Der Russe ist einer, der Birken liebt (eBook)

Roman
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2012 | 1. Auflage
288 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-23921-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Russe ist einer, der Birken liebt -  Olga Grjasnowa
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Mascha ist jung und eigenwillig, sie ist Aserbaidschanerin, Jüdin, und wenn nötig auch Türkin und Französin. Als Immigrantin musste sie in Deutschland früh die Erfahrung der Sprachlosigkeit machen. Nun spricht sie fünf Sprachen fließend und ein paar weitere so 'wie die Ballermann-Touristen Deutsch'. Sie plant gerade ihre Karriere bei der UNO, als ihr Freund Elias schwer krank wird. Verzweifelt flieht sie nach Israel und wird schließlich von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt. Mit perfekter Ausgewogenheit von Tragik und Komik und mit einem bemerkenswerten Sinn für das Wesentliche erzählt Olga Grjasnowa die Geschichte einer Generation, die keine Grenzen kennt, aber auch keine Heimat hat.

Olga Grjasnowa, geboren in Baku, Aserbaidschan. Sie lebt als Professorin an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Längere Auslandsaufenthalte in Polen, Russland, der Türkei, den USA und Israel. Sie hat bislang einen Essay und vier Romane veröffentlicht, zuletzt 2020 'Der verlorene Sohn'. Ihre Werke wurden in 15 Sprachen übersetzt, fürs Radio und die Bühne adaptiert und verfilmt.

II.


Am Informationsschalter saß eine Krankenschwester, die trotz der Hitze einen langen Pullover trug. Ihre Blässe exponierte ihr flammenfarbenes Haar, das im Nacken streng zu einem Dutt zusammengebunden war. Sie lächelte süßsauer und meinte, ich solle mir keine unnötigen Sorgen machen und von weiteren Nachfragen absehen. Ich war den ganzen Weg zum Krankenhaus gerannt, so dass ich nun schweißgebadet und mit rotem Kopf vor ihr stand und keine Luft bekam. Elias wurde operiert.

Ich setzte mich in den Warteraum. Im Hintergrund lief das Radio. Ich übersetzte die Nachrichten simultan ins Englische, die Werbung ins Französische. In Kabul hatte es eine Explosion gegeben, in Gaza fielen Schüsse und in Portugal brannten die Wälder. Die Kanzlerin machte Staatsbesuch. Ich blätterte in einer veralteten Vogue und verwartete die Mode. Handtaschen. Schmuck. Lidschatten. Was auch immer. Ich las über die Trends des letzten November, Pelze und florale Muster. Dann riss ich die erste Seite aus, faltete sie zusammen und steckte sie in meine Tasche. Ich riss die Seite drei aus, faltete sie zusammen und steckte sie in meine Tasche. Auch Seite fünf riss ich aus, faltete sie zusammen und steckte sie in meine Tasche. Für Seite hundertsieben gab es keinen Platz mehr in meiner Tasche.

Ein Arzt kam lächelnd auf mich zu. Er war groß und hatte ein breites Kreuz, seine Haare waren akkurat nach hinten gekämmt. Zur Begrüßung legte er meine Hand in seine, wobei er sie einen Augenblick zu lange festhielt. Seine Augen waren braun und wach. Der Geruch von Desinfektionsmittel, Fäulnis und alten Menschen schlug mir entgegen. Ich schnappte nach Luft. Der Arzt wiederum legte seine Hand auf meinen Arm, die Aufdringlichkeit dieser Geste erstaunte mich. Er sagte etwas, doch ich verstand ihn nicht und musste nachfragen.

»Sprechen Sie Deutsch?«, fragte er langsam und überdeutlich artikuliert.

»Natürlich«, antwortete ich.

»Ich bin Weiß. Assistenzarzt Weiß. Sind Sie eine Familienangehörige von Elias Angermann?«

»Ich bin seine Freundin.«

»Dann darf ich eigentlich nicht mit Ihnen reden.«

»Das wird doch wohl kein Problem sein.«

Er überlegte eine Weile lang, wobei die Entscheidung ihm sehr schwer zu fallen schien. Schließlich nickte er und sagte: »Nun gut. Wie heißen Sie denn?«

»Maria Kogan.«

Er betrachtete mich von unten bis oben. »Ihr Nachname ist ein wenig kompliziert, darf ich Sie Maria nennen?«

»Nein.«

Er zuckte mit den Schultern und erklärte mir im Crescendo, dass bei Elias ein Fermurnagel eingesetzt worden ist, ein intramedulläres Schienenimplantat, dass sie Metallplatten am Oberschenkelknochen angebracht haben und Elias viel Blut verloren hat. Auf seinem Arztkittel waren Blutspritzer zu sehen, und ich fragte mich, ob es Elias’ Blut war oder das des Patienten davor. Ich nickte und zog die Tür des Aufwachzimmers an mich heran. Die Heilung sei langwierig, hallte es hinter mir nach.

Das Zimmer war leer, bis auf ein Bett, das umzäunt war von Monitoren, Schläuchen und einem einzigen Stuhl. Die Gardinen waren zugezogen, ich öffnete sie einen Spaltbreit, und auf den Boden fiel ein langer Lichtstreifen. Ich legte meine Hand auf das Gitter seines Bettes. Sein Gesicht war fahl, als ob kein Tropfen Blut mehr in seinem Körper war. Auf den Lippen hatte sich eine dünne weiße Kruste gebildet. Er murmelte meinen Namen und sah an mir vorbei. Aus seinem Oberschenkel ragte ein Drainageschlauch heraus.

Ich beugte mich herunter, der Geruch von kaltem Schweiß stieg mir in die Nase. Ich küsste seine Stirn, streichelte über sein Haar. Er stöhnte. Ich streckte meine Hand nach seiner aus, doch dann sah ich den Infusionszugang in seinem Handrücken, zögerte und zog meine Hand zurück.

»Es geht mir nicht gut«, sagte Elias so leise, dass es unmöglich mir gelten konnte, und mir fiel plötzlich ein, wie er vor langem festgestellt hatte, es gäbe nur zwei Schulen, die Alte und die Frankfurter.

Ich blieb bis zum späten Abend. Elias wandte fiebrig seinen Kopf von einer Seite auf die andere. Nur manchmal drang ein »Bist du noch da?« durch seinen unruhigen Dämmerschlaf hindurch.

Am Abend kochte ich mir eine Fertigsuppe und rief seine Eltern an. Keiner hob ab. Ich überlegte, ob ich Elke auf dem Handy anrufen sollte, aber dann hörte ich mich schon aufs Band sprechen. »Hier ist Mascha. Hallo.« Ich machte eine Pause, biss mir auf die Lippe. »Elias ist beim Fußballspielen ausgerutscht. Der Oberschenkelknochen ist gebrochen. Er liegt im Krankenhaus.« Die Sätze kamen nur schwer heraus, seit einem Jahrzehnt war es mir nicht mehr so schwergefallen, Deutsch zu sprechen, wie an diesem Abend. Elke rief mitten in der Nacht zurück. Ob es schlimm sei. Nein, versicherte ich ihr. Sie könne die Wirtschaft nicht alleinlassen. Jeden Abend sei voller Betrieb. Ich sagte, ich sei da. Sie versuche so schnell wie möglich zu kommen, sagte Elke. Ich bin ja da, sagte ich.

Ich packte eine Tasche für Elias, faltete Unterwäsche, T-Shirts und den einzigen Pyjama, den er besaß, zusammen, legte auch seinen Kulturbeutel, seine Kamera, einen Zeichenblock und Kohlestifte hinein.

Die Zimmernachbarn sahen sich Nachmittagstalkshows an. Die Fernsehergeräusche vermischten sich mit Gesprächsfetzen und Gelächter, mit dem Rascheln von Bonbonpapier und Zeitschriften, mit dem Quietschen von Schuhen und dem Rollen von Essenswagen auf dem Korridor.

Elias lag in der Mitte, sein Bett wurde von zwei weiteren Krankenbetten flankiert. Neben jedem Bett stand ein kleiner Tisch. Auf den Tischen seiner Bettnachbarn türmten sich Schokoriegel, aufgerissene Kekspackungen, Gummibärchentüten, Bonbons, Sudoku-Hefte, Zigaretten und Zeitschriften. Ich wünschte allen einen Guten Tag, wurde aber nicht beachtet.

Elias lag blass und mit glanzlosen Augen im Krankenbett. Ich setzte ein Lächeln auf und ging auf ihn zu. Die Reisetasche stellte ich neben seinem Tisch ab und zählte dann auf, was ich mitgebracht hatte. Wie Weihnachten, scherzte Elias erschöpft.

Von Medikamenten betäubt, hatte Elias die meiste Zeit über geschlafen und sich kaum bewegt. Nur ein- und ausgeatmet. Ich saß neben seinem Bett, schälte saure Äpfel, Birnen und eine Mango, deren Saft an meinen Fingern klebte. Ich trank Kaffee und verschwand im Bad, wo ich mir kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, um die Tränen und die Kopfschmerzen abzuwehren. Der Vormittag und der Nachmittag vergingen. Die Sonne ging qualvoll langsam unter, draußen wurden die Schatten länger, und Elias’ Hand lag in meiner.

Am nächsten Morgen fotografierte er schon das Krankenzimmer, seine Wunde und mich, die seine Wunde nicht ansehen konnte. Die Bettnachbarn wollten ebenfalls vor die Linse. Sie hatten zusammen Karten gespielt und drängten uns nun ein Gespräch auf. Ein Profi, das dürfe man sich doch nicht entgehen lassen, sagte Heinz, als er erfuhr, dass Elias Fotografie studiert hatte.

Heinz hatte gedient und Rainer war Schlosser. Heute würden sie einiges anders machen. Nicht viel, natürlich nicht viel. Der linke Bettnachbar räusperte sich und sagte, er müsse mir ein Kompliment machen, ich könne besser Deutsch als alle Russlanddeutschen, die er bisher auf dem Amt getroffen habe, dabei hatte ich noch fast gar nichts gesagt. Heinz fing von seiner Kriegsgefangenschaft an – bis Elias ihn bat, leise zu sein. Dann bat Elias auch mich, leise zu sein.

Es war heiß und stickig, der Asphalt reflektierte die Hitze, selbst nachts kühlten die Straßen nicht ab. Ich stieg vor dem Krankenhaustor von meinem Rad ab und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ich schob mein Fahrrad eine Weile neben mir her, die Fahrradständer waren alle voll. Dann sah ich doch noch einen freien Platz, quetschte mein Rad hinein, das grüne links von mir fiel um, ich richtete es umständlich wieder auf.

Das Krankenhaus war ein langgezogener Flachbau mit Steinplattenfassade inmitten eines ruhigen Wohnviertels mit Tempolimit – ein vollkommen ehrgeizloses und auf medizinische Funktionalität ausgerichtetes Bauwerk. Der Assistenzarzt, der am Tag zuvor Elias’ Drainagen entfernt hatte, hockte vor dem Eingang zur orthopädischen Station und rauchte. Er hatte dunkle Augenringe und zerzaustes Haar. Ich hatte ihn schon gestern Nachmittag im Krankenhaus beobachtet, und er sah nach einer durchgearbeiteten Nacht aus. Er nickte mir zu, und ich wurde langsamer, bis ich unschlüssig vor ihm stehen blieb. Er streckte mir seine Zigarettenschachtel entgegen, die hellblau und mit arabischen Buchstaben beschriftet war. Ich bot ihm ein Croissant an. Er atmete den Rauch aus und griff in die Tüte. Die Haut an seiner Hand war rau, seine Nägel waren gelblich vom Tabak.

»Sind Sie vor kurzem auf Filterzigaretten umgestiegen?«

»Eigentlich nicht. Ich habe sie von einem Patienten.« Er sah auf die Schachtel hinunter, drehte sie mehrmals herum und fuhr mit dem Daumen über die arabischen Buchstaben, als ob er sie gerade erst bemerkt hätte.

»Ich kann es nicht lesen«, sagte er.

Ich übersetzte ihm das Geschriebene.

Er seufzte und ließ die Schachtel nicht aus den Augen.

»Der Patient, gestern Nachmittag gestorben. Wir rauchen gerade seine letzten Zigaretten auf.«

Ich verschluckte mich am Zigarettenrauch und musste husten.

Er drehte die Schachtel noch ein paarmal hin und her, bis er sie schließlich zurück in seine Hosentasche steckte. Dann biss er den Croissantzipfel ab, Brösel fielen wie Schuppen auf seinen Kittel, und er musterte abwechselnd mich und sein...

Erscheint lt. Verlag 6.2.2012
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 21. Jahrhundert • Deutschsprachige Literatur • Israel • Migration
ISBN-10 3-446-23921-9 / 3446239219
ISBN-13 978-3-446-23921-0 / 9783446239210
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