Schau heimwärts, Engel (Neuausgabe. Neuübersetzung 2009) (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2009
784 Seiten
Manesse (Verlag)
978-3-641-03410-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schau heimwärts, Engel (Neuausgabe. Neuübersetzung 2009) - Thomas Wolfe
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«Schau heimwärts, Engel» ist eines der legendären Romanepen des 20. Jahrhunderts. Betörend durch die Unmittelbarkeit des Erzählten wie durch eine Sprachkunst, in der schonungsloser Realismus und lyrische Anmut Hand in Hand gehen, gilt es als stilbildend für die moderne amerikanische Erzähltradition bis hin zu Jonathan Franzen. Mit der kommentierten Neuübersetzung kann man Wolfes Meisterwerk nun in seiner ganzen jugendlichen Frische und Kraft wiederentdecken.

«Home, sweet home» ... Doch die Verhältnisse, in die der Romanheld Eugene Gant hineingeboren wird, sind alles andere als heimelig. Ein jähzorniger Alkoholiker der Vater, eine berechnende Krämerseele die Mutter, wird sein Elternhaus im Nu zur Keimzelle zwischenmenschlicher Dramen. Bei aller Erbitterung und Zwietracht der Gants erweist sich ihr Clan aber auch als Hort eines unbändigen Lebenswillens. «Schau heimwärts, Engel», erschienen 1929, zeigt vielfältigste Facetten häuslichen Glücks und Unglücks und liest sich über weite Strecken als Abrechnung mit dem Heiligtum des «American way of life»: der Familie. Aufs Exemplarische abzielend, erwächst aus der drei Generationen überspannenden Chronik ein faszinierendes Zeit und Sittenbild der Vereinigten Staaten, eine Erkundung der Mythen und Mentalitäten des Landes und nicht zuletzt ein Hymnus auf dessen nie versiegende Vitalität.

Thomas Wolfe (1900-1938) wurde als letztes von acht Kindern in Asheville, North Carolina, geboren. Aus bescheidenen Verhältnissen stammend, schaffte es der hochbegabte Junge bis nach Harvard und wurde Dozent für amerikanische Literatur an der New York University. Kaum hatte sein Schaffen weltweit Anerkennung gefunden, als er im Alter von nur siebenunddreißig Jahren starb.

1
Ein Schicksal, das Engländer unter Deutsche4 führt, ist seltsam genug; doch wenn es von Epsom nach Pennsylvania führt und in den Hügelkranz um Altamont, wo der Hahn stolz im Korallenrot kräht und ein Marmorengel milde lächelt, webt eine dunkle Fügung mit, die in der öden Welt neue Wunder wirkt.
Die Summe dessen, was wir sind, hat keiner von uns je ermessen; man versetze uns zurück in Blöße und Nacht und wird vor viertausend Jahren auf Kreta die Liebe keimen sehen, die gestern in Texas ihr Ende fand.
Die Saat unseres Untergangs wird in der Wüste aufgehen, das Gegengift wächst aus dem Gebirgsfelsen, und durch unser Leben spukt eine Schlampe aus Georgia, weil in London ein Taschendieb dem Galgen entging. Jeder Moment ist die Frucht von vierzigtausend Jahren. Die minutengesättigten Tage summen wie Fliegen heimwärts in den Tod, und jeder Moment ist wie ein Ausblick auf alle Zeiten.
So auch dieser: Ein Engländer namens Gilbert Gaunt, der sich später Gant nannte (wohl aus Rücksicht auf die Aussprache durch die Yankees), kam 1837 auf einem Segelschiff von Bristol nach Baltimore und ließ den Ertrag des Wirtshauses, das er erworben hatte, bald seine sorglose Kehle hinunterrinnen. Er zog weiter westwärts nach Pennsylvania, hielt sich leidlich damit über Wasser, dass er Kampfhähne gegen Bauernhofgockel antreten ließ, und musste oft genug seinen Champion tot auf dem Platz zurücklassen und sich nach einer Nacht Arrest ohne klingende Münze in der Hosentasche, dafür zuweilen mit dem Abdruck einer tüchtigen Farmerfaust im dreisten Gesicht, aus dem Staub machen. Aber irgendwie kam er immer davon, und als er schließlich zur Erntezeit bei den Deutschen landete, war er von der Üppigkeit ihres Landes dermaßen angetan, dass er hier vor Anker ging. Binnen eines Jahres heiratete er eine herbe junge Witwe mit einer schmucken Farm, die wie all ihre Landsleute von seinem weltläufigen Auftreten und seiner grandiosen Beredsamkeit beeindruckt war, besonders wenn er nach Art des großen Edmund Kean den Hamlet gab.5 Sie fanden alle, er hätte Schauspieler werden sollen.
Der Engländer zeugte Kinder – eine Tochter und vier Söhne -, lebte sorglos und unbeschwert dahin und ertrug die scharfen, aber aufrichtigen Bemerkungen seiner Frau geduldig. So vergingen die Jahre, der klare, ein wenig stechende Blick trübte sich hinter eingesunkenen Lidern, die Gicht lähmte den Schritt des hochgewachsenen Engländers, und eines Morgens, als seine Frau ihn aus dem Schlaf nörgeln wollte, fand sie ihn tot – von einem Schlaganfall dahingerafft. Er hinterließ fünf Kinder, eine Hypothek und in seinen seltsam dunklen, nun wieder stechend klaren und weit aufgerissenen Augen etwas, was nicht gestorben war: ein unbändiges und unergründliches Fernweh.
Mit diesem Vermächtnis lassen wir den Mann aus England ruhen und wenden uns nun dem Erben zu, dem er es weitergab, seinem zweiten Sohn, einem Jungen namens Oliver. Wie dieser Junge vor der Farm seiner Mutter am Wegrand stand und die mit Staub bedeckten Rebellen auf ihrem Marsch nach Gettysburg6 an sich vorbeiziehen sah; wie seine kalten Augen sich verschatteten, als er den großen Namen«Virginia»hörte; wie er in jenem Jahr, als der Krieg zu Ende war und er gerade einmal fünfzehn, eine Straße in Baltimore entlanglief und in einer kleinen Werkstatt glattpolierte Grabmale aus Granit erblickte, aus Stein gehauene Lämmer und Cherubim und einen Engel auf entkräfteten, kalten Füßen, mit einem Lächeln milder Statueneinfalt – das ist eine längere Geschichte. Immerhin weiß ich, dass die kalten, ausdruckslosen Augen sich wegen jenes unbändigen, unergründlichen Fernwehs verschattet hatten, das in den Augen des Toten noch lebendig war und ihn von Fenchurch Street7 über Philadelphia hinausgeführt hatte. Als der Junge den großen Engel mit dem Lilienstängel aus Stein erblickte, überkam ihn fröstelnd eine namenlose Leidenschaft. Die langen Finger seiner großen Hände krallten sich zusammen. Er spürte, dass es ihn mehr als nach allem anderen in der Welt danach verlangte, mit Bedacht den Meißel zu führen. Er wollte das Dunkle und Unaussprechliche, das er in sich hatte, dem kalten Stein aufprägen. Er wollte einen Engelskopf meißeln.
Oliver betrat die Werkstatt und fragte einen großen, bärtigen Mann mit Holzhammer um Arbeit. Der Steinmetz nahm ihn in die Lehre. Er arbeitete fünf Jahre lang in dem staubigen Hinterhof. Er wurde ein Steinmetz. Als er ausgelernt hatte, war er zum Mann geworden.
Er kam nie dahinter. Er lernte nie, wie man einen Engelskopf meißelt. Die Taube schon, das Lamm, die gefalteten glatten Marmorhände des Todes und Lettern, schön und fein – aber nicht den Engel. Und all die vergeudeten und verlorenen Jahre – die wilden Jahre in Baltimore voller Arbeit und heilloser Trunkenheit, dazu die Bühnendarbietungen von Booth und Salvini,8 die für den Steinmetzen fatale Folgen hatten, da er das ganze noble Wortgeklingel im Gedächtnis behielt und vor sich hin murmelte, wenn er durch die Straßen lief und dazu theatralisch mit riesigen Händen gestikulierte -, all dies ist ein blindes Tasten und Taumeln in unserem Exil, das Bild unseres Sehnens, wenn wir in sprachlosem Rückerinnern die große vergessene Sprache suchen, den verlorenen Himmelspfad, einen Stein, ein Blatt, eine Tür. Wo? Wann?
Er kam nie dahinter, und er taumelte quer über den Kontinent hinab in die Südstaaten der Wiederaufbaujahre – eine sonderbar ungestüme Erscheinung von sechs Komma vier Fuß,9 mit kalten, flackernden Augen, einem gewaltigen Zinken von Nase und mächtigem Wortschwall: lächerliche und groteske Schmähungen, formelhafte, gleichsam klassische Redefiguren, die er mit großer Ernsthaftigkeit, aber einem leicht verlegenen Tremor um den schmalen, wehklagenden Mund vortrug.
Er machte eine Werkstatt in Sydney auf, der kleinen Hauptstadt eines Staates im mittleren Süden, lebte nüchtern-enthaltsam und fleißig unter den argwöhnischen Blicken der Leute, die nach ihrer Niederlage noch ziemlich reizbar und feindselig waren, und als er sich schließlich einen Namen gemacht und Anerkennung gefunden hatte, heiratete er eine schwindsüchtige hagere Jungfer, die zehn Jahre älter war, dafür aber etwas auf der hohen Kante hatte und wild entschlossen war, zu heiraten. Kaum eineinhalb Jahre später war er wieder ein rasender Irrer, sein Geschäft ging den Bach hinunter, während seine Füße an der blitzblanken Stange unter dem Tresen klebten, und Cynthia, seine Frau, auf deren Lebensdauer er garantiert keinen günstigen Einfluss gehabt hatte, wie es unter den Einheimischen hieß, starb eines Nachts plötzlich an einem Blutsturz.
So war nun alles wieder dahin – Cynthia, die Werkstatt, die mühsam erkämpfte Bewunderung für seine Abstinenz, der Engelskopf -, und der Mann zog in der Dunkelheit durch die Straßen, schleuderte den Rebellen von einst und all ihrer Trägheit seine Verwünschungen in fünfhebigen Versen entgegen, hielt gleichwohl, krank vor Angst und Verlorenheit und Reue, den missbilligenden Blicken der Städter nicht stand und meinte schließlich, während ihm das Fleisch noch mehr von den Knochen schwand, dass Cynthias Fluch ihn nun einhole.
Er war erst Anfang dreißig, sah aber weit älter aus. Sein Gesicht war gelb und eingefallen; die wächserne Nase glich einem Schnabel. Die beiden Enden seines langen braunen Schnurrbarts hingen trübselig herab.
Mit seinen gewaltigen Trinkgelagen hatte er seine Gesundheit ruiniert. Er war dürr wie eine Spindel und hustete. Er dachte in der abweisenden, feindseligen Stadt an Cynthia, und da wurde ihm angst und bang. Er glaubte, er sei schwindsüchtig und müsse bald sterben.
Oliver war wieder allein und verloren, hatte weder einen Halt noch seinen Platz in der Welt gefunden, und weil ihm der Boden unter den Füßen weggezogen worden war, ließ er sich erneut quer über den Kontinent treiben. Er wandte sich nach Westen, der mächtigen Festung der Hügel zu, weil er wusste, dass sein schlechter Ruf nicht hinüberdrang, und in der Hoffnung, er könne dort in der Abgeschiedenheit ein neues Leben beginnen und wieder gesund werden.
Die Augen des ausgemergelten Gespensts verschatteten sich wieder, wie einst in seiner Jugend.
Den ganzen Tag über fuhr Oliver unter einem nassgrauen Oktoberhimmel durch diesen riesigen Staat nach Westen. Während er trübsinnig durch das Fenster auf das weite, ursprüngliche Land hinausstarrte, das zwischen den spärlichen und armseligen Farmen kaum aufgepflügt worden war, so dass es schien, als hätte man nur da und dort in der Wildnis unmerkliche Spuren hinterlassen, erfasste eine bleierne Kälte sein Herz. Er dachte an die großen Scheunen von Pennsylvania, an die Schwere der reifen, goldenen Ähren, an den Überfluss, den Ordnungssinn, den haushälterischen Verstand der Leute. Und er dachte daran, wie er aufgebrochen war, sich selbst Rang und Stand zu erwerben, und dann an das ganze Durcheinander seines Lebens, an die schändlichen, im Nu entglittenen Jahre und die hemmungslos vergeudete Jugend.«Gott!», dachte...

Erscheint lt. Verlag 2.10.2009
Nachwort Klaus Modick
Übersetzer Irma Wehrli
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Look Homeward Angel
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • 20. Jahrhundert, USA / Amerika • Alkoholiker • Amerika • eBooks • Familie • Genius • Jude Law • Klassiker • Letztgeborener • Maxwell Perkins • Neuübersetzung • Nicole Kidman • Roman • Romane • USA • USA / Amerika
ISBN-10 3-641-03410-8 / 3641034108
ISBN-13 978-3-641-03410-8 / 9783641034108
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