser Fenster; man muß aufpassen, wenn man in die Straßenkreuzung hinunterschauen will; nur in Träumen gelingt ein Fliegen aus eigener Kraft.
MAY I INTRODUCE YOU
dann überhöre ich die Namen oder vergesse sie sofort, stehe und antworte und weiß nicht immer, wem ich geantwortet habe. Warum macht man das. Es muß sein (meint der Verlag) für das Buch –
LYNN
ich könnte anrufen unter einem beruflichen Vorwand. Ein Abendessen vielleicht; sowie eine Frau mir gefällt, komme ich mir jetzt als Zumutung vor.
HUDSON:
ein paar feiste Möwen auf der Mole, Wiedersehen mit der...
Erscheint lt. Verlag | 22.5.2011 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Belletristische Darstellung • Long Island • New York • Nordamerika (USA und Kanada) • Schriftsteller • Schullektüre • Schweizer • ST 700 • ST700 • Staat New York • suhrkamp taschenbuch 700 • USA Nordosten • USA Nordosten: Mid-Atlantic States • Vereinigte Staaten von Amerika USA |
ISBN-10 | 3-518-73520-9 / 3518735209 |
ISBN-13 | 978-3-518-73520-6 / 9783518735206 |
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