Ich bin eine Deutsche aus Afghanistan (eBook)

Von der Drachenläuferin zur Unternehmerin

(Autor)

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2010 | 1. Auflage
320 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400819-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich bin eine Deutsche aus Afghanistan -  Nadia Qani
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»Eigentlich habe ich überall als Putzfrau angefangen.« Der Weg einer Frau, die keine Widerstände kennt, von der Asylbewerberin bis zur erfolgreichen Unternehmerin Nadia Qani ist 20 Jahre alt, als sie Afghanistan aus politischen Gründen verlassen muss. Mit nicht mehr als einer Handtasche und einem dünnen Kleid kommt sie schließlich in Frankfurt an, wo ihr Mann schon auf sie wartet. Die junge Familie muss ganz von vorne anfangen. »Arbeiten bis zum Umfallen« wird ihr Weg, sich in die neue Gesellschaft einzugliedern, »Es ist, wie es ist, also mache etwas daraus« ihr Lebensmotto. Nadia Qani erzählt davon, wie sie sich emporgearbeitet hat bis zur erfolgreichen Unternehmerin, vor allem aber auch davon, wie sie durch ihr soziales Engagement afghanische Frauen in Deutschland unterstützt und ihre Mitarbeiter fördert - und von dem zurückgibt, was ihr selbst Gutes widerfahren ist. Ihre Lebensgeschichte ist nicht nur ein Beispiel für gelungene Integration, sondern die Erfolgsgeschichte einer energiegeladenen, willensstarken Unternehmerin mit einem großen Herzen für andere.

Nadia Qani, 1960 in Kabul/Afghanistan geboren und mit dem ältesten Sohn einer Familie aus der Oberschicht verheiratet, musste 1980 das Land verlassen. Sie floh über Pakistan und London nach Deutschland. Angekommen in Frankfurt, stand die junge Familie vor dem Nichts. Nadia Qani arbeitete u.a. als Kassiererin im Baumarkt, als Putzfrau und als Bürokraft, zog nebenbei zwei Söhne groß. Und sie arbeitete sich langsam aber sicher nach oben. 1993 gründete sie einen Pflegedienst. Nadia Qani wurde für ihre unternehmerische und soziale Leistung mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2009 mit dem Bundesverdienstkreuz.

Nadia Qani, 1960 in Kabul/Afghanistan geboren und mit dem ältesten Sohn einer Familie aus der Oberschicht verheiratet, musste 1980 das Land verlassen. Sie floh über Pakistan und London nach Deutschland. Angekommen in Frankfurt, stand die junge Familie vor dem Nichts. Nadia Qani arbeitete u.a. als Kassiererin im Baumarkt, als Putzfrau und als Bürokraft, zog nebenbei zwei Söhne groß. Und sie arbeitete sich langsam aber sicher nach oben. 1993 gründete sie einen Pflegedienst. Nadia Qani wurde für ihre unternehmerische und soziale Leistung mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2009 mit dem Bundesverdienstkreuz.

2. Kapitel KINDERSPIELE


Meine Mutter hatte es nicht leicht mit mir. Ich war mehr Junge als Mädchen und ziemlich unternehmungslustig, vor allem, nachdem mein Arm so weit verheilt war, dass ich wieder herumtollen konnte. Schließlich gab es ja auch unser neues Viertel zu erkunden. Naubade de Afghanan lag an einem Berghang, ungefähr auf der Mitte. Die Häuser standen dicht nebeneinander, die Straßen waren enger, als ich es bis dahin kannte. Die steile Lage am Berg machte es für die älteren Leute oft sehr anstrengend, zu ihren Häusern zu gelangen. Aber für uns Kinder ergab sich dadurch im Winter ein besonderes Vergnügen: Wir klemmten uns ein Stück Plastik unter den Po, und dann rutschten wir mit Geschrei und Gejuchze um die Wette die vereisten Gassen hinunter.

Ob Winter oder Sommer, ich war dauernd unterwegs, und es zog mich sehr oft zu meiner großen Liebe. Vielleicht sehnte ich mich nach einem großen Ziel und einem festen Halt, nachdem mein Vater gestorben war, vielleicht war ich aber auch nur begeistert von der Schönheit meiner Freundin: Ich war verliebt in die Sonne.

Sooft ich konnte, bin ich morgens in der Dämmerung aus dem Haus gelaufen, hoch hinauf auf den Berg. Ich flitzte durch die engen Gassen, wo schon der frühmorgendliche Betrieb in Gang war. Die Händler brachten ihre Waren auf Karren zu den Läden, Menschen gingen zur Arbeit oder zum Markt. Zwar existierte durchaus Autoverkehr in Kabul, aber durch unsere Straßen fuhr nur selten ein Fahrzeug. Straßenlaternen gab es nicht, die meisten Leute hatten eine Petroleumlampe in der Hand. Ich brauchte keine, ich fand meinen Weg auch so, unter dem Licht, das aus den Lampen der anderen Fußgänger fiel. Oft warf mir einer einen Gruß zu: »Schau an, Nadia ist mal wieder unterwegs.« Oder: »Da ist ja unsere Frühaufsteherin wieder, bleib doch lieber in deinem warmen Bett.« In unserem Viertel kannte jeder jeden, und alle passten auf, dass mir nichts passierte.

Ich hatte meine Lieblingsstelle, und dort erwartete ich den Sonnenaufgang. Es war für mich das Schönste, was ich mir denken konnte. Ich fieberte dem Moment entgegen, in dem sich die Sonne als kleiner glutroter Streifen über den schneebedeckten Gipfeln ankündigte und von einer Sekunde auf die andere alles, was bis dahin grau war, Farbe annahm, erst ganz zart, noch kaum von der Dämmerung zu unterscheiden, aber dann immer kräftiger erstrahlte. Die Erscheinung war jedes Mal gleich, dennoch war ich aufs äußerste gespannt, wann sich der leuchtende Streifen rundete, zu einem Halbkreis formte und sich schließlich wie in einer enormen Kraftanstrengung als gleißend gelb-orange Scheibe von der Silhouette der Berge löste und in den Himmel stieg. Ich schaute von meinem Hochsitz auf Kabul hinunter, auf die engen Gassen der Altstadt mit den schönen Herrenhäusern und auf die neuen Viertel, in denen mehrstöckige moderne Bauten um die Wette wuchsen. Ich kam mir unendlich frei vor, unendlich erhoben über die Welt da unten. Ich war glücklich.

Meine Mutter muss schier durchgedreht sein, wenn sie mich wecken wollte und das Bett leer vorfand. Das Kabul von damals war zwar nicht zu vergleichen mit der zerstörten, von Gewalt geprägten Stadt von heute, doch für ein kleines Mädchen von sieben oder acht Jahren war es auch in ruhigeren Zeiten nicht direkt empfehlenswert, in der Morgendämmerung allein umherzustreifen. Meine Mutter hat furchtbar geschimpft, immer wieder, und mich angefleht, ein braves Kind zu sein und mich nicht in Gefahr zu begeben. Trotzdem: Ich war nicht zu halten und lief immer wieder hoch, auch wenn ich wusste, dass ich ihr Schmerz zufügte, weil sie sich solche Sorgen machte. Aber ich konnte nicht anders. Ich liebte die Sonne und wollte ihr so nahe wie möglich sein. Und es war ja nicht nur die Sonne: Die Berge rings um Kabul waren die Schönheit selbst. Majestätisch standen sie da, unverrückbar, sehr nah und gleichzeitig sehr fern, unendlich viel größer als alles, was es sonst gab. Manche waren grau, andere dunkelgelb oder von einem leidenschaftlichen Rot, einige trugen ein tiefgrünes Kleid, etliche der Gipfel waren schneebedeckt. Ich konnte mich einfach nicht sattsehen. Vielleicht tröstete meine Mutter sich mit dem Gedanken, dass ich von der vielen Lauferei auf die Berge wenigstens schöne Beine bekäme. Möglicherweise wäre es auch ohne diese Exkursionen dazu gekommen, jedenfalls war ich als Jugendliche dann sehr froh, dass meine Beine tatsächlich tadellos waren.

Im Rückblick denke ich manchmal, dass mir meine Beine großartige Dienste erwiesen haben. Weil sie mich dahin gebracht haben, wohin ich wollte. Und kräftig genug waren, außer mir auch noch einen anderen zu tragen. Ganz wörtlich war das zu verstehen bei einem meiner Lieblingsspiele: Aspaktschubi, dem Pferdchenspiel. Wahrscheinlich spielen alle Kinder auf der Welt Ross und Reiter, jedenfalls die meiner Generation. Und bei uns in Kabul war es nicht anders. »Aspak« heißt Pferd und »tschubi« so viel wie »hölzern, aus Holz«, also quasi »Steckenpferd«. Das Spiel war einfach, es gab eigentlich keine Regeln. Einer war das Pferd, nahm den anderen auf den Rücken und schleppte ihn durch die Gegend. Der »Reiter« dirigierte das »Pferd« hin und her, feuerte es an und tätschelte es ab und zu. Manchmal veranstalteten wir auch Wettrennen, oder es kam sogar zu kleinen Kämpfen. Mein Schulkamerad Mirweiss und ich waren unzertrennlich und das ideale Team. Ich war zwar auch bei den anderen sehr beliebt, weil meine dicken Zöpfe sich hervorragend als Zügel eigneten. Aber meistens bildeten Mirweiss und ich das Aspaktschubi.

Jahrzehnte später kam es zu einer kuriosen Begegnung. Auf einer afghanischen Hochzeit in Frankfurt sah ich einen Mann hereinkommen und dachte mir sofort: »Das ist er!« Ich lief auf ihn zu, er sah mich, reagierte aber nicht. Ich rief: »Ich bin es, erkennst du mich nicht?«

Er schaute etwas irritiert. Ich schüttelte ihn am Arm und schrie geradezu: »Ich bin doch dein Aspaktschubi, weißt du nicht mehr?«

Da erkannte er mich, Mirweiss und ich fielen einander um den Hals und lachten und weinten zugleich, und er fragte immer wieder, wo meine Zöpfe geblieben seien. Es war schon komisch: Ich war zu dieser Zeit längst verheiratet, hatte zwei Kinder, er war ebenfalls verheiratet, und unser beider Kindheit lag Lichtjahre hinter uns – trotzdem war alles sofort wieder da. Die Schulzeit, die unbeschwerten Stunden, die wir miteinander verbracht hatten, und die Erinnerung an unser Kabul, in dem wir die ersten Schritte ins Leben gemacht hatten, auch als Pferdchen und Reiter.

Aspaktschubi war lustig, richtig aufregend aber war etwas anderes: das Drachenspiel. Damals hatte keiner, den wir kannten, einen Fernseher, die meisten nicht einmal ein Radio. Unterhaltung gab es nur, wenn man sie sich selbst verschaffte, und das Drachenspiel war Unterhaltung vom Feinsten, weil es gefährlich war. Spiel ist deshalb nicht das richtige Wort, es war eher ein Drachenkampf. Hier in Deutschland lässt man ja die Drachen steigen und zupft an der Schnur, damit sie skurrile Bewegungen machen, ab und zu vielleicht sogar einen Salto schlagen. In Kabul ging es beim Drachensteigenlassen um Sieg oder Niederlage. Jeden Abend trafen sich die Jungen aus der Nachbarschaft auf einem der Dächer, ein paar freche Mädchen waren auch dabei, ich sowieso. Die Dächer in Kabul waren meistens nicht schräg, sondern flach. Sie gehörten zum Haus und waren in den Sommermonaten quasi ein weiterer großer, offener Raum. Viele hatten Sonnendächer, die aus Stoffbahnen über das Dach oder zumindest einen Teil davon gezogen waren. Dort traf man sich, aß, plauderte mit den Nachbarn, empfing Freunde und genoss die langsam herabsinkende Abendkühle. Oder man begann eben von dort seinen Drachenkampf. Überall auf den Dächern fanden sich Kinder und Jugendliche zusammen, die Drachen in die Luft steigen ließen, und oft war der Himmel ganz bunt vor lauter Drachen.

Für die Drachenkämpfe brauchte man immer zwei Kinder oder Jugendliche. Einer hielt das Querholz, um das die Schnur gewickelt wird, der andere zog und ruckte an der Schnur, um den Drachen in bestimmte Bewegungen zu versetzen und ihn zu lenken.

Die Drachen bestanden aus Bambusstreben und Transparentpapier, das es in vielen kräftigen Farben gab. Meistens war ein Motiv auf dem Papier angebracht, Fische oder Hunde oder etwas anderes, und die Schwänze waren lang und sehr imposant. Die Drachen kämpften miteinander im Wind, und man musste seine Schnur und den Drachen sehr geschickt handhaben. Das Ziel bestand darin, den eigenen Drachen länger als alle anderen in der Luft zu halten und im Zweikampf den Drachen der Rivalen zum Absturz zu bringen. Es kam darauf an, die beiden Drachen oder die Schnüre ineinander zu verhaken und dann mit viel Kraft und Geschick die Schnur des anderen Drachen zu zerreißen, damit er wegtrieb oder herunterfiel. Das war eine heikle Angelegenheit, denn schließlich sollte ja der eigene Drachen nicht zu Schaden kommen. Jedes Team hatte seine Taktik und schwor auf bestimmte Tricks, die streng geheim gehalten wurden. Wenn es einem gelungen war, die Schnur des gegnerischen Drachen zum Reißen zu bringen, musste man scharf aufpassen und genau verfolgen, wohin er trudelte, und dann sehr schnell zum möglichen Absturzort rennen. Es stürmten immer mindestens zehn oder zwanzig Kinder zu der Stelle, oft auch ein paar Erwachsene. Wer den abgestürzten Drachen erwischte, durfte ihn behalten.

Entscheidend für den Ausgang des Kampfes war also die Schnur. Sie musste die stärksten Belastungen aushalten – und möglichst die Schnur des anderen Drachen durchtrennen. Beim afghanischen Drachenkampf gibt es deshalb keine einfachen Paketschnüre oder Bindfäden, sondern messerscharfe, teilweise kilometerlange...

Erscheint lt. Verlag 27.9.2010
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Afghanistan • Altenpflege • Asyl • Autobiographie • Bundesverdienstkreuz • Deutschland • Drachenläuferin • Flucht • Flüchtling • Frankfurt • Kabul • Pakistan • Sachbuch • Taliban • Unternehmerin
ISBN-10 3-10-400819-1 / 3104008191
ISBN-13 978-3-10-400819-6 / 9783104008196
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