Das Labyrinth der Träumenden Bücher (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2011
432 Seiten
Knaus (Verlag)
978-3-641-05673-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Labyrinth der Träumenden Bücher - Walter Moers
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Nehmt euch in Acht: Gefährlicher können Bücher nicht sein!
Hildegunst von Mythenmetz, der größte Schriftsteller Zamoniens, suhlt sich auf der Lindwurmfeste in seinem Erfolg. Da erreicht ihn ein mysteriöses Schreiben, das ihn verlockt, dem Wohlleben Adieu zu sagen und nach Buchhaim zurückzukehren, der »Stadt der Träumenden Bücher«. Dort trifft er auf eine neuerbaute Stadt, die vor Leben rund um das Buch nur so vibriert. Und er begegnet alten Freunden, wie dem Lindwurm Ovidios und den Antiquaren Hachmed Ben Kibitzer und Inazea Anazazi, aber auch neuen Phänomenen und Wundern der Stadt.

Walter Moers ist der Schöpfer des fantastischen Kontinents Zamonien und des dort lebenden Erfolgsschriftstellers Hildegunst von Mythenmetz, dessen Werke er vorgibt seit 1999 ins Deutsche zu übersetzen. Dazu gehören u.a. »Die 13 ½ Leben des Käpt´n Blaubär«, »Die Stadt der Träumenden Bücher« und »Die Insel der Tausend Leuchttürme«. Er ist darüber hinaus der geistige Vater von Käpt´n Blaubär, dem Kleinen Arschloch, dem Alten Sack, von Adolf, der Nazisau, dem Fönig und vieler anderer populärer Charaktere. Moers ist eines der großen Multitalente sowohl als Zeichner als auch als Schriftsteller als auch als Drehbuchautor. Seine Auflagen gehen in die Millionen, die Filme nach seinen Büchern waren Blockbuster. Er hat den Grimme- und den Fantastik-Preis gewonnen und wird - weit über den deutschen Sprachraum hinaus - vom breiten Publikum ebenso geschätzt wie von den Feuilletonisten: für seine überbordende Fantasie, seine Fabulierkunst und seinen mal feinen, mal anarchischen Humor.

Das Blutige Buch

In der Dämmerung des nächsten Morgens stahl ich mich wie ein Dieb aus der Lindwurmfeste. Niemandem begegnen, keine Erklärungen abgeben, keine Abschiedsszenen provozieren – das war unter Lindwürmern kein Akt der Feigheit, sondern ein Gebot der Höflichkeit. Wenn ich behaupte, dass ich sentimentale Szenen in der Literatur durchaus schätze, in der Wirklichkeit aber strikt ablehne, dann gilt das auch für meine Artgenossen. Vielleicht liegt es daran, dass wir Lindwürmer unsere Gefühle zum größten Teil in unserer dichterischen Arbeit ausleben können. In Gesellschaft und im persönlichen Umgang untereinander sind wir überdurchschnittlich beherrscht, kühl, höflich, ja beinahe förmlich. Ein Abschied, zumal einer für längere Zeit, gehört zu den unangenehmsten Dingen, die sich ein Lindwurm vorstellen kann. Daher bin ich sicher, dass meine Freunde und Verwandten mir nachträglich dankbar waren, ihnen die Peinigung einer Abschiedsszene erspart zu haben.

Ich spazierte unbehelligt die leere Hauptstraße hinab, die sich in einer Spirale vom Gipfel der Feste bis zu ihrem Sockel windet, auf taufeuchtem Pflaster vorbei an geschlossenen Fensterläden, hinter denen ahnungslose Lindwürmer friedlich schnarchten. Ich warf einen kurzen Brief mit hexametrischen Abschiedsversen, die ich in der Nacht verfasst hatte, in den Rinnstein und adressierte ihn damit an die ganze Gemeinde. So folgte ich einem uralten Brauch, der Verabschiedungen von der Lindwurmfeste auf poetische Weise regelt. Das Risiko, dass der Wind meine Zeilen ungelesen über die Zinnen meiner Heimstatt wehte oder ein Regenguss die Tinte verwischte, gehörte dazu. Wir mögen eine emotional verkrüppelte Rasse sein, wir sind aber nicht ohne Sinn für das Dramatische.

Es wurde schon hell, obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war. Wann hatte ich eigentlich zum letzten Mal einen Sonnenaufgang erlebt? Keine Ahnung! Viel zu lange bereits hatte ich das wahre Leben verschlafen! Ich fühlte mich fast wie damals, als ich zum ersten Mal nach Buchhaim gereist war: übergewichtig, übernächtigt, überdrüssig, in denkbar schlechter geistiger und körperlicher Verfassung, aber auch in beinahe kindlicher Vorfreude auf die anstehenden Ereignisse und Abenteuer. Definiert man so nicht einen Neubeginn?

Nachdem ich die Lindwurmfeste verlassen hatte, wanderte ich über die öde Steinwüste, die sie in allen Himmelsrichtungen umgibt. Ich durchquerte dichte graue Nebelbänke, die aussahen wie Regenwolken, die vom Himmel gefallen waren. Die Sonne war jetzt aufgegangen, aber sie wärmte mich nicht. Wieder und wieder musste ich den feigen Impuls bekämpfen, mich auf dem Absatz umzudrehen und in den sicheren heimatlichen Fels zurückzukehren, der aufgrund seines vulkanischen Untergrundes selbst im Winter wohlige Wärme verströmt und auf einen Lindwurm eine Anziehungskraft hat wie der warme Ofen auf die Katze.

Was zum Henker wollte ich eigentlich in Buchhaim? Diese Stadt hatte mich schon einmal fast umgebracht. Mir war es auf der Feste doch blendend ergangen. Das bisschen Übergewicht hätte ich auch mit einer Diät in den Griff bekommen. Ich war kein junger Lindwurm von siebenundsiebzig Jahren mehr, der alle existenziellen Ängste durch juvenilen Optimismus ersetzen konnte, ich war eigentlich viel zu vernünftig geworden für so ein Abenteuer. Oder sollte ich besser sagen: viel zu alt? Zwischen meinen beiden Reisen nach Buchhaim waren über zweihundert Jahre vergangen. Zwei Jahrhunderte! Der Gedanke ließ mich noch heftiger frösteln.

Gibt es eigentlich ein Wort für diese Form von Zerrissenheit, die einen ergreift, wenn man im Begriff ist, eine längere Reise anzutreten, es aber immer noch bleiben lassen könnte? Der Geist scheint sich dann in zwei Hälften zu spalten: In eine wagemutige und jugendliche Hirnhälfte, die mutig, neugierig und abenteuerlustig aus den gewohnten Verhältnissen ausbrechen will. Und in eine risikoscheue, bequeme und gereifte Hälfte, die sich am liebsten ängstlich an die gewohnte Umgebung klammern möchte. Aber kurz nachdem ich beschlossen hatte, diese gebremste Reiselust Invakanz zu nennen, verflog sie mit jedem Schritt an der frischen Luft wie ein leichter Kopfschmerz. Lag der Bannkreis der Lindwurmfeste endlich hinter mir?

Und überhaupt: Hatte ich eigentlich meine unverzichtbaren Ohrenstöpsel dabei, ohne die ich unmöglich Schlaf finden konnte? Schon gar nicht in wildfremder Umgebung voller unvertrauter Geräusche? Meine Tabletten gegen Magenübersäuerung, die mich schon ereilte, wenn ich zu viel Kaffee trank? Genug Geld? Einen Notizblock? Landkarte, Fieberthermometer, mein Adressbuch, Halspastillen? Lesemonokel, Bleistifte, Klappmesser, Kompass, den zamonischen Reisepass? Herbergsregister, Schnupftuch, Zahnbürste, Augentropfen, Rosenöl, Brandsalbe, Zahnseide, aromatisierte Schlämmkreide zur Mundhygiene? Als ich die zahlreichen Taschen meines Reisemantels und den Reisesack durchwühlte, fand ich noch Streichhölzer, drei Kerzen, Pfeife und Tabakbeutel, Migränepulver, Nadel und Faden, eine Dose Fettcreme, Natronpulver und Kohletabletten. Ah, hier: die Ohrenstöpsel! Ferner Ringdudlers Miniaturlexikon der altzamonischen Literatur, Trockentinte, eine Krallenschere, Siegellack, zwei Radiergummis, Briefmarken, Hustentropfen, Baldrianpillen, Hühneraugen-Pflaster und Mullbinde, eine Pinzette ... Herrje, wozu benötigte ich auf einer Reise nach Buchhaim denn eine Pinzette? Ach ja: In letzter Minute hatten mich Phantasien von winzigen Splittern oder Bienenstacheln heimgesucht, die man sich auf so einer Wanderung einfangen und nur mit einem Präzisionsinstrument entfernen konnte, bevor sie eine tödliche Blutvergiftung verursachten. Im Gewühle geriet mir auch ein Bündel zerknülltes Papier in die Finger – der Brief, der mich zu dieser Reise bewogen hatte.

Jetzt endlich blieb ich stehen und versuchte, meine Nerven zu beruhigen. Richtig, es gab einen Grund für diese Reise. Dieser Brief, dessen Seiten ich nun glattstrich, bevor ich ihn wieder zusammenfaltete. Kam er aus den Labyrinthen von Buchhaim? Stammte er tatsächlich aus der Ledernen Grotte – der Heimat der Buchlinge? Und wollte ich das wirklich herausfinden? Blödsinn! Nicht um alles in der Welt würde ich jemals wieder einen Fuß in diese Unterwelt setzen. Es gab Dutzende von triftigeren Gründen für meine Reise! Überdruss, Reiselust, Langeweile, Höhenkoller, Übergewicht, und außer Bequemlichkeit gab es kein einziges Argument dafür, zur Lindwurmfeste zurückzukehren. Dies war nicht die kopflose Flucht eines Jünglings ins Ungewisse, so wie damals. Beim Orm, ich war immerhin Hildegunst von Mythenmetz! Ein gestandener Schriftsteller mit solider Karriere, und ich hatte das Ziel meiner Reise schon einmal ausgiebig erkundet. Was sollte denn schon passieren?! Damals hatte ich mir unter wesentlich ungünstigeren Voraussetzungen erheblich mehr zugemutet. Das hier war doch nur ein Spaziergang, eine biographische Fußnote. Eine Forschungsreise. Kleine Recherche. Luftveränderung. Ein Spaß. Und diesmal würde ich den jugendlichen Übermut durch Erfahrung und Reife ersetzen. Auf keinen Fall blauäugig in jede ausgelegte Falle tappen, wie der Grünschnabel von vor zweihundert Jahren. Und bitteschön, was für Fallen sollten das denn sein? Niemand wusste von meinem Kommen. Und solange ich die Kapuze meines Mantels aufbehielt, konnte sich sogar der populärste Dichter Zamoniens in der Stadt der Träumenden Bücher inkognito und unbehelligt herumtreiben, solange es ihm gefiel.

Diese Überlegungen beschwichtigten mich spürbar. Ich stopfte den Brief in meinen Mantel zurück, ordnete den Inhalt meiner durchwühlten Taschen und hielt plötzlich das Blutige Buch in Händen. Richtig, auch das hatte ich, einem plötzlichen Impuls gehorchend, eingepackt. Warum eigentlich? Nun, in erster Linie wollte ich es zurücktragen in die Stadt, der es eigentlich gehörte. Die grässliche Schwarte befand sich zwar nun seit zwei Jahrhunderten in meinem Besitz, aber ich hatte nie das Gefühl gehabt, dass das Buch mir wirklich gehörte. Ich hatte es damals den Flammen entrissen und vor der sicheren Vernichtung gerettet. Aber machte diese Tat das Blutige Buch zu meinem Eigentum? Ich hatte nicht mehr Anspruch darauf als ein Plünderer, der während einer Katastrophe ein fremdes Haus ausraubt. Ich hatte es seither ja nicht einmal gelesen! Es war mir einfach unmöglich. Jedes Mal, wenn ich es aufzuschlagen wagte, konnte ich höchstens einen einzigen Satz daraus lesen – insgesamt waren es genau drei gewesen –, und schon hatte ich es voller Entsetzen wieder zugeklappt, um es dann jahrelang unberührt zu lassen.

Ich wollte es endlich wieder loswerden, das verwunschene Ding! Aber natürlich konnte ich es nicht einfach fortwerfen. Es war enorm kostbar und stand weit oben auf der Goldenen Liste, der Rangordnung der wertvollsten antiquarischen Bücher von Buchhaim, ja es war eines der begehrtesten antiquarischen Bücher überhaupt. Das schuf eine gewisse Verantwortung. Vielleicht gelang es mir, in der Stadt der Träumenden Bücher einen Käufer dafür zu finden. Und wenn nicht, dann würde ich es der Städtischen Bibliothek von Buchhaim spenden. Genau – das würde ich tun. Ich fügte den Gründen für meine Reise eine gute Tat hinzu. Schlagartig fühlte ich mich erleichtert. Ich steckte die schreckliche Schwarte wieder ein.

Die letzten Nebel verdampften in der Mittagssonne, deren Strahlen nun endlich mein Gesicht wärmten, und ich schritt...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2011
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuer • Buchhaim • eBooks • Fantasy • High Fantasy • Hildegunst von Mythenmetz • Humor • Kult • lustig • lustige • Rätsel • Reihe • Roman • Schriftsteller • Serie • Träumende Bücher • Zamonien
ISBN-10 3-641-05673-X / 364105673X
ISBN-13 978-3-641-05673-5 / 9783641056735
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