Der Geschmack von Apfelkernen (eBook)

Roman
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2010 | 1. Auflage
256 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30220-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Geschmack von Apfelkernen -  Katharina Hagena
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Schillernd und magisch sind die Erinnerungen an die Sommerferien bei der Groß­mutter, geheimnisvoll die Geschichten der Tanten. Katharina Hagena erzählt von den Frauen einer Familie, mischt die Schicksale dreier Generationen. Ein Roman über das Erinnern und das Vergessen - bewegend, herrlich komisch und klug. Als Bertha stirbt, erbt Iris das Haus. Nach vielen Jahren steht Iris wieder im alten Haus der Großmutter, wo sie als Kind in den Sommerferien mit ihrer Kusine Verkleiden spielte. Sie streift durch die Zimmer und den Garten, eine aus der Zeit gefallene Welt, in der rote Johannisbeeren über Nacht weiß und als konservierte Tränen eingekocht werden, in der ein Baum gleich zweimal blüht, Dörfer verschwinden und Frauen aus ihren Fingern Funken schütteln. Doch der Garten ist inzwischen verwildert. Nachdem Bertha vom Apfelbaum gefallen war, wurde sie erst zerstreut, dann vergesslich, und schließlich erkannte sie nichts mehr wieder, nicht einmal ihre drei Töchter. Iris bleibt eine Woche allein im Haus. Sie weiß nicht, ob sie es überhaupt behalten will. Sie schwimmt in einem schwarzen See, bekommt Besuch, küsst den Bruder einer früheren Freundin und streicht eine Wand an. Während sie von Zimmer zu Zimmer läuft, tastet sie sich durch ihre eigenen Erinnerungen und ihr eigenes Vergessen: Was tat ihr Großvater wirklich, bevor er in den Krieg ging? Welche Männer liebten Berthas Töchter? Wer aß seinen Apfel mitsamt den Kernen? Schließlich gelangt Iris zu jener Nacht, in der ihre Kusine Rosmarie den Unfall hatte: Was machte Rosmarie auf dem Dach des Wintergartens? Und wollte sie Iris noch etwas sagen? Iris ahnt, dass es verschiedene Spielarten des Vergessens gibt. Und das Erinnern ist nur eine davon.

Katharina Hagena, geboren in Karlsruhe, lebt als freie Schriftstellerin mit ihrer Familie in Hamburg. Sie schrieb zwei Bücher über James Joyce, bevor sie 2008 ihren ersten Roman »Der Geschmack von Apfelkernen« veröffentlichte. Das Buch wurde in 26 Sprachen übersetzt und für das Kino verfilmt.

Katharina Hagena, geboren in Karlsruhe, lebt als freie Schriftstellerin mit ihrer Familie in Hamburg. Sie schrieb zwei Bücher über James Joyce, bevor sie 2008 ihren ersten Roman »Der Geschmack von Apfelkernen« veröffentlichte. Das Buch wurde in 26 Sprachen übersetzt und für das Kino verfilmt.

Inhaltsverzeichnis

II. Kapitel


Meine Eltern, meine Tanten und ich übernachteten in den drei Fremdenzimmern des Dorfkrugs.

– Wir fahren wieder hinunter ins Badische, sagte meine Mutter am nächsten Morgen. Sie sagte es ein ums andere Mal, als müsse sie sich selbst davon überzeugen. Ihre Schwestern seufzten, es hörte sich an, als sagte sie, sie fahre jetzt hinunter ins Glück. Und vielleicht war es auch so. Tante Inga ließ sich bis nach Bremen mitnehmen, ich umarmte sie kurz und bekam einen elektrischen Schlag.

– Schon so früh am Morgen?, fragte ich erstaunt.

– Es wird heiß heute, sagte Inga entschuldigend. Sie kreuzte die Arme vor ihrem Körper, und ihre Hände strichen mit einer langen, raschen Bewegung von den Schultern hinunter bis über die Handgelenke, sie spreizte die Finger und schüttelte sie. Es knisterte leise, als die Funken aus ihren Fingerspitzen fielen. Rosmarie hatte Tante Ingas Funkenschlag geliebt.

– Lass es doch noch einmal Sterne regnen, bat sie immer wieder, vor allem wenn wir bei Dunkelheit im Garten standen. Dann sahen wir ehrfürchtig zu, wie für den Bruchteil einer Sekunde winzige Punkte an Tante Ingas Händen aufleuchteten.

– Tut das weh?, fragten wir, sie schüttelte den Kopf. Aber ich glaubte ihr nicht, sie zuckte zusammen, wenn sie sich an ein Auto lehnte, eine Schranktür aufmachte, das Licht oder den Fernseher anknipste. Es kam vor, dass sie Sachen fallen ließ. Manchmal kam ich in die Küche, und Tante Inga saß in der Hocke, um mit dem Handfeger Scherben aufzukehren. Wenn ich sie fragte, was passiert sei, sagte sie:

– Ach, nur ein dummer Unfall, ich bin so ungeschickt.

Wenn sie es nicht vermeiden konnte, Leuten die Hand zu reichen, entschuldigte sie sich, da diese oftmals erschreckt aufschrien. »Funkenfinga« nannte Rosmarie sie, aber allen war klar, dass sie Tante Inga bewunderte.

– Warum kannst du das nicht, Mama?, fragte sie Tante Harriet einmal. Und warum ich nicht?

Tante Harriet schaute sie an und erwiderte, dass Inga ihre innere Spannung nicht anders nach außen geben könne und dass Rosmarie sich pausenlos verausgabe, sodass es zu diesen Entladungen nie kommen könne, und dass Rosmarie dafür dankbar sein solle. Tante Harriet hatte schon immer ein spirituelles Wesen. Sie war schon so einige Wege in ihre eigene Mitte und wieder zurück geschlendert, bevor sie Mohani wurde und diese Holzkette trug. Als ihre Tochter starb, so erklärte es sich meine Mutter, habe sie sich einen Vater gesucht und sei selbst wieder Tochter geworden. Da habe sie etwas Festes gewollt. Etwas, das sie vom Fallen abhielt und ihr gleichzeitig beim Vergessen half. Ich hatte mich nie mit dieser Erklärung zufriedengegeben, Tante Harriet liebte Drama, nicht das Melodram. Sie war vielleicht verrückt, aber niemals vulgär. Wahrscheinlich fühlte sie sich mit dem toten Osho verbunden. Sie musste es als beruhigend empfinden, dass ein Toter so lebendig sein konnte, denn von dem lebendigen Bhagwan hatte sie sich nie sehr beeindruckt gezeigt, und sie lachte über die Bilder, die ihn vor seinen vielen großen Autos zeigten.

 

Nachdem meine Mutter, mein Vater und Tante Inga fort waren, tranken Tante Harriet und ich Pfefferminztee in der Gaststube. Unser Schweigen war wehmütig und entspannt.

– Gehst du jetzt ins Haus?, fragte Tante Harriet schließlich. Sie stand auf und griff nach ihrer ledernen Reisetasche, die neben unserm Tisch stand. Ich blickte dem lächelnden Osho im Holzrahmen ihrer Kette in die Augen und nickte. Er nickte zurück. Ich stand ebenfalls auf. Sie drückte mich so fest, dass es wehtat, ich sagte nichts und schaute über ihre Schulter in die leere Gaststube. Der Dunst von Kaffee und Schweiß, der gestern die Trauergäste warm umhüllt hatte, hing immer noch unter der niedrigen weißen Decke. Tante Harriet küsste meine Stirn und ging hinaus. Ihre Reeboks quietschten auf den gebohnerten Dielen.

Auf der Straße drehte sie sich um und winkte. Ich hob die Hand. Sie stellte sich an die Bushaltestelle und wandte mir den Rücken zu. Ihre Schultern hingen ein wenig nach vorne, und das kurze rote Haar in ihrem Nacken rutschte in den Kragen der schwarzen Bluse. Ich erschrak. Erst von hinten konnte ich sehen, wie unglücklich sie war. Hastig drehte ich mich weg und setzte mich zurück an den Frühstückstisch. Ich wollte sie nicht demütigen. Als das Dröhnen des anfahrenden Busses an den Fensterscheiben rüttelte, blickte ich auf und erhaschte noch einen Blick auf Tante Harriet, die starr auf die Rückenlehne des Sitzes vor ihr blickte.

 

Ich ging wieder zu Fuß zum Haus. Die Tasche war nicht schwer, der schwarze Samtrock war drin, ich trug ein kurzes schwarzes Kleid ohne Ärmel und schwarze Sandalen mit dicken Keilabsätzen, auf denen man lange auf asphaltierten Bürgersteigen gehen oder Bücher aus Regalen heranschleppen konnte, ohne dabei umzuknicken. Es war nicht viel los an diesem Samstagmorgen. Vor dem Edeka-Laden saßen ein paar Jugendliche auf ihren Mopeds und aßen Eis. Die Mädchen schüttelten fortwährend ihre frischgewaschenen Haare. Es sah unheimlich aus, so als wären die Hälse zu schwach, um die Köpfe zu tragen, und ich fürchtete, dass die Köpfe plötzlich nach hinten oder zur Seite wegklappen könnten. Ich musste gestarrt haben, denn sie wurden alle still und schauten zurück. Obwohl es mir unangenehm war, so verspürte ich doch Erleichterung darüber, dass die Köpfe der Mädchen aufhörten zu wackeln, oben auf den Hälsen blieben und nicht etwa in komischen Winkeln auf ihren Schultern oder Brustbeinen zum Stillstand kamen.

Die Hauptstraße machte eine scharfe Linkskurve, geradeaus führte eine Schotterstraße noch an der BP-Tankstelle und zwei Häusern vorbei auf die Weiden. Nachher wollte ich mir eines der Fahrräder aufpumpen und diese Straße bis zur Schleuse fahren. Oder an den See. Warm würde es heute werden, hatte Tante Inga gesagt.

Ich ging auf der rechten Seite der Straße. Links konnte man jetzt schon die große Mühle hinter den Pappeln sehen, sie war frisch gestrichen, und es tat mir leid, wie unwürdig bunt sie aussah, schließlich käme doch auch niemand auf die Idee, die Kränzchenschwestern meiner Großmutter in Glitzerleggings zu zwängen. Berthas Hof, der jetzt mein Haus sein sollte, lag schräg gegenüber der Mühle. Ich stand vor der Einfahrt, das verzinkte Tor war abgeschlossen und niedriger, als ich es in Erinnerung hatte, gerade hüfthoch, und so stieg ich rasch mit gescherten Beinen darüber.

 

Im Morgenlicht war das Haus ein dunkler, schäbiger Kasten mit einer breiten, hässlich zugepflasterten Einfahrt. Die Linden standen im Schatten. Auf dem Weg zur Treppe sah ich, dass der ganze Vorgarten mit Vergissmeinnicht zugewuchert war. Die blauen Blüten waren gerade im Welken begriffen, manche blichen aus, andere wurden braun. Ein Dickicht verblühter Vergissmeinnicht. Ich beugte mich hinunter und riss eine Blüte ab, sie war gar nicht blau, sie war grau und violett und weiß und rosa und schwarz. Wer hatte sich eigentlich um den Garten gekümmert, als Bertha im Heim war? Wer ums Haus? Das wollte ich Miras Bruder fragen.

Beim Eintreten schlug mir wieder der Geruch von Äpfeln und kühlen Steinen entgegen. Ich stellte meine Tasche auf die Truhe und lief den ganzen Flur ab. Gestern waren wir ja nur bis ins Arbeitszimmer gekommen. Ich schaute nicht in die Zimmer, sondern öffnete erst die Tür am Ende des Flurs. Rechts führte die steile Treppe in die oberen Zimmer, geradeaus ging es zwei Stufen hinunter, dann rechts zum Bad, durch dessen Decke mein Großvater eines Abends geflogen kam, als meine Mutter mich gerade wusch. Er wollte für uns ein wenig spuken und war dafür auf den Dielenboden gestiegen. Die Bretter mussten morsch gewesen sein, und mein Großvater war ein großer, schwerer Mann. Er brach sich den Arm, und wir durften niemandem erzählen, wie es passiert war.

Die Tür zur Diele war abgeschlossen. Der Schlüssel hing an der Wand daneben, und an ihm war ein kleiner Holzklotz befestigt. Ich ließ ihn hängen. Dann stieg ich die Treppe hinauf in die Zimmer, wo wir früher geschlafen und gespielt hatten. Die dritte Treppenstufe von unten knarrte noch lauter als früher, aber vielleicht war das Haus nur stiller geworden. Und wie war es oben mit den beiden letzten? Ja, die knarrten auch immer noch, es war sogar noch die drittletzte hinzugekommen. Das Geländer wimmerte, sobald ich es berührte.

Oben war die Luft dick und alt und warm wie die Wolldecken, die dort in den Truhen lagen. Ich öffnete die Fenster im großen Raum, dann alle vier Zimmertüren, die beiden Türen des Durchgangszimmers, welches meiner Mutter gehört hatte, und die zwölf Fenster der fünf Schlafräume. Nur das Dachfenster über der Treppe rührte ich nicht an, es war dick mit Spinnweben verhangen. Hunderte von Spinnen hatten hier über die Jahre ihre Netze aufgehängt, verfilzte alte Netze, in denen außer vertrockneten Fliegen vielleicht auch die Leichen ihrer einstigen Bewohner hingen. Alle Netze zusammen bildeten einen weichen weißen Stoff, einen milchigen Lichtfilter, rechteckig und matt. Ich dachte an das weiche Faltennetz auf Berthas Wangen. Es war so großmaschig, dass das Tageslicht von hinten durch ihre Haut zu schimmern schien. Bertha war im Alter durchlässig geworden, ihr Haus machte dicht.

– Aber beide versponnen, sagte ich laut zum Dachfenster, und die Spinnweben wallten unter meinem Atem.

 

Hier oben standen die mächtigen alten Kleiderschränke, hier hatten wir gespielt, Rosmarie, Mira und ich. Mira war ein Mädchen aus der Nachbarschaft, es war ein bisschen älter als Rosmarie und zwei Jahre älter als...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2010
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Apfelkern • Belletristik • Erbe • Erinnerung • Familie • Film • Frauen • Katharina Hagena • Kiepenheuer & Witsch • Liebe • Roman • Schicksal • Sommerferien • Unfall • Vergangenheit
ISBN-10 3-462-30220-5 / 3462302205
ISBN-13 978-3-462-30220-2 / 9783462302202
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