Die New-York-Trilogie (eBook)

Stadt aus Glas / Schlagschatten / Hinter verschlossenen Türen

(Autor)

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2012 | 1. Auflage
416 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-46041-6 (ISBN)

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Die New-York-Trilogie -  PAUL AUSTER
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Jeder der drei Romane der «New-York-Trilogie» wirkt zunächst wie eine klassische, spannungsgeladene Kriminalgeschichte. Alle drei ziehen den Leser mit raffiniert ausgelegten «Ködern» in ihren Bann. Aber bald scheinen die vordergründig logischen Zusammenhänge nicht mehr zu stimmen. Täter werden auf rätselhafte Weise zu Opfern, Verfolger zu Verfolgten. Schritt für Schritt wird auch der unabhängige Beobachter, ob Leser oder Detektiv, in ein Spiel mit seinen eigenen Erwartungen verstrickt. Paul Austers drei große New-York-Romane in einem Band. «Eine literarische Sensation.» (Sunday Times)

Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich. International bekannt wurde er mit seinen Romanen Im Land der letzten Dinge und der New-York-Trilogie. Sein umfangreiches, vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben zahlreichen Romanen auch Essays und Gedichte sowie Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik. Am 30. April 2024 ist Paul Auster im Alter von 77 Jahren gestorben.

Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich. International bekannt wurde er mit seinen Romanen Im Land der letzten Dinge und der New-York-Trilogie. Sein umfangreiches, vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben zahlreichen Romanen auch Essays und Gedichte sowie Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik. Am 30. April 2024 ist Paul Auster im Alter von 77 Jahren gestorben.

Stadt aus Glas


Erstes Kapitel


Mit einer falschen Nummer fing es an, mitten in der Nacht läutete das Telefon dreimal, und die Stimme am anderen Ende fragte nach jemandem, der er nicht war. Viel später, als er in der Lage war, darüber nachzudenken, was mit ihm geschah, sollte er zu dem Schluss kommen, nichts ist wirklich außer dem Zufall. Aber das war viel später. Am Anfang waren einfach nur das Ereignis und seine Folgen. Ob es anders hätte ausgehen können oder ob mit dem ersten Wort aus dem Mund des Fremden alles vorausbestimmt war, ist nicht das Problem. Das Problem ist die Geschichte selbst, und ob sie etwas bedeutet oder nicht, muss die Geschichte nicht sagen.

Mit Quinn brauchen wir uns kaum aufzuhalten. Wer er war, woher er kam und was er tat, ist nicht so wichtig. Wir wissen zum Beispiel, dass er fünfunddreißig war. Wir wissen, dass er einmal verheiratet und Vater gewesen war und dass nun beide tot waren, seine Frau und sein Sohn. Wir wissen auch, dass er Bücher schrieb. Um genau zu sein, Detektivromane. Diese Werke wurden unter dem Namen William Wilson verfasst, und er produzierte ungefähr ein Buch pro Jahr, womit er genug verdiente, um in einer kleinen Wohnung in New York bescheiden leben zu können. Da er für einen Roman nicht mehr als fünf oder sechs Monate brauchte, konnte er den Rest des Jahres tun, was er wollte. Er las viele Bücher, er sah sich Gemälde an, er ging ins Kino. Im Sommer verfolgte er die Baseballspiele im Fernsehen, im Winter besuchte er die Oper. Was er aber am liebsten tat, war Gehen. Beinahe jeden Tag, ob Sonne oder Regen, heiß oder kalt, verließ er seine Wohnung, um durch die Stadt zu gehen – er ging nie wirklich irgendwohin, sondern ging einfach, wohin ihn seine Beine zufällig trugen.

New York war ein unerschöpflicher Raum, ein Labyrinth von endlosen Schritten, und so weit er auch ging, so gut er seine Viertel und Straßen auch kennenlernte, es hinterließ in ihm immer das Gefühl, verloren zu sein. Verloren nicht nur in der Stadt, sondern auch in sich selbst. Jedes Mal, wenn er ging, hatte er ein Gefühl, als ließe er sich selbst zurück, und indem er sich der Bewegung der Straßen überließ, sich auf ein sehendes Auge reduzierte, war er imstande, der Verpflichtung zu denken zu entgehen, und das brachte ihm mehr als irgendetwas sonst ein Maß von Frieden, eine heilsame Leere in seinem Inneren. Die Welt war außerhalb seiner selbst, um ihn herum, vor ihm, und die Schnelligkeit, mit der sie ständig wechselte, machte es ihm unmöglich, bei irgendeiner Einzelheit lange zu verweilen. Die Bewegung war entscheidend, die Tätigkeit, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich einfach von seinem eigenen Körper treiben zu lassen. Durch das ziellose Wandern wurden alle Orte gleich, und es war nicht mehr wichtig, wo er sich befand. Auf seinen besten Gängen vermochte er zu fühlen, dass er nirgends war. Und das war letzten Endes alles, was er je verlangte: nirgends zu sein. New York war das Nirgendwo, das er um sich her aufgebaut hatte, und es war ihm bewusst, dass er nicht die Absicht hatte, es jemals wieder zu verlassen.

Früher war Quinn ehrgeiziger gewesen. Als junger Mann hatte er einige Gedichtbände veröffentlicht, er hatte Stücke und kritische Essays geschrieben und an mehreren langen Übersetzungen gearbeitet. Aber ganz plötzlich hatte er all das aufgegeben. Ein Teil von ihm sei gestorben, hatte er zu seinen Freunden gesagt, und er wolle nicht, dass er zurückkomme, um ihn zu quälen. Damals hatte er den Namen William Wilson angenommen. Quinn war nicht mehr der Teil von ihm, der Bücher schreiben konnte, und obwohl Quinn auf mancherlei Art weiterlebte, existierte er für niemanden mehr außer für sich selbst.

Er schrieb weiter, weil er fand, dass es das Einzige war, was er tun konnte. Detektivromane schienen eine vernünftige Lösung zu sein. Es kostete ihn wenig Mühe, die verwickelten Geschichten zu erfinden, die sie erforderten, und er schrieb gut, oft ohne es zu wollen und so, als brauchte er sich nicht anzustrengen. Da er sich nicht als Autor dessen betrachtete, was er schrieb, brauchte er sich auch nicht dafür verantwortlich zu fühlen, und er musste es nicht vor sich selbst verteidigen. William Wilson war schließlich nur eine Erfindung, und obwohl er in Quinn selbst geboren worden war, führte er nun ein unabhängiges Leben. Quinn behandelte ihn mit Achtung, manchmal sogar mit Bewunderung, aber er ging nie so weit, zu glauben, dass er und William Wilson derselbe Mann seien. Aus diesem Grunde trat er auch nicht hinter der Maske seines Pseudonyms hervor. Er hatte einen Agenten, aber sie waren einander nie begegnet. Ihre Kontakte beschränkten sich auf die Post, und Quinn hatte zu diesem Zweck ein Postfach gemietet. Das Gleiche galt für den Verleger, der alle Honorare und Tantiemen durch den Agenten zahlte. In keinem Buch von William Wilson fand man je eine Fotografie des Autors oder einen biographischen Hinweis. William Wilson stand in keinem Autorenhandbuch, er gab keine Interviews, und alle Briefe an ihn wurden von der Sekretärin seines Agenten beantwortet. Soviel Quinn wusste, kannte niemand sein Geheimnis. Anfangs, als seine Freunde erfuhren, dass er das Schreiben aufgegeben hatte, fragten sie ihn oft, wie er zu leben gedenke. Er sagte allen das Gleiche: dass er Treuhandgelder von seiner Frau geerbt habe. Aber Tatsache war, dass seine Frau nie Geld gehabt hatte. Und Tatsache war auch, dass er keine Freunde mehr hatte.

Das war nun vor mehr als fünf Jahren gewesen. Er dachte nicht mehr sehr viel an seinen Sohn, und erst unlängst hatte er das Foto seiner Frau von der Wand genommen. Hin und wieder fühlte er plötzlich, wie es gewesen war, den drei Jahre alten Jungen in den Armen zu halten – aber das war, genau genommen, kein Denken, es war nicht einmal ein Erinnern. Es war eine körperliche Empfindung, ein Abdruck der Vergangenheit, der in seinem Körper zurückgeblieben war, und darauf hatte er keinen Einfluss. Solche Augenblicke kamen jetzt weniger oft, und meist schien es so, als hätte sich alles für ihn zu verändern begonnen. Er wünschte nicht mehr, tot zu sein. Andererseits kann man nicht sagen, dass er froh war zu leben. Aber zumindest war es ihm nicht mehr lästig. Er lebte, und die Hartnäckigkeit dieser Tatsache hatte ihn nach und nach zu faszinieren begonnen – so als wäre es ihm gelungen, sich selbst zu überleben, als führte er irgendwie ein posthumes Leben. Er schlief nicht mehr bei brennender Lampe, und seit vielen Monaten hatte er sich nun an keinen seiner Träume mehr erinnert.

 

Es war Nacht. Quinn lag im Bett, rauchte eine Zigarette und horchte auf den Regen, der gegen das Fenster schlug. Er fragte sich, wann er aufhören und ob ihm am Morgen nach einem langen oder nach einem kurzen Gang zumute sein werde. Ein aufgeschlagenes Exemplar von Marco Polos Reisen lag mit dem Rücken nach oben neben ihm auf dem Kopfkissen. Seitdem er vor zwei Wochen den letzten Roman William Wilsons beendet hatte, war er faul gewesen. Sein Erzähler, der Privatdetektiv Max Work, hatte eine komplizierte Reihe von Verbrechen aufgeklärt, er war einige Male zusammengeschlagen worden und nur mit knapper Not davongekommen, und Quinn fühlte sich von seinen Anstrengungen ein wenig erschöpft. Im Laufe der Jahre war ihm Work sehr nahegekommen. Während William Wilson für ihn eine abstrakte Figur blieb, war Work mehr und mehr lebendig geworden. In der Dreiheit von Personen, die Quinn geworden war, diente Wilson als eine Art Bauchredner, Quinn selbst war die Puppe, und Work war die belebte Stimme, die dem Unternehmen Sinn und Zweck verlieh. Wenn Wilson eine Illusion war, so rechtfertigte er doch das Leben der beiden anderen. Wenn Wilson nicht existierte, so war er doch die Brücke, die es Quinn erlaubte, aus sich selbst in Work hinüberzugehen. Und allmählich war Work eine Persönlichkeit in Quinns Leben geworden, sein innerer Bruder, sein Gefährte in der Einsamkeit.

Quinn nahm den Marco Polo auf und begann noch einmal, die erste Seite zu lesen. «Wir werden Gesehenes, wie es gesehen, Gehörtes, wie es gehört wurde, niederschreiben, sodass unser Buch ein genauer Bericht sei, frei von jeglicher Art von Erdichtung. Und alle, welche dieses Buch lesen oder anhören, mögen dies mit vollem Vertrauen tun, denn es enthält nichts als die Wahrheit.» Als Quinn eben begann, über den Sinn dieser Sätze nachzudenken und sich ihre selbstbewussten Behauptungen durch den Kopf gehen zu lassen, läutete das Telefon. Viel später, als er in der Lage war, die Ereignisse dieser Nacht zu rekonstruieren, erinnerte er sich, dass er auf die Uhr sah, feststellte, dass es nach Mitternacht war, und sich fragte, wer ihn um diese Zeit anrufen mochte. Sehr wahrscheinlich schlechte Nachrichten, dachte er. Er stieg aus dem Bett, ging nackt zum Telefon und nahm den Hörer nach dem zweiten Läuten ab.

«Ja?»

Eine lange Pause am anderen Ende, und einen Augenblick dachte Quinn, der Anrufer habe aufgelegt. Dann kam wie aus großer Entfernung der Klang einer Stimme, wie er dergleichen noch nie gehört hatte. Sie war mechanisch, aber voll Gefühl, kaum mehr als ein Flüstern und dennoch deutlich vernehmbar und so gleichmäßig im Tonfall, dass er nicht sagen konnte, ob sie die eines Mannes oder die einer Frau war.

«Hallo?», sagte die Stimme.

«Wer spricht dort?», fragte Quinn.

«Hallo?», sagte die Stimme wieder.

«Ich höre», sagte Quinn. «Wer spricht dort?»

«Ist das Paul Auster?», fragte die Stimme. «Ich möchte Mr. Paul Auster sprechen.»

«Hier gibt es niemanden, der so heißt.»

«Paul Auster. Vom Detektivbüro Auster.»

«Tut mir leid», sagte Quinn....

Erscheint lt. Verlag 2.4.2012
Übersetzer Joachim A. Frank
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amerikanische Literatur • bücher literatur • detektivroman • deutsche Kriminalromane • Gegenwartsliteratur • Hinter verschlossenen Türen • Klassiker • Krimi • Krimi Bücher • Krimi lokal • Kriminalgeschichten • Kriminalliteratur • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Krimis und Thriller • Krimi Thriller • last minute geschenke • Literaturklassiker • Moderner Klassiker • New York • Paul Auster • postmodern • Romane Krimis • romane neuerscheinungen 2024 • Schlaggschatten • spannende Bücher • Stadt aus Glas • the new york trilogy • US-Literatur • Zeitgenössische Literatur
ISBN-10 3-644-46041-8 / 3644460418
ISBN-13 978-3-644-46041-6 / 9783644460416
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